Nr. 35
JUGEND
1900
Nachdem uns Frau Judas noch ein Langes
und Breites über den mißlichen Apostelstand ihres
Gatten vorgejammert, glaubte ich den Moment
des Einschlafens gekommen. Da trat mein lieber
Reisegefährte an mein Bett heran, im Hemd und
barfuß, rieb sich die Brille und Hub an:
„Liebes Dokterchen! Ich habe Ihnen nun auf
unserer schönen Fahrt Alles gesagt, was Ihnen zu
wissen nöthig ist, um sich einen Begriff von meinem
Gesundheitszustand zu machen. Sie sind aber doch
noch nicht auf Alles vorbereitet. Sie wissen
zwar, daß ich an Nervosität und Kongestionen,
sowie an Zuckerruhr und Verkalkung der Blutge-
fäße, an Herzschwäche und Herzverfettung leide" —
„Aber, Herr Rath, Sie sind ja das Leben selbst,
legen Sie sich doch unbesorgt zu Bette" —
„Jawohl, unbesorgt, das ist das rechte
Wort, denn Furcht ist mir fremd, — aber nicht
unvorbereitet. Denn sehen Sie, ich bin ein
guter Familienvater, will auch nicht, daß Sie
und die Judassens mich, falls es schief gehen
sollte, für einen leichtsinnigen Springinsfeld halten.
Also sehen Sie, liebes Dokterchen, wie ich hier
vor Ihnen stehe, bin ich ein überreifer Kandidat
des — Schlaganfalls! Und zwar des Schlags
in beiderlei Gestalt, Herz oder Gehirn, wo es ge-
rade zuerst hapert."
Auf eine neue Ermahnung meinerseits, doch
nicht den Teufel an die Wand zu malen und
sich im beiderseitigen Interesse zur Ruhe zu be-
geben, fuhr er heiter fort:
„Sie meinen, Dokterchen, das schreckt mich?
Rein, ganz und gar nicht! Ach was, Schlagg —
schöneres Ende kann ich mir gar nicht denken.
Aber wissen Sie, was ich fürchte? Nur so ein
Bischen, was Sie in Bayern ein „Schlagerl"
nennen, wo man dann noch Monate oder Jahre,
halbseitig gelähmt, sich und seinen Mitmenschen
zur Last ist. Hoffen wir das Beste! Und nun,
liebes Dokterchen, kommt die Hauptsache, und nun
erfahren Sie auch, warum ich nicht gern allein
übernachte und mich Ihnen angeschlossen habe:
Wenn mir heute Nacht was Menschliches passirt
und Sie mich Morgen Früh nicht mehr erwecken
können — solche Geschichten kommen meistens zu
nachtschlafender Zeit, — dann sorgen Sie für
Alles, was nöthig ist. Unter meinem Kopfkissen
finden Sie meine Brieftasche mit einer Vollmacht,
wodurch mein jeweiliger Schlafgenosse — heute
also Siel — ermächtigt wird, die gleichfalls in
der Tasche enthaltene Summe von fünfhundert
Mark zur Anschaffung eines Metallsarges und
zur Bestreitung aller ersten Kosten für die Ueber-
sllhrung meiner Leiche nach Gotha auszugeben.
Alles klebrige wird meine Familie besorgen, deren
Adresse Sie in der Brieftasche finden und an die
Sie natürlich sofort telegraphiren müssen. Aber
die ersten paar Tage, bis Alles geordnet ist, blei-
ben Sie bei mir, darum bitte ich Sie, und das
versprechen Sie mir, nicht wahr?"
Natürlich versprach ich es ihm, um endlich schlafen
zrr können; beruhigt begab er sich zu Bette, aber
nach einer Weile rief er noch einmal zu mir herüber:
„Dokterchen, schlafen Sie schon? Ja? Na,
warten Sie man, nur noch zwei Worte: Sehen
Sie, irr dem kleinen schwarzen Handköfferchen, das
dort auf dem Tische steht, da ist eine Sache drin,
mit der ich Sie Morgen Früh angenehm über-
raschen werde; sollte ich aber doch zu meinen
Vätern abberufen werden, so vermache ich Ihnen
den Gegenstand, den Sie dann zum Andenken au
unsere Begegnung aufbewahren werden. Auch
das steht in meinem Reise-Testament. Gute
Nacht, lassen Sie sich was Schönes träumen!"
Es war eine heiße Nacht. Während mein red-
seliger Schlagkandidat sich auf das Gesundeste aus-
schnarchte, wälzte ich mich auf dem ungewohnten
Pfühl aus Gänsefedern, deren solide Kiele sich un-
angenehm fühlbar machten. Bei Nacht und in
solchen Zuständen physischen Unbehagens erfahren
auch unsere geordnetsten Vorstellungen die lächer-
lichsten metaphysischen Umwcrthungen. Die my-
steriöse Andeutung meines Kameraden verfolgte
mich im ruhelosen Halbschlaf. Der Mond schien
in's Zimmer durch die offenen Fenster. Der kleine
schwarze Handkoffer mit der „Ueberraschung" in-
triguirte meine Traumphantasie. Es war, als ob
darin etwas knisterte oder wisperte. Behutsam öff-
nete ich das Ding und gewahrte zu meinem Schre-
cken einen Todtenschädel, dessen Augenhöhlen
mit einer Konvexbrille bewaffnet waren; das Innere
war auf unerklärliche Weise erleuchtet. Ein ma-
gisches Stereoskop, das mich scharf anblickte und
zugleich zum Hineinschauen einlud. Aber das Tollste
war, daß der Schädel mit mir sprach — ein un-
heimliches Klappern und Rascheln mit den wohl-
erhaltenen Zähnen, eine Art Knochengeflüster, das
mir den Ruchgeschmack von phosphorsaurem Kalk
verursachte.
„Was willst du sehen, Schorsch? Mal wieder
optische Dummheiten in deinem Gehirn? Wann
endlich wirst du dich dieses fettigen Inhalts ent-
ledigen? Wir Todtenschädel sind viel glücklicher
ohne dieses Zeug, das euch Lebende so unzufrie-
den macht. Wir schwitzen auch nicht. Willst Du
was Kaltes sehen? Komm, heißer Mensch, ich will
dich abkühlcn."
Und nun sah ich durch die Augenhöhlen des
Knochenmannes den Mond, der wurde immer
größer, kam immer näher. Bald hatte ich einen
gewaltigen Mondkrater unter mir, und nun hielt
ich vor einer eisigen Moräne, die aus lauter Lei-
bern von abgeschiedenen Mondbewohnern zu be-
stehen schien. Die Leiber waren weiß und sehr
lang, zehnmal so lang wie Menschenleiber. Nur
die Köpfe bewegten sich müde und schmerzlich, und
aus den Augen fielen Eisthräuen. Einer ganz im
Vordergründe sang mit klagender Stimme: „Dort
ist das Glück." Und er deutete auf einen mäch-
tigen Ball im tiefblauen Himmel, in welchem ich
alsbald unsere Erde erkannte. Die Farben der
Meere und Länder waren prachtvoll blau mid
grün, das Ganze in eine liebliche Rosastimmnug
getaucht, wie der nordische Frühling. Nach dieser
lieblichen Kugel waren die sehnsüchtigen Blicke der
Erfrorenen gerichtet. Ta ich aber diese warme
Herrlichkeit nur von Weitem sah und barfuß in
der Schneekruste des Mondes stand, so fror mich
gewaltig. Im Fluge gings nach der maischönen
Erde, aber in der Nähe wurde sie unheimlich
sommerlich, und vor mir lag plötzlich die üppig
duftende Sonnengluthinsel Enoch Ardcn's. Der
meergefangene Alte starrte mich mit heißen Sehn-
suchtsblicken an, als wollte er sagen: „So rette
mich doch aus diesem Gottesgefüngniß, wenn Du
ein Mensch bist."
Die Bilder wechselten nun rasch, eines plast-
ischer und farbenreicher als das andere. Ich sah
die Versammlung niemer Ahnen, eine furchtbar
gemischte Gcsellschast, auch Adam und Eva, die
da behaupteten, daß sie schon lange vor der wider-
rechtlichen Vertreibung aus Eden richtig und mit
voller Zustimmung aller Erzengel verheiratet ge-
wesen seien. Sie hatten beide schwarze Locken und
überhaupt viel Orientalisches. Ich frug ihn, wie
das komme, da ich doch von einem blonden, arischen
Adam abstammen müsse. „Da mußt Dil sie
fragen," antwortete er, „ihr erster Mann, Li-
lithus, war blond." „Ja," sagte sie, „der war
blond und hat mich verlassen; er ist mit einer
Blondine durchgegangen, von denen wirst Du
wohl abstammen. Ich bin nur Deine Exstief-
urg roßmutter."
Zuletzt sah ich in dem Todtenschädelstereoskop
die heimatlichen Gefilde meiner Kindheit, den Bach,
in dem die Schafe vor der Schur gewaschen wurden,
wobei wir Buben mit nackten Beinen im Wasser
standen und die widerspenstigen Hammel festhielten.
Da war es plötzlich, als verwandelten sich die Zähne
des Schädels in Orgelpfeifen, etwas wie Kirchen-
duft berührte mein Gesicht und es erklang in mäch-
tigen Zügen der Choral: „Wie schön leucht'
uns der Morgenstern". Ich schlug die Augen
auf, — da saß mein lieber Reisegefährte, im Glanz
der Morgensonne, als Hemdritter am Fenster und
bearbeitete eine Ziehharmonika.
„Sehen Sie, Dokterchen, das ist die Ueber-
raschung. Das thu ich jeden Morgen, an dem ich
ohne Schlag erwacht bin." Dann, als die letzte
Strophe verklungen war, kramte er seine Toilette-
sachen ans und begann, die wackeligen Knöpfe an
seinen Kleidern festzunähen. Meiner Bemerkung,
das könne er doch wohl die Frau Judassin machen
lassen, setzte er die kühne Lebensweisheit entgegen:
„Nichtsda, von Männerknöpfen verstehen die Wei-
ber nichts."
Ich weiß nicht, hatte mir's die Nacht oder mein
Reisegefährte angethan — im Passionsspiel hielt
ich's nicht aus. Unglücklicherweise saß ich mit
meinem alten Herrn neben den Engländerinnen,
die uns ihr Quartier beim Judas überlassen hatten.
Das unandächtige Geplauder meines Nachbarn
rief ein shocking um das andere hervor, endlich
kam ich mir selber so shocking vor, daß ich unter
Vorwand eines plötzlichen Unwohlseins die Reihen
der vor Indignation starren Töchter Albions und
der Unitsä Ltatss durchbrach und mich hinaus
auf die freie Höhe der Kreuzigungsgruppe rettete.
Was aus meinem alten Herrn unter den angel-
sächsischen Jungfrauen geworden, weiß ich nicht.
Während in Oberammergau sich die letzten, er-
greifenden Szenen der Welttragödie abspielten,
war ich schon wieder unterwegs nach München.
Als ich den Staffelsee bei Muruau passirte, stan-
den mehrere furchtbare Gewitter am Himmel.
Schwarzblaues Gewölk ringsum, durch einen
einzigen Spalt schleuderte Enoch Ardcn's Sonne
blutrothe Strahlen auf den See, der vom heulen-
den Sturm zu wilden Wellen gepeitscht ward.
Ein unvergeßliches schwarzrothgoldenes Furioso.
Der erste Blitz, mit ä tsmpo krachendem Donner-
gepolter, erleuchtete ein bescheidenes Bild des Ge-
kreuzigten am Wege.
590
JUGEND
1900
Nachdem uns Frau Judas noch ein Langes
und Breites über den mißlichen Apostelstand ihres
Gatten vorgejammert, glaubte ich den Moment
des Einschlafens gekommen. Da trat mein lieber
Reisegefährte an mein Bett heran, im Hemd und
barfuß, rieb sich die Brille und Hub an:
„Liebes Dokterchen! Ich habe Ihnen nun auf
unserer schönen Fahrt Alles gesagt, was Ihnen zu
wissen nöthig ist, um sich einen Begriff von meinem
Gesundheitszustand zu machen. Sie sind aber doch
noch nicht auf Alles vorbereitet. Sie wissen
zwar, daß ich an Nervosität und Kongestionen,
sowie an Zuckerruhr und Verkalkung der Blutge-
fäße, an Herzschwäche und Herzverfettung leide" —
„Aber, Herr Rath, Sie sind ja das Leben selbst,
legen Sie sich doch unbesorgt zu Bette" —
„Jawohl, unbesorgt, das ist das rechte
Wort, denn Furcht ist mir fremd, — aber nicht
unvorbereitet. Denn sehen Sie, ich bin ein
guter Familienvater, will auch nicht, daß Sie
und die Judassens mich, falls es schief gehen
sollte, für einen leichtsinnigen Springinsfeld halten.
Also sehen Sie, liebes Dokterchen, wie ich hier
vor Ihnen stehe, bin ich ein überreifer Kandidat
des — Schlaganfalls! Und zwar des Schlags
in beiderlei Gestalt, Herz oder Gehirn, wo es ge-
rade zuerst hapert."
Auf eine neue Ermahnung meinerseits, doch
nicht den Teufel an die Wand zu malen und
sich im beiderseitigen Interesse zur Ruhe zu be-
geben, fuhr er heiter fort:
„Sie meinen, Dokterchen, das schreckt mich?
Rein, ganz und gar nicht! Ach was, Schlagg —
schöneres Ende kann ich mir gar nicht denken.
Aber wissen Sie, was ich fürchte? Nur so ein
Bischen, was Sie in Bayern ein „Schlagerl"
nennen, wo man dann noch Monate oder Jahre,
halbseitig gelähmt, sich und seinen Mitmenschen
zur Last ist. Hoffen wir das Beste! Und nun,
liebes Dokterchen, kommt die Hauptsache, und nun
erfahren Sie auch, warum ich nicht gern allein
übernachte und mich Ihnen angeschlossen habe:
Wenn mir heute Nacht was Menschliches passirt
und Sie mich Morgen Früh nicht mehr erwecken
können — solche Geschichten kommen meistens zu
nachtschlafender Zeit, — dann sorgen Sie für
Alles, was nöthig ist. Unter meinem Kopfkissen
finden Sie meine Brieftasche mit einer Vollmacht,
wodurch mein jeweiliger Schlafgenosse — heute
also Siel — ermächtigt wird, die gleichfalls in
der Tasche enthaltene Summe von fünfhundert
Mark zur Anschaffung eines Metallsarges und
zur Bestreitung aller ersten Kosten für die Ueber-
sllhrung meiner Leiche nach Gotha auszugeben.
Alles klebrige wird meine Familie besorgen, deren
Adresse Sie in der Brieftasche finden und an die
Sie natürlich sofort telegraphiren müssen. Aber
die ersten paar Tage, bis Alles geordnet ist, blei-
ben Sie bei mir, darum bitte ich Sie, und das
versprechen Sie mir, nicht wahr?"
Natürlich versprach ich es ihm, um endlich schlafen
zrr können; beruhigt begab er sich zu Bette, aber
nach einer Weile rief er noch einmal zu mir herüber:
„Dokterchen, schlafen Sie schon? Ja? Na,
warten Sie man, nur noch zwei Worte: Sehen
Sie, irr dem kleinen schwarzen Handköfferchen, das
dort auf dem Tische steht, da ist eine Sache drin,
mit der ich Sie Morgen Früh angenehm über-
raschen werde; sollte ich aber doch zu meinen
Vätern abberufen werden, so vermache ich Ihnen
den Gegenstand, den Sie dann zum Andenken au
unsere Begegnung aufbewahren werden. Auch
das steht in meinem Reise-Testament. Gute
Nacht, lassen Sie sich was Schönes träumen!"
Es war eine heiße Nacht. Während mein red-
seliger Schlagkandidat sich auf das Gesundeste aus-
schnarchte, wälzte ich mich auf dem ungewohnten
Pfühl aus Gänsefedern, deren solide Kiele sich un-
angenehm fühlbar machten. Bei Nacht und in
solchen Zuständen physischen Unbehagens erfahren
auch unsere geordnetsten Vorstellungen die lächer-
lichsten metaphysischen Umwcrthungen. Die my-
steriöse Andeutung meines Kameraden verfolgte
mich im ruhelosen Halbschlaf. Der Mond schien
in's Zimmer durch die offenen Fenster. Der kleine
schwarze Handkoffer mit der „Ueberraschung" in-
triguirte meine Traumphantasie. Es war, als ob
darin etwas knisterte oder wisperte. Behutsam öff-
nete ich das Ding und gewahrte zu meinem Schre-
cken einen Todtenschädel, dessen Augenhöhlen
mit einer Konvexbrille bewaffnet waren; das Innere
war auf unerklärliche Weise erleuchtet. Ein ma-
gisches Stereoskop, das mich scharf anblickte und
zugleich zum Hineinschauen einlud. Aber das Tollste
war, daß der Schädel mit mir sprach — ein un-
heimliches Klappern und Rascheln mit den wohl-
erhaltenen Zähnen, eine Art Knochengeflüster, das
mir den Ruchgeschmack von phosphorsaurem Kalk
verursachte.
„Was willst du sehen, Schorsch? Mal wieder
optische Dummheiten in deinem Gehirn? Wann
endlich wirst du dich dieses fettigen Inhalts ent-
ledigen? Wir Todtenschädel sind viel glücklicher
ohne dieses Zeug, das euch Lebende so unzufrie-
den macht. Wir schwitzen auch nicht. Willst Du
was Kaltes sehen? Komm, heißer Mensch, ich will
dich abkühlcn."
Und nun sah ich durch die Augenhöhlen des
Knochenmannes den Mond, der wurde immer
größer, kam immer näher. Bald hatte ich einen
gewaltigen Mondkrater unter mir, und nun hielt
ich vor einer eisigen Moräne, die aus lauter Lei-
bern von abgeschiedenen Mondbewohnern zu be-
stehen schien. Die Leiber waren weiß und sehr
lang, zehnmal so lang wie Menschenleiber. Nur
die Köpfe bewegten sich müde und schmerzlich, und
aus den Augen fielen Eisthräuen. Einer ganz im
Vordergründe sang mit klagender Stimme: „Dort
ist das Glück." Und er deutete auf einen mäch-
tigen Ball im tiefblauen Himmel, in welchem ich
alsbald unsere Erde erkannte. Die Farben der
Meere und Länder waren prachtvoll blau mid
grün, das Ganze in eine liebliche Rosastimmnug
getaucht, wie der nordische Frühling. Nach dieser
lieblichen Kugel waren die sehnsüchtigen Blicke der
Erfrorenen gerichtet. Ta ich aber diese warme
Herrlichkeit nur von Weitem sah und barfuß in
der Schneekruste des Mondes stand, so fror mich
gewaltig. Im Fluge gings nach der maischönen
Erde, aber in der Nähe wurde sie unheimlich
sommerlich, und vor mir lag plötzlich die üppig
duftende Sonnengluthinsel Enoch Ardcn's. Der
meergefangene Alte starrte mich mit heißen Sehn-
suchtsblicken an, als wollte er sagen: „So rette
mich doch aus diesem Gottesgefüngniß, wenn Du
ein Mensch bist."
Die Bilder wechselten nun rasch, eines plast-
ischer und farbenreicher als das andere. Ich sah
die Versammlung niemer Ahnen, eine furchtbar
gemischte Gcsellschast, auch Adam und Eva, die
da behaupteten, daß sie schon lange vor der wider-
rechtlichen Vertreibung aus Eden richtig und mit
voller Zustimmung aller Erzengel verheiratet ge-
wesen seien. Sie hatten beide schwarze Locken und
überhaupt viel Orientalisches. Ich frug ihn, wie
das komme, da ich doch von einem blonden, arischen
Adam abstammen müsse. „Da mußt Dil sie
fragen," antwortete er, „ihr erster Mann, Li-
lithus, war blond." „Ja," sagte sie, „der war
blond und hat mich verlassen; er ist mit einer
Blondine durchgegangen, von denen wirst Du
wohl abstammen. Ich bin nur Deine Exstief-
urg roßmutter."
Zuletzt sah ich in dem Todtenschädelstereoskop
die heimatlichen Gefilde meiner Kindheit, den Bach,
in dem die Schafe vor der Schur gewaschen wurden,
wobei wir Buben mit nackten Beinen im Wasser
standen und die widerspenstigen Hammel festhielten.
Da war es plötzlich, als verwandelten sich die Zähne
des Schädels in Orgelpfeifen, etwas wie Kirchen-
duft berührte mein Gesicht und es erklang in mäch-
tigen Zügen der Choral: „Wie schön leucht'
uns der Morgenstern". Ich schlug die Augen
auf, — da saß mein lieber Reisegefährte, im Glanz
der Morgensonne, als Hemdritter am Fenster und
bearbeitete eine Ziehharmonika.
„Sehen Sie, Dokterchen, das ist die Ueber-
raschung. Das thu ich jeden Morgen, an dem ich
ohne Schlag erwacht bin." Dann, als die letzte
Strophe verklungen war, kramte er seine Toilette-
sachen ans und begann, die wackeligen Knöpfe an
seinen Kleidern festzunähen. Meiner Bemerkung,
das könne er doch wohl die Frau Judassin machen
lassen, setzte er die kühne Lebensweisheit entgegen:
„Nichtsda, von Männerknöpfen verstehen die Wei-
ber nichts."
Ich weiß nicht, hatte mir's die Nacht oder mein
Reisegefährte angethan — im Passionsspiel hielt
ich's nicht aus. Unglücklicherweise saß ich mit
meinem alten Herrn neben den Engländerinnen,
die uns ihr Quartier beim Judas überlassen hatten.
Das unandächtige Geplauder meines Nachbarn
rief ein shocking um das andere hervor, endlich
kam ich mir selber so shocking vor, daß ich unter
Vorwand eines plötzlichen Unwohlseins die Reihen
der vor Indignation starren Töchter Albions und
der Unitsä Ltatss durchbrach und mich hinaus
auf die freie Höhe der Kreuzigungsgruppe rettete.
Was aus meinem alten Herrn unter den angel-
sächsischen Jungfrauen geworden, weiß ich nicht.
Während in Oberammergau sich die letzten, er-
greifenden Szenen der Welttragödie abspielten,
war ich schon wieder unterwegs nach München.
Als ich den Staffelsee bei Muruau passirte, stan-
den mehrere furchtbare Gewitter am Himmel.
Schwarzblaues Gewölk ringsum, durch einen
einzigen Spalt schleuderte Enoch Ardcn's Sonne
blutrothe Strahlen auf den See, der vom heulen-
den Sturm zu wilden Wellen gepeitscht ward.
Ein unvergeßliches schwarzrothgoldenes Furioso.
Der erste Blitz, mit ä tsmpo krachendem Donner-
gepolter, erleuchtete ein bescheidenes Bild des Ge-
kreuzigten am Wege.
590