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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 35 (28. August 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0145
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1900

JUGEND

Nr. 35

Ohne Auslagen

von Anton Tschcchost

AJei dem Zugführer Stitschkin saß an einem
seiner dienstfreien Tage Ljubowj Grigorjewna,
eine solide, etwas schwammige Dame von etwa
vierzig Jahren, die sich mit cheirathsvermittelung
und vielen anderen Geschäften befaßte, von denen
man nur im Flüstertöne zu sprechen pflegt. Stitsch-
kin, etwas verlegen, aber ernst, gemessen und streng
wie immer, ging im Zimmer auf und ab, rauchte
eine Cigarre und sprach:

„Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Ssemjon Iwanowitsch hatte Sie mir empfohlen,
da Sie mir in einer sehr peinlichen und wichtigen
-ache, die das Glück nieines Lebens betrifft, helfen
könnten. Ich bin jetzt, Ljubowj Grigorjewna,
zwciuudfünfzig Jahre alt, also eine Epoche, in
welcher sehr viele schon erwachsene Kinder haben.
Meine Stellung ist eine solide. Mein vermögen
ist zwar nicht groß, aber ich könnte doch ein ge-
liebtes Wesen und ein paar Kinder gut ernähren.
Ich kann Ihnen unter uns sagen, daß ich außer
dem Gehalt auch Geld auf der Bank liegen habe,
welches kl? dank meiner Lebensweise mir ersparen
konnte. Ich bin ein solider und nüchterner Mensch,
führe einen gesetzten und praktischen Lebenwandel,
so daß ich manchem als Beispiel dienen könnte.
Nur eins fehlt mir — ein eigener häuslicher cherd
und eine Gefährtin. Ich lebe jetzt wie so ein
wandernder Zigeuner, schweife von Grt zu GM,
ohne alle Freude, kann mich mit niemandem be-
rathen und wenn ich krank bin, ist niemand da,

ORPHEUS

der mir Wasser n. s. w. reichen könnte. Außerdem
wiegt ein verheiratheter in der Gesellschaft immer
mehr, als ein Unverheiratheter. . . Ich gehöre
zu den gebildeten Klassen, habe Vermögen, aber
wenn man mich von dein Standpunkt aus be-
trachtet, was bin ich? Ein Iunggefell, wieso ein
katholischer Pfarrer. Und daher möchte ich mich
sehr gerne in kfymens Baude begeben, d. h. in
den heiligen Stand der Ehe mit irgend einer
würdigen Person ..."

„Das ist recht!" seufzte die peirathsvermittlerin.

„Ich bin ein einsamer Mensch und kenne in
der hiesigen Stadt niemand. Wohin soll ich gehen
und an wen mich wenden, wenn für mich hier
alle incognito sind? Eben daher rieth mir Ssemjon
Iwanowitsch, mich an eine Person zu wenden, die
in diesem Fach eine Spezalistin ist und das Glück
der Menschen als Profession betreibt. Und darunr
ersuche ich Sie höslichst, Ljubowj Grigorjewna,
mein Schicksal unter Ihrer gefälligen Mitwirkung
betreiben zu wollen. Sie kennen alle Bräute in
der Stadt und können mich leicht anbringen."

„Ja, das kann man . . ."

„Ich bitte, trinken Sie . . ."

Die cheirathsvermittlerin führte das Glas mit
gewohnter Geste au den Mund und leerte es, ohne
sich zu räuspern.

„Das kann man," wiederholte sie. „Und was für
eine Braut wünschen Sie sich, Nikolaj Nikolaitsch?"

„Ich? Mas das Schicksal mir schickt."

„Natürlich, das ist ja Schicksalssache, aber es
hat doch jeder seinen Geschmack. Der eine liebt
blonde, der andere brünette . . ."

Brunnen von Hubert Netzer (München)

„Sehen Sic mal, Ljubowj Grigorjewna . . ."
unterbrach sie Stitschkin mit einem soliden Seufzer.
„Ich bin ein gesetzter Mann und charaktervoll.
Für mich spielt die Schönheit und überhaupt die
Aeußerlichkeit nur eine zweite Rolle, denn, wie
Sie selbst wissen, Schönheit vergeht, und mit einer
hübschen Frau kann man viel Kummer haben.
Ich Hab' es mir so überlegt, daß an einer Frau
die Hauptsache nicht das ist, was äußerlich, sondern
das, was drinnen ist, d. h. daß sie Seele und
überhaupt alle Eigenschaften hat. Trinken Sie,
bitte ... Es ist natürlich angenehin, wenn die
Frau eine volle Figur hat, aber nothweudig ist es
für die beiderseitige Fortuna nicht; die Hauptsache
bleibt der verstand. Eigentlich braucht ja die Frau
auch keinen Verstand zu haben, denn durch den
Verstand bekommt sie leicht einen hohen Begriff
von sich und denkt dann an alle möglichen Ideale.
Ohne Bildung geht es freilich heutzutage nicht,
aber es gibt doch verschiedene Bildung. Es ist
sehr nett, wenn sie Französisch und Deutsch und
alles mögliche kann, natürlich sehr angenehm; aber
was hat man davon, wenn sie dabei nicht versteht,
einem einen Knopf anzunähen? Ich gehöre selbst
zu den gebildeten Klassen, spreche mit dem Fürsten
Kanitelin z. B., ich darf es wohl sagen, so wie
jetzt mit Ihnen, aber ich habe einen schlichten
Charakter. Ich brauche ein einfaches Mädchen.
Die Hauptsache ist, daß sie mich achtet und fühlt,
daß ich sie beglückt habe."

„Natürlich."

„Nun, jetzt in Bezug auf das Materielle . ..
Ein Reiche brauche ich nicht. Zu einer Gemein-

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Register
Hubert Netzer: Orpheus-Brunnen
Anton Pavlovic Cechov (Tschechow, Tschechoff): Ohne Auslagen
 
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