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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 34 (??. August 1900)
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1900

JUGEND • (Redaktionsschluss: 8. August 1900) Nf. 34

Oie zwei Pagoden

Walther Püttner (München)

Frau Tsuh-si, die gelbe Semiramis

hat folgende Proklamation an die Boxer erlassen:

„Geliebte Beiden! Räubergesindel! Söhne des
Pimmels ! Miserable Schweinebande! Tapfere Ver-
thcidiger der Bumanität gegen die weißen Bar-
baren ! Mordbnben und Balunken! Edelste der
chinesischen Nation!

Schlachtet die europäischen Bunde ab, wenn
Ihr sie kriegen könnt! Daß mir keiner einem
Meißen ein Baar krümmt! Beschießt mit den
Kanonen der Regierungstruppen die Gesandt-
schaften, macht sie dem Erdboden gleich! Jeder
6>>egel auf ihrem Dache sei Euch heilig, Metzelt
Meib und Kinder nieder! Ihr haftet mir persön-
lich für das Wohlergehen der Gesandten! Ich
kann die Bestien nicht ausstehen! Grüßt sie de-
müthig von mir! Sie sind meine theuerstenFreunde.
Keine Schonung den Bunden! Bedenkt, daß wir
mit den Europäern in tiefem Frieden leben! Am
Besten ist's, Ihr ermordet sie im Schlaf! Kommt
ihnen in jeder Meise entgegen! Schlitzt den Kerls
den Bauch auf! Seid eingedenk der humanen
-ehren des großen Lonfutsius, seid tolerant gegen
die Lhristen! Spießt die Ungläubigen, zündet ihre
Käufer an! Seid wahrheitsliebend und ehrlich in
allen Unterhandlungen! Lügt sie an, daß sie blau
werden! Die Götter wollen Frieden und Mensch-
lichkeit! Mordet und schändet, sengt und brennt!
5eid milde und gütig! Und bleibt eingedenk unseres
großen Ahnherrn Dschingis-Khan, der seine
6 Millionen Menschen hingesäbelt hat! Seid tapfer,
hinterlistig, edelinüthig und heimtückisch! Mo Ihr
Mehrlose trefft, seid menschlich, wie der selige
Tamerlan! Merst ihre Kinder iu's Feuer, er
drosselt die Greise, mißhandelt die Frauen! Achtet
die Völkerrechte! Prinz Tnan ist ein gefährlicher
Verschwörer! Tödtet ihn, er ist vogelfrei! Mer
ihn scheel ansieht, wird gepfählt! Mer ihn sieht
und nicht umbringt, wird enthauptet!

Und geht los auf die weißen Teufel! Achtung
vor den befreundeten Mächten! Geht, mit dem
2egen der Götter! Der Teufel soll Euch lothweise
holen! Menschlichkeit ist die Parole! Meuchelmord
das Feldgeschrei!

Tsuh-si

Kaiserliche Tante von China."

Unter dem Erlaß stehen die chinesischen Worte:

„I sag net a so und sag net a so, daß ma
uct sagt j hätt a so xagt odr a so!"

.Kvd alte Pagoden sitzen
Selbander am gelben Meer,

Es rauschen und cs spritzen
Zu ihnen die wogen her I

Der erste mit schmerzlichem Grinsen,
Der sagt betrübt und bleich:

„Mir scheint, jetzt gcht's in die Binsen,
Dies alte mächtige Reich!

Bald brechen sic dröhnend die Pforte
Des Raiscrpalastcs ein,

Dann schneiden sie wie 'ne Dorre
Das Reich der Mitte klein!"

D'rauf spricht der zweite Pagode
Zu diesem betrübten Doloß:

„'s ist nur eine Episode,

Mein sehr verehrter Genoß I

Sie möchten uns wohl zertrennen —
Doch eins ist unser Glück:

Daß Reiner von ihnen wird gönnen
Dem Andern das bessere Stück!

Seit vielen hundert Jahren
Schon kommen die Weißen mit
Der besten 2lbsichr gefahren
Und mächtigem 2lppctir.

Sie hätten uns unterdessen
Schon lange mit Haar und Haut
Behaglich aufgegcsscn,

Hätt' Einer dem Andern getraut.

Auch jetzt hat's gute Wege,
Bald wackelt ihre Allianz —
Getrost, mein lieber College,
wir bleiben auch diesmal ganz!"

So schmunzelt der zweite Pagode;
Der erste schmunzelt auch
Und blickt nach Pagodcnmcthodc
Tiefsinnig auf seinen Bauch!

Und wenn auch des würdigen Paares
Geschmunzcl noch etwas verfrüht —
Mich dünkt, sie ahnen was Wahres
In ihrem pagodcngcmüthl

Ki-Ki-K>

Liebe „Jugend"!

Laß' Dir von einem Veteranen der deut-
schen Einheitssehnsucht etwas sagen:

Wemt Einer in den Jahren des Zn-
sammenbrnches unserer Hoffnungen, etwa zu
Zeiten des Stuttgarter Rumpfparlamentes,
uns voransgesagt hätte: „Im Jahre 1900
werden die zivilisirten Staaten der ganzen
Welt Euch Deutschen und Eurem Kaiser den
O b c r b e s c h l in einem internationalen Feld-
zuge gegen das himmlische Reich anvertrauen!"
— weißt Du, was wir gethau hätten?

Hinansgeschmissen hätten wir ihn,
weil wir der Ansicht gewesen wären, der
Kerl wolle uns blutig verhöhnen, unsere
nationale Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit
unseres Sehnens uns mit Ohrfeigen in's Ant-
litz zeichnen.

And heute? Gestatte mir, mm in diesen
Tagen des Goethebundes Dir ein Wort des
Andern iu's Gedächtnis; zu rufen: „Nichts-
würdig ist die Nation, die nicht ihr Alles

setzt an ihre Ehre!"

Hilariu s

„Neues Leben" nennt sich ein in oder bei
Berlin erscheinendes Anarchistenblättchen. Welcher
Art das „Leben" ist, womit dieses Blättchen prahlt,
geht aus seinem Artikel über das Attentat in
Monza hervor, worin es heißt: „Durch einige
wohlgezielte Treffer in's Schwarze wurde Seine
Majestät Umberto, von Gottes Gnaden König von
Italien, von seinem hohen Piedestal herab in den
Sand gestreckt." — Schönes „neues Leben" das,
wo der Tod durch Meuchelmord gepriesen, der
Mörder bejubelt wird.

's gibt kein schön'res Leben, als das Mörderleben
Darum lebe Dolch und Mord und Tod'
Register
Walter Püttner: Zeichnung zum Gedicht "Die zwei Pagoden"
Fritz Frh. v. Ostini: Frau Tsuh-si, Die gelbe Semiramis
Pater Hilarius: Liebe "Jugend"!
Ki-Ki-Ki: Die zwei Pagoden
[nicht signierter Beitrag]: "Neues Leben" nennt sich ein...
 
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