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1900

Nr. 32

. JUGEND -

In philiströs!

IHirdj die Begründung eines Goethebundes
Ward, ob der Pöbel auch vor Aerger brüllt,

Ein dringendes Bcdürfniß doch erfüllt,
lind seine Gründung ist was recht Gesundes!

Sie thut mit Verve den Philistern kund es:

Die deutsche Kunst ist länger nicht gewillt,

In Eures Zwanges Jacke eingehiillt,

Der Spott zu sein des halben Erdenrundes!

Sie sagt Euch, daß sie mündig jetzt und frei wird,
weil ihr Gesetz allein diktirt von, Takt ist
lind nicht beliebt von hoher Polizei wird!

lind daß cs jammerbar und abgeschmackt ist,
lind zugeschricbcn schnöder Heuchelei wird
wenn Ihr das Schöne anknurrt, weil cs nackt ist!

GK5

lind überhaupt! Es freut mich exemplarisch,
Daß endlich auch die Klugen sich vereinigen
Zu ejnem Bund, und nicht als die alleinigen
Sich blos die Dummen fühlen solidarisch!

Die werden künftig wohl tumultuarisch

Die freie Kunst nicht hudeln mehr und peinigen!

vernichtet sie, die Kerls, die fadenscheinigen!

Auf, schlagt sic tot! (Natürlich literarisch!)

Doch nicht allein die Pfaffen, die fanatischen —
Es haben Euch auch oft verletzt bis jetzt
Behörden durch verächtliches Behandeln:

Nun sch'n wohl auch die kserrn, die bureaukratischen,
Daß sie Euch etwas unterschätzt bis jetzt
lind daß cs besser sei, nicht anzubandeln!

Biedermeier mit si

Gelber Weltschmerz

Sic neueste, äußerst giftige und ansteckende Ge-
müthskrankheit der sogenannten (oder viel-
mehr sich so nennenden) „zivilisirten" Nationen.
Ihren ilrsprung hat sie im llebcrschwemmungs-
nnd Hnngcrthale des „Gelben Flußes" genommen,
>vo sie sich zunächst als Bazillus des Fremden-
hasses in den vierhundert Millionen ncrvcnlosen
Zöpfen des himmlischen Reiches festsetzte, dann aber,
Dank einer sehr komplizirten bakteriellen Ilm- und
Reinknllur, auf die verbündeten Mächte der ge-
smnnr.cn nichtchinesischen Welt übertragen wurde.
Der „Koch" dieses Bazillus ist noch nicht gefunden,
seine ganze Entwicklungsgeschichte ist noch in tiefes

Dunkel gehüllt. Gleichwohl fehlt es nicht an Für-
witzigen, die das Thal des Gelben Flusses und
die chinesischen Zöpfe nur als seinen günstigen
Nährboden betrachten, während das lir-Baktcrion
selbst als ein hagerer, schwarzer Spaltpilz — La-
eilius convertens oder doctor paganorum —
geschildert wird, der in einer selbst die Nervenlosen
aufregenden Massenhaftigkeit auf dem Seewege aus
Europa importirt worden sein soll.

Nun aber hat sich der Giftnickel in den euro-
päischen Gehirnen festgesetzt, wo er als „gelber
Weltschmerz" die unglaublichsten psychischen Stör-
ungen verursacht. Sogar die biederen Deutschen,
die sonst gewohnt sind, den Erscheinungen der Po-
litik und des Völkerlebens mit zoologisch-anthro-
pologischen oder sonstigen naturwissenschaftlichen
Pincetten und in Ermanglung solcher doch mit kul-
turhistorischen Heugabeln zu Leibe zu gehen, — so-
gar diese standpunktbeweglichen, auf ihre altrui-
stisch-international-sentimentale Allesbcgreiflich-
kcit stolzen Deutschen sind das Opfer dieser noch
nie dagewesenen Krankheit geworden. Aber wäh-
rend die Einen nach Rache schreien, sitzen die An-
deren in ihrem Kämmerlein und lesen in der Bibel,
wo geschrieben steht: „Mein ist die Rache, spricht
der HERR", und noch Andere verlangen, daß man
das . Resultat der bakteriologischen Unter-
suchung abwnrtcn und, falls die Chinesen den
Bazillus oder Kokken doch etwa aus zweiter Hand
geerbt hätten, die europäische Provenienz unter
das Mikroskop nehmen solle.

Indessen haben wir herrlich Zivilisirten doch
alle ohne Ausnahme die Krankheit und müssen
— ein jeder nach seiner Gemüthsart — zusehen,
wie wir der llebligkeit Herr werden. Aber Freude
hat kein vernünftiger Mensch daran. Jeder, der
nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, muß sich
sagen: durch etwas Quarantäne hier und dort
wäre dieser Krankheit vorgebeugt worden! Etwas
mehr diplomatische Prophylaxis — vielleicht hätte
ein der süssen Tsu-Tsi rechtzeitig applizirtes kaltes
Klystier ä la Bismarck Wunder gcthnnl — und
jedenfalls nun, nachdem die Seuche auSgcbrochen,
eine aetiologisch indizirtc Therapie, etwa mehr
„Chinin", Einen 400-Miliionenseclen-MzilluS
kann man nicht mit dem Tranchirmesscr vertilgen.

Ich weiß nicht „woans un wotau", aber in
diesen heißen Khakitagen — früher trugen das
Zeug nur die lieben Engländer habe ich noch
mehr als sonst an Bismarck und an die pom-
merscheu Grenadierknochen denken müssen. Zwölf
zornige Buddha-Oelgötzeu sollen dem in den Bauch
fahren, der deshalb an meiner rcichSdeutschen Ge-

sinnung zu zweifeln sich unterstände, aber heraus
muß cs: die Art und Weise gefüllt mir nicht, wie
unsere prächtigen Düngens sich für den Argonautcn-
zug nach dem Thale des Gelben Flusses erklärt ha-
ben, wo weder ihnen noch uns Allen ein goldenes
Vließ winkt. An ihrer „Freiwilligkeit" zweifelt
kein Ehrlicher. Mag sein, daß cs diesmal nicht an-
ders zu machen war, aber für andere Fälle — und
sie werden kommen diese Fälle, dafür werden die
Oelgötzen aller Länder schon sorgen! — Möchte ich
die Betheiligung an solchen bakteriologischen
Exveditonen an besondere gesetzliche Bestimmungen
gebunden wissen, wäre es auch nur mit Rücksicht
ans den Geist der Dort und Scharnhorst und auf
die heiligen Elternrechte, die mir uns unter
dem schirmenden Dache des deutschen Reiches durch
unentwegtes Wohlverhalten erworben haben. Mit
anderen Worten: Wir brauchen eine Koloniab
armee und ein Reichs weh rgcsetz zum
Schutze gegen Feinde, welche nicht unsere
heimatlichen Herde, sondern nur unsere Inter-
essen in der weiten Welt bedrohen. Allen
Respekt vor dem freien Willen unserer kampfes-
mnthigeu Jugend; da aber die m.isten von ihnen
gar nicht wissen, um was es sich handelt, und da
sie alle auf die Bertheidigung des Vaterlandes ein-
geschworen sind, welcher allein die allgemeine Wehr-
pflicht angepaßt ist, so wäre, es ebenso deutsch als
klug und weise, so bald als nur thunlich ans eine
gesetzliche Ordnung dieser Erweiterung der na-
tionalen Ziele! Bedacht zu nehmen.

Einstweilen freu.n wir uns des teutonischen
Kriegs m u t h e s unserer schneidigen Chinafahrer
und der kln v e r d o rb e n h e i t der d e u t s ch c n
Volksseele, welche mit dem verfluchten gelben
Weltschmerz so gut wie mit anderen internationalen
Eseleien fertig werden wird. Bange machen gilt
nicht! Aber schnell leben wir, jung.bleiben muß
J.der, der da mitkommen will. In meiner früh-
esten Kindheit hörte ich den Vater über den Zu-
sammenbruch aller nationalen Hoffnungen nach
den Freiheitskriegen klagen, das Hämbacher Fest
und Reuters „Festnngstid" gaben die Grundstimm-
nng. Auf Metternich folgte Bismarck, und nun
sind auch des lluvcrgl.ichlichcn pommersche Grcna-
dicrkuochen nur noch eine historische Reminisccnz.
Da lese ich von dem Empfange des deutschen Vor-
kommandos in Kufstein und Innsbruck, in Mai-
land, in Genua-schäm' dich, alter Invalide,

nicht gleich Thräncn wischen, wenn dir der Herz-
bcngcl kracht! Glückliche Fahrt, Kameraden,
und auf Wiedersehenl

23. Juli 1900. Georg Hirrh

Ungebetene Gäste (Cor£in”XovoIeVrcmja“)

— „Znm Diner nach China."

Ein Missionar des Unheils

wohin so eilig, Japaner?
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Georg Hirth: Gelber Weltschmerz
Biedermeier mit ei: In philistros!
[nicht signierter Beitrag]: Aus "Nowoje Wremja": Ungebetene Gäste
 
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