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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 30 (??. Juli 1900)
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Nr. 30

JUGEND

1900

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Unser Volk und die Kunst*)

Von Hart Oentsch

HWusik und Poesie liegen dem Germanen am nächsten und wurzeln
W>v am tiefsten in seinem Gemüthe. Wie viel auch heute über beide
gestritten wird, solches Gezänk bedroht weder ihr Dasein, noch ver-
kümmert es ihren Genuß. In beiden Künsten hat unser Volk das
Höchste geleistet, und der Vorrath an gutem Altem und der tägliche
Zuwachs an gutem Neuen ist so groß, daß jeder Geschmack Befriedig-
ung findet. Noten und Bücher sind wohlfeil, und unbekümmert um
den Streit der Fachgelehrten kann ein Jeder seine musikalischen und
literarischen Bedürfnisse in seinem Kämmerlein befriedigen; der Ver-
kehr und die Technik sorgen dafür, daß das Beste selbst dem llnbe-
mittelten zugänglich ist. Die Literatur sieht sich zwar ab und zu ein
wenig von der Polizei bedroht, aber es bleibt bei Vexationen ohne
tiefere Einwirkung; dem ungeheuren Strome des modernen geistigen
Lebens gegenüber sieht sich auch die mächtigste Staatsgewalt zur Ohn-
macht verürtheilt, wenn es ihr einfallen sollte, ihn aufhalten, ein-
dämmen oder lenken zu wollen.

Nicht ganz so unbedenklich ist die Lage der bildenden Künste.
Der Deutsche ist, obwohl nicht unempfänglich für die schöne Form,
doch von Haus aus nicht hervorragend nnt Formensinn begabt; erst an
den Vorbildern der Alten und der Italiener niußte er ihn ausbilden,
ehe er ihn selbstständig an der Natur weiterüben konnte- Und welche
Hindernisse stellen sich der Befriedigung der Augenästhetik in den Weg,
während die Ohren- und die Seelenästhetik so leicht zu befriedigen
sind l Sein Lied und fein Leihbibliothekbuch kann auch der Acrmste
haben, sein Haus und den Zimmerschmuck, der seinem Geschmack ent-
sprechen würde, oft nicht einmal der Mann von mittlerem Einkommen.
So bleibt die Form des Hauses, des Zimmer- und Straßenschmucks
eine Sache des Nutzens, der Zweckmäßigkeit, des Herkommens, der Volks-
sitte, wobei die Aesthetik meist wenig mitzusprechen hat. Der Besteller
von Gebäuden und Kunstwerken sind verhältnißmäßig wenige, die
Masse bekonnnt — abgesehen von Saminlungen und von wohlfeilen
Reproduktionen — nichts zu schauen, als was diesen Wenigen beliebt,
und deren Geschmack, wenn sie es überhaupt für der Mühe werth
halten, sich um den Geschmack zu kümmern, ist oft nicht der beste.
So scheint die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auf diesein Gebiete
wenige einflußreiche Personen die Richtung bestimmen, und daß sich
die bildenden Künste nach dynastischen, kirchlichen, plutokratischen, indu-
striellen Rücksichten entwickeln, statt nach den immanenten Gesetzen
der Aesthetik.

*) Anmerk, der Redaktion: Wir behalten uns vor, in einer Erwiderung auf
einzelne Ausführungen unseres verehrten Herrn Mitarbeiters zurückzukommen.

Deswegen ist ailch der Streit um diese Künste ernster zu nehme«,
als der um die Zukunftsmusik oder um den Naturalismus in der
Literatur. Besonders eine Frage ist es, die zur Zeit die Gemüther
beschäftigt: die nach der Berechtigung des Nackten.

An der Scheu vor dem Nackten sind einerseits unser Klima, andrer-
seits — Protestantismus und Liberalismus schuld. Das Klima erzwingt
die Sitte dichter Umhüllung, die Sitte beeinflußt die Sittlichkeitsbegriffe,
der geringe Formensinn des ungebildeten Nordländers läßt ihn an die
Schönheit des Menschenleibes nur so weit denken, als sie den Geschlechts-
trieb reizt, und so sieht er denn an einem nackten Leibe oder an einem
solchen Bilde nichts als eine — Schweinerei. Man kann der älteren
Kirche das Lob nicht versagen, daß ihre Kunst die ästhetische Erziehung
des Nordens erfolgreich begonnen hatte. Aber da kam die Reformation
niit ihrer Bilderstürmerei, kam das Puritanerthum und vernichtete diese
Anfänge. Die katholische Hierarchie ward ängstlich; sie fürchtete den
Vorwurf der Unsittlichkeit und bekämpfte das „Heidnische" in der kirch-
lichen Kunst; so verfiel man auf die Hosen- und Schürzenmalerei. Bei
den Liberalen unserer Zeit laufen zwei entgegengesetzte Strömungen un-
mittelbar neben einander. Die liberalen Börsenjobber der Gründerzeit
begünstigten thatsächlich die Lüderlichkeit im Leben wie in der Kunst
und gaben nicht nur den Bigotten, sondern allen um die Volksgesund-
heit ehrlich Besorgten gerechten Anlaß zu Beschwerden. Der liberale
Geheimrath, Professor, Großbürger und gute Familienvater dagegen ist
ein Muster von Korrektheit und überall, außer am Stammtisch, Be-
förderer der lächerlichsten Prüderie. Als ich noch altkatholischer Geist-
lcher war, sagten mir die erzliberalen Honoratioren in £., das Ave
Maria müsse ich weglassen; sie könnten unmöglich ihre Frauen und
Kinder in einen Gottesdienst schicken, wo Ausdrücke wie „Frucht deines
Leibes" vorkämen. Und wer ailders als die Liberalen hat denn über
den Gebrauch der Bibel, „dieses unsittlichen Buches", in der Schule
gezetert? Die Sommerfrischler haben dann zu guterletzt die Prüderie
bis ins entlegenste Dorf getragen, wo vor ein paar Jahrzehnten noch
beim Schloßherrn wie beim Bauer und beim Knecht das naturalia non
sunt turpia galt. Wie können sich die Herren darüber verwundern,
daß die Pfarrer schon um ihres Renommes willen im Eifer für die
Sittlichkeit hinter ihnen nicht Zurückbleiben wollen? Gewiß, das Nackte
ist nicht blos ästhetisch berechtigt, nicht blos unentbehrlich in der Kunst,
nicht blos- sittlich ungefährlich — es ist gerade zur Bewahrung der ge-
schlechtlichen Sittlichkeit nothwendig, wie ich seit langem an verschiedenen
Orten bewiesen habe. Aber wie viele große liberale Zeitungen haben
diesen Gegenstand gründlich und ernsthaft erörtert? Das Höchste, wozu
man sich »ersteigt, sind Behauptungen ohne Beweise; mehr wagt man
nicht alls — Prüderie, oder man unterläßt es, weil man selbst über die
Sache noch nicht gründlich nachgedacht hat. Verspottring der Prüden
und Bigotten wirkt ja ganz gut, wenn es sich darum handelt, einen
augenblicklichen Erfolg zit erzielen, wie im Kampfe gegen die lex Heinze,
aber für die Volksaufklärung und Volkserziehung in diesem Punkte ist
damit nichts gewonnen; diese muß erst noch in langer Arbeit geleistet
werden, wenn die bildenden Künste für die Zukunft vor Thoren und
Fanatikern gesichert werden sollen.

Tllm fllMtternacbt

Die Campe scbwält, als wollte sie verglimmen..

6s ist wohl spät! Der Hbend ging mir bin,

Olm', dass icb’s merkte. Cange schläft das Städtchen,

Dur gegenüber, bei der Schneiderin,

F)ör’ ich noch der Maschine surrend Rädchen —

Sic nähen lang, die beiden blassen Mädchen.

Vor meinem fenster klingen feine Stimmen:

Der ßachtwind ist’s, der durch die Strassen zieht.

Mit allen I)äusern bat er 'was zu plauschen,

Mich lockt es auch, das wunderliche Cied,

Ich steck’ den Kopf hinaus, um still zu lauschen,

Mas mir der Mind, was mir die Gossen rauschen.

And nun genug! Verklärte ÖJölkcben schwimmen
Hm Himmel hin — die Uhr zeigt Mitternacht!

Die biedern Nachbarn schnarchen um die Mette ...
frau Räthin — flink, den Schreibtisch zugemacht!
hur diese eine, einz'ge Cigarette ...

Gott, wie das schmeckt —!

And nun geschwind zu Bette! ^nna

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Register
Fidus: Es libris
Carl (Karl) Jentsch: Unser Volk und die Kunst
Anna Ritter geb. Nuhn: Um Mitternacht
 
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