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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (??. Juli 1900)
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Nr. 29 (Redaktionsschluss: 4. Juli 1900)

JUGEND

1900


«

Luftschiff und Libelle

San kann die denkende Menschheit unter
sehr verschiedenen Gesichtspunkten halbi-
ren. Eine der beliebtesten Eintheilungen ist die in
Fortschrittler und Rückschrittler, zwischen denen
die Stillständler oder Abmartler das labile
Gleichgewicht erhalten. Je nachdem der Hase
läuft, schlägt sich diese charakterlose Males auf
die Seite des Fortschritts oder des Rückschritts,
womit dann bis auf Weiteres das Reiseziel
der Prozessionsraupe „Kulturmensch" fixirt er-
scheint, — bis auf Weiteres, da sich in jedem
Augenblicke in Form einer unwillkommenen
Mauer sowohl der Vorwärtsbewegung wie der
Rückwärtskonzentrirung ein unübersteigliches
Hinderniß in den Weg stellen kann, welches
— selbstverständlich post festum — als uner-
hörter Rechenfehler erkannt wird.

Es ist nun nicht zu längnen, daß in An-
sehung der Schiffbarkeit der Luft die ge-
bildete Menschheit zur Zeit mehrstentheils auf
Fortschrittspfaden wandelt, d. h. jeder Ein-
zelne wünscht, daß der brave Nebenmensch mög-
lichst hoch in die Lüfte steige, auf die Gefahr
hin, dabei das Genick (natürlich das Genick des
Nebenmenschen) zu brechen. Man ist allgemein
begierig zu erfahren, ob der Mensch wirklich
ein Vogel ist, und dies zu ergründen sind die
fernsten und unbewohntesten Luftregionen ge-
rade recht, immer vorausgesetzt, daß
Andere die Kosten tragen.

Leider muß ich bekennen, daß ich
mich in Bezug auf die Aöronautik
zu den Reaktionären rechne, indem ich
nämlich meine, daß es um jedes Genick
und um jeden Tausendmarkschein schade
ist, die dabei riskirt werden. Etwas ganz
andres ist die Aerostatik, in der wir
ja Alle schon als Knaben die köstlich-
sten Erfahrungen gemacht haben, inso-
fern als wir unsere feinbeschwänzten
Papierdrachen steigen ließen. Schade,

daß man nicht noch mehr Drachen steigen
lassen kann! Aber zwischen Statik und Nautik
breitet sich ein großer Unterschied am Himmel
aus. Der Fesselballon vertheidigt sich, der freie
Ballon läßt sich treiben, aber das Luftschiff geht
zum Angriff über, es fordert die gewaltigsten
Massenenergiecn zum Kampfe heraus, welche
die großen Erdrevolutionen überdauert haben:
die Luftströmungen. Indessen, diese Erwägung
ist es nicht, die mich mit Hoffnungslosigkeit er-
füllt, — denn was bewältigt nicht das Leben!
Wir sehen ja zahllose Gcrad- und Krumm-
flügler erfolgreich mit den Lüften kämpfen. Aber
wir wissen auch zweierlei: daß ihr leichtes Spiel
mit beit Winden auf angeerbten, durch Milli-
onen natürlicher Generationen erzeugten Appa-
raten, sinnlichen und psychischen Fähigkeiten
(Merksystemen) beruht, — und zweitens, daß
zwischen Statik und Nautik eine sehr materiell
ausgefüllte Kluft gähnt.

Wie der Floh tausendmal höher springen
kann, als er selber ist, ohne sich beim Nieder-
fall den Hals zu brechen (leider!), so haben d e
lebendigen Segler der Lüfte — von der Libelle
bis zum Albatros — den Vortheil des kleinsten
Widerstandes oder vielmehr der Verhältniß-
mäßigkeit zwischen ihrer eigenen Organisation
und den Kräften, denen sie „über" sind. Gegen
diese Geburtsaristokralen der Luftschifferei er-

08t38lLkl8Lker Schüttelreim

scheint mir der Mensch als armer Stümper: er
sinnt über compendiöse Luftmaschineit nach,
und übersieht, daß jede maschinelle Zuthat ihn
nur schwerfälliger macht und ihn dem Schick-
sal des Dädalus auslicfert. Ist es nicht
schon genug, daß unsere Phantasie die Lüfte
theilt, den Aether selbst und fernste Welten
kühnen Flugs erreicht, — wozu den Spott des
fliegenden Gewürms verdienen, das hier den
Herrn der Schöpfung ohnmächtig stürzen sieht?

-So dachte ich gestern, am Vorabend

der Zeppeliu'schen Versuche über dem
Schwäbischen Meere. Das lenkbare Gleichge-
wicht dieser Riesencigarre hat meine reaktio-
nären Zweifel einigermaßen in's Schwanken
gebracht. Haben wir es hier nur noch mit
Statik, öder doch schon mit Nautik zu
thun? Bei welcher Wind- oder Fahrgeschwin-
digkeit hört die erstere auf und fängt die letztere
an? Wäre wirklich eine, wenn auch noch so
entfernte Aussicht vorhanden, daß dereinst an-
gekündigt werden könnte: „Morgen früh, 7 Uhr,
bei jedem Wetter, Luftfahrt nach Amerika,
Ankunft in New-Iork übermorgen Abends
11 Uhr?" (Wenn es länger dauerte, wäre mir
die Wasserfahrt schon lieber!)

Wie dem auch sei: es ist eine schöne Zu-
gabe unserer Zeit, daß wir lernen, über unsere
Bekehrung vom Saulus zum Paulus (oder
umgekehrt) keine Gewissensbisse mehr zu
empfinden. Der Wonneschauer des frei-
müthigen Widerrufs, wenn unser stolzer
Geist geirrt hat, ist eine ganz moderne Er-
rungenschaft. OhneUebertreibung erblicke
ich daher nach wie vor in der Frage der
Lnftschiffcrei einen Gegenstand natur-
wissenschaftlichen Denkens, allerdings mit
starker Betonung der Abtheilung für Bio-
logie; aber im Grunde doch nur einen be-
sonderen Fall der kombinirten Gesetze von
der Erhaltung der Massen und der Energie.

3. Juli 1900. Georg Hirtl)

Zum Boxer wird der Mandarine,
Als Arzenei wirkt dann Marine.

Herausgeber: Dr. GEORG HIRTPI; verantwortlicher Redakteur: F. von OST INI; G. HIRTH’s Kunstverlag, verantwortlich für den Inseratentheil: G. EICHMANN, sämmtlich in München.

Druck von KNORR & HIRTH, Ges. m. beschr. Haftung in München.

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Monogrammist Frosch: Ostasiatischer Schüttelreim
Max Slevogt: Der Löwe von Transvaal
Georg Hirth: Luftschiff und Libelle
 
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