Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 34 (??. August 1900)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0128
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 34

JUGEND

1900

von Maurice Maeterlinck

(Aus iJcin Manuskript übersetzt von Friedrich von Vppcln-Bronikoivski).

^ohin gehr die Menschheir? Dieses Frage» »ach Zweck
und Ziel ist eine 2lrr von Rlcinstädtcrci und Schwache
unsres Geistes und hat mir der Acalirär des Weltalls
anscheinend nichts gemein. Haben die Dinge ein Ziel?
Warum sollten sic eines haben und was heißt überhaupt
ein Ziel oder Zweck in einem unendlichen Getriebe?

Aber wenn cs auch wahrscheinlich ist, daß wir keine
andere Bestimmung haben, als eine kurze Spanne Zeit ein
bescheidenes Plätzchen einzunehmcn, das, wenn wir nicht
wären, von Grillen oder Veilchen eingenommen würde,
ohne daß die Schönheit des Welthaushaltes darum ge-
trübt würde, ohne daß die Geschicke der Erde um eine
Stunde hinausgcschoben oder verkürzt würden, wenn
wir auch nur gehen, um zu gehen, ohne irgendwo hin-
zugchcn, so brauchen wir unser Interesse doch nicht auf
den unnützen Weg, den wir machen, zu beschränken
Wir können an vielen Dingen Anrhcil nehmen, und
dies ist auch ganz vernunftgemäß und das Llügste und
Höchste, was wir thun können. Wenn cs der Ameise
gegeben wäre, den Lauf der Sterne zu erforschen, ohne
daß sie darum wähnte, ihn je im Geringsten beeinflußen
zu können, und sie vergäße über diesen astronomischen
Studien alle ihre Pflichten im Ameisenhaufen und die
Sorge für die Zukunft, so würden wir ihr gewiß Un-
recht geben. Sie würde für uns, die wir sie mir einer
Sicherheit und Leichtigkeit überschaue» und bcurthcilcn,
wie wir sic uns gegenüber unser» Göttern zuschreiben,
keine gute, keine moralische Ameise sein, wenn sic sich
so au das Weltall verlöre. Die Vernunft in ihrer
Erdcnfcrne wird unfruchtbar und lehrt uns nichts als
Unbeweglichkeit, wenn sie, nach Erkcnntniß der Rlcin-
heit und Nichtigkeit unserer Leidenschaften und Hoff-
nungen, unseres ganzen Daseins und ihrer selbst, nicht
wieder umkehrt und sich von neuem für diese Alcinig
keilen und diese ganze Nichtigkeit erwärmt, als wären
sic das Einzige, wozu sie auf dieser Welt taugt.

Wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, so sollen

wir uns des Weges doch nicht minder freuen, und um
ihn uns zu erleichtern und unfern lNurh zu stahlen,
müssen wir versuchen, seinen nächsten Abschnitt zu cr-
rathen. Welcher 2lrt wird er sein? Wir müssen augen-
scheinlich durch eine gefährliche Enge. 2lbcr den Schreck-
nissen dieses Engpasses zum Trotze sagen uns die sich
erweiternden und ebnenden Wege, sagen uns die Bäume
mit ihren volleren, blüthengcschmückrcn Wipfeln, sagt
uns das Schweigen der beruhigten und sich trennenden
Wasser, daß wir uns der größten Ebene nähern, welche
die Menschheit von den gewundenen Pfaden herab, auf
denen sic seit ihrem Ursprünge klimmt, bis heute be-
grüßt hat. Wird man sie „die erste Ebene der Muße"
nennen? Wenn wir zwar den Uebcreaschungen der
Zukunft 2lechnung tragen und auch über sie hinaus
Sorgen und Schmerzen gewärtigen müssen, so erscheint
cs doch als so gut wie gewiß, daß die Masse dcrMenschhcir
Tagen enrgcgengcht, wo die Arbeit, Dank einer weniger
papierenen Gerechtigkeit, Dank den Maschinen, Dank
der landwirthschaftlichcn Lhcmie, Dank vielleicht der
Medizin oder irgend einer eben auftauchenden Wissenschaft,
weniger hart, weniger ununterbrochen, grob, tyrann-
isch und erbarmungslos sein wird. Wozu wird sie
diese Muße benutzen? Wer weiß, ob ihr Schicksal
nicht davon abhängt? Vielleicht wird es eine der ersten
Pflichten ihrer Berarhcr sein, sic von Stund' an daran
zu gewöhnen, diese Muße in einer weniger niedrigen
und vcrhängnißvollcn Weise zu genießen. Im Ganzen
genommen bestimmt die mehr oder minder würdige, red-
liche, besonnene, dankbare und hochsinnige Art, wie ein
Volk oder Individuum seine Feierstunden genießt, seinen
moralischen Werth eben so sehr, wie Rrieg oder Arbeit,
und erschöpft oder stärkt, erniedrigt oder adelt cs.
Heutzutage liefern drei müßige Tage in einer unserer
großen Städte dcii Hospitälern mehr Zuwachs an ge-
fährlich erkrankten Opfern, als drei Wochen oder drei
Nlonare Arbeit.

Margarethe von Brauchitsch (München)

S70
Register
Margarethe v. Brauchitsch: Zierrahmen
Maurice Maeterlinck: Das Ziel der Menschheit
 
Annotationen