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1900

Nr. 33

fulius Diez

De Llvitschrr-Linden

Zwee hibsche aide Linden
Stehn dicht vor'n Nathhausdhor;
Das heeßt, wcmmer von hin den
'nein will, stehn se dervor.

's is gar ä stilles Zleckchen
In ivicstcn Stadtgewiehi,

Ae recht bost'sches Lckchen
Zer Leide von Gesteht.

Bios wenn der Awcnd dämmert,
Da wärd's hier pletzlich laut,

Da steht mer wie belämmert,

Daß mer sein Dhr gaum traut.

Denn viele dausend Spatzen
Sin ringksumherze Haus,

Die zwitschern un die schwatzen
Sich vor'n Zubettgchn aus.

Un wie de Brill' ich rickc
Un hinder'n Ghr mich kratz',

Zirirt mich mit 'en Blicke
Ae Naseweis von Spatz.

„Ja," piepst das hundsgemeine,

Das niederträcht'ge Dhier,

„De Nathsherrn frieh um Neine,
Un Ab'nds um Sechse Mir."

Edwin Vormann

Der Normalmensch

Eine wahre Geschichte

von 21. 3. Mordtiiiaiin

0er letzte schneereiche Winter hätte beinahe dic
letzte ehrgeizige Hoffnung meines Freundes
Jeremias Hopfenhnber zerstört.

Denn Hopfenhuber, sonst ein braver Mensch
»nd noch nicht vorbestraft, ist ehrgeizig. Und da
er zun, Feldherrn ungefähr so viel Talent hat
>vie ein englischer General, zu Heldenthatcn sc
^iel Muth wie ein englischer Prinz, da es ihw
Is», Dichten an der Gabe fehlt, sei cs ungereimt.
|CI cs gereimt zu phantasiren, da er Nicht ein-
>>>al über jenes geringe Maaß von Weisheit
Verfügt, das nach Lxenstjcrna hinreicht, um als
Staatsmann, die Welt zu regieren, so'hat sei»
eine ganz moderne Richtung genommen.

Die „Schildwacht" hat es ihm angethan.

Wer kennt nicht die Schildwacht? Es ist, wie ieder-
mann tveis;, die Wochenschrift, die sich die Aufgabe
gestellt hat, ihren Lesern nicht blos dieses oder jenes,
nicht das Eine und das Andere, nicht wenig oder viel
oder sehr viel, sondern einfach alles in Wort und
Bild vor Augen zu führen: den Feldherrn, der die
letzte grosse Schlacht in Indien verloren und de»
einen Todten, den die grosse Schlacht gekostet hat,
den Theaterdichter, der den letzten Durchfall erlitten
hat, und die Inhaber von Freibillets, die diesem
Durchfall beigcivohnt haben, den Kohlenhändler,
dessei, Pferd fast von der elektrischen Bahn überfah-
ren worden lväre, die Direktoren der Kohlenberg-
werke, aus denen dieser durch seines Rosses Unfall
über Nacht berühmt gewordene Mann seine Kohlen
bezieht, die AufsiclMrathSmitglieder der Wagenbau-
Aktiengcscllschaft, die ihm seinen beinah zu Schaden
gekommenen Wagen gebaut hat, ferner den berühm-
ten Dichter Wimmermeper Lünehude lder zur Hoch-
zeit .des ältesten Sohnes des Kohlenhändlers das
sinnige Gedicht gefertigt hat), in Seiten- und in
Vorderansicht, dichtend an seinem Schreibtische, Fa-
milicnsinn übend im Kreise der Seinigcn, philoso-

phisch rauchend in seinem Gärtchen, zur Kneipe
wandelnd allein, aus der Kneipe kommend in Ge-
sellschaft seiner Freunde — mit einem Worte alles,
>vas es nur Jllustrierbares auf Erden gibt — alles,
was das unscheinbare, aber furchtbare Wörtchen
alles umfasst. ■

Jeremias Hopfenhuber, ein begeisterter Abonnent
der „Schildwacht," wurde also bald von dem Ehrgeiz
erfaßt, auch sich theils allein, theils im Kreise seiner
Familie, theils in Gesellschaft seiner Freunde dem
nach Millionen zählenden Leserkreis der Schildwacht
vorgeführt zu sehen.

Die erste Idee, auf die mein Freund verfiel, ge-
reicht seinemMuthe zur höchsten Ehre; erwollte durch
einen persönlichen Unfall die Anwartschaft auf die
Schildwacht-Unsterblichkeit erwerben und entwickelte
dabei eine Erfindungsgabe, die um so preiswürdiger
erscheint, als Hopsenhuber alles vermeiden mußte,
was eine wirkliche Lebensgefahr bedingte. Er stellte
sich Radfahrern in den Weg, sprang von elektrischen
Bahnen ab, kreuzte unmittelbar vorschnellfahrenden
Droschken die Straße, lief in die Stöcke und Schirme
hinein, die wagerecht hinten hinaus zu tragen und
mehr zu eigener als zur Belustigung ihrer Neben-
menscheu in lebensgefährlichen Stößen und
Schwingungen zu bewegen die liebenswürdige
Eigenschaft vieler sonst einsichtsvollen Greise und
verständigen Jünglinge ist. Aber bedauerlicher-
tveise wurden seine Bemühungen nicht von Er-
folg gekrönt. Etliche schmerzliche aber ungefähr-
liche Püffe und Stöße, wiederholte, nicht durch-
weg den Knigge'schen Vorschriften entsprechende
Ermahnungen der Kutscher, ebenso geartete Kom-
plimente der Radfahrer, ausnahmsweise auch hie
und da sauersüße Entschuldigungen, und schließ-
lich bedenkliches Aufmerksamwerden der Polizei,
das sich in Form etwelcher Strafmandate kund-
gab, das war alles, was mein ehrgeiziger Freund
davontrug.

Es würde zu weit führen, hier alles mitzu-
theilen, was Hopfenhuber sonst noch anstiftete,
um durch die „Schildwacht" berühmt zu tverden.

Als gar nichts half, kam Hopfenhuber in
heller Verzweiflung zu mir, um meinen Rath
einzuholen, da er mir als Journalisten und
Romanschriftsteller eine große Erfindungsgabe
zutraute. Nachdem er mir die Ursache seiner
Leiden mitgetheilt hatte, fiitg ich an nachzudenken
und dann ein ganzes Füllhorn iveiser Rathschläge
über ihn auszuschütten. Alle auf eheliche Ver-
hältnisse bezüglichen Ideen — silberne. Hochzeit.
Vaterschaft über fünf Knaben oder zehn Mädchen
u. dgl. — war leider ganz ausgeschlossen, da
Hopfenhuber nie verheirathet gewesen war.

Ich fragte ihn also zunächst, wie lange er
schon eine Wohnung inne habe, ohne gesteigert
worden zu sein; er war aber innerhalb dreier

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Index
August J. Mordtmann: Der Normalmensch
Edwin Bormann: De Zwitscher-Linden
Julius Diez: De Zwitscher-Linden
Arpad Schmidhammer: Illusion und Wirklichkeit
 
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