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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 36 (??. September 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0166
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JUGEND

1900

Die dicke Melanie

Zur Zeichnung von A. v. Rubiuyi (München)

Das ist die dicke Melanie,

So tugendrein und bieder,

Die Liebe machte ihr noch nie
Beklemmung unterm Mieder!

Zur Sünde spürt sie keinen Drang,

Zhr gibt vom frühen Morgen
So mas, wie sechzehn Stunden lang,

Zhr Appetit zu sorgen!

Zm Bett noch pstegt zu solchem Zweck Daß sie bei solcher Thätigkeit,
Sie früh Lase zu trinken, Die stündlich sie beschäftigt,

Mit Liern, Honig, frischem Weck, Auch an der Seele wohl gedeiht,
Mit Kuchen, Wurst und Schinken. Das sei nicht erst bekräftigt!

Um Fünse setzt sie sich zum Thee
Mit ungeschwächter Frische,

Und knuspert, bis sie das Souper
Auf's Neue ruft zu Tische.

Und daß des Nachts der Hungertod
Sie jählings nicht ertappe,

Trimmt sie ein dickes Butterbrod
Noch mit in ihre Klappe.

An's erste Frühstück reiht sie an
Das Zweite ohne Pause,

Damit sie etwas leisten kann
Zu Mittag und zur Zause.

v. Kubinyi (München)

Aus dem Tagebuch
eines politischen Kannegießers

in.

„Haben Sie Goethe schon überwunden?"

Ein halb wehmüthiges, halb mitleidiges Lächeln
umspielte die schmalen, blutlosen Lippen, die in
müdem Flüsterton diese verblüffende Frage über
den Tisch warfen, wie man ein Stück Zucker in
den Caft wirft. Ich schüttelte den Kopf. Freund
Hänichen aber — er war der Frager — streifte
mich mit einem kurzen verächtlichen Blick seiner

Denn das wird auch ein Skeptikus
Mir zugestehen müssen:

So lang ein Mägdlein kauen muß,
So lange kann's nicht küssen!

1,. L. Iy.

aschgrauen Augen und fuhr dann
ebenso geschäftig wie lautlos fort,
in dem Sherry-Cobler, der vor
ihm stand, mit dein Strohhalm
herumzustochern. Endlich hielt er
ihn mir unter die Nase — den
Strohhalm natürlich, nicht den
Sherry-Cobler. „Wissen Sie, was
das ist?" hauchte er mehr als er
sprach Und als ich wieder den
Kopf schüttelte, schloß er wie er-
müdet die Augen und flüsterte
lächelnd: „Das ist Goethe — natür-
lich nur für Sie und Ihresgleichen,
die dem Ertrinken nahe sind."

„Aber da muß ich denn doch
bitten

„Bitten Sie, soviel Sie wollen,
Sie ändern nichts an derThatsache."
„An welcher Thatsache?"

„Daß Sie ein Goethekrüppel
sind — ein Mensch, der
täppisch und plump auf
seine fünf gesunden Sin-
ne schwört und gyr nicht
begreift, daß wir alle
blind sind und taub und

geruch-"

„Und geschmacklos!"
„Machen Sie keine
faulen Witze! Es ist doch
so, wie ich sage. Unsere
ganze Litteratur krankt
an Goethe, und sie wird
nicht gesunden, bevor
wir ihn nicht überwun-
den haben."

„Darf ich bitten, mir
das genauerzu erklären."

„Gewiß, wenn es
Ihnen Spaß macht. Aber
passen Sie genau auf, da-
mit Sie mich versteh'n!
Haben Sie schon einmal unsere beide Frauenthürme
an einem Hellen Sommertage geseh'n? Wohlan,
da haben Sie zwei plumpe Maßkrüge, wie sie Ihr
Goethe gedichtet hätte — so deutlich in den Um-
rissen. daß sie jedes Kind nachzeichnen möchte, so
einfach in der Farbe, namentlich der blaue Himmel
im Hintergrund, daß sich jeder Anstreicher dieser
Sudelei schämen müßte, mit einem Wort: so mit
Händen zu greifen, daß man sich gar nicht wundern
würde, wenn einem plötzlich ein Ziegel auf den
Kopf siele. Und nun betrachten Sie mal dasselbe
Bauwerk in einer stürmischen Regennacht! Von
Umrissen keine Spur- Die reine Wolke des Polo-

nius, Wiesel, Elephant und Kameel zugleich. Und
die Farbe ein unbestimmtes Gemisch von allerlei
Dunkelheiten und Düsternissen, die man sich nach
Belieben roth, blau oder grün vorstelleu kann.
Nirgends etwas Körperliches, Plastisches, Greif-
bares, Alles in einander verschmimmend, Himmel
und Thurm und die Nasenspitze, die zu ihm empor-
schaut. Sehen Sie, das ist die reine Stimmung,
mit einem Wort: die Ueberwindung Goethes."

„Aber mich dünkt, das sei alles schon einmal
dagewesen, nur nannte man es früher Romantik.
Ich erinnere Sie nur an Tiecks mondbeglänzte
Zaubernacht."

„Fauler Zauber, diese Tiecksche Zaubernachl.
Wozu läßt der Unglücksmensch den Mond scheinen?
Da sieht man ja alles noch viel zu deutlich, zu
plump, zu körperlich, zu — goethisch! Nein, nein,
was wir Ncuromantiker wollen, das ist was ganz
anderes. Der Gesichtssinn soll verschwinden. Wir
wollen die Dinge blos riechen, kaum hören, ge-
schweige denn sehen. Unsere Worte sind Klänge,
nichts weiter. Wir berauschen uns an ihrem Ton-
fall und hoffen, daß andere ebenso betrunken wer-
den wie wir."

„Da werden Sie wohl zum Schluß auch alle
miteinander katholisch?"

„Katholisch? Wieso denn?"

„Nun, ich dachte gerade an Zacharias Werner,
der erst in der „Weihe der Kraft" Luther ver-
herrlichte und dann reumüthig in den Schoß der
alleinseligmachenden Kirche zurückkehrte, und an
Friedrich Schlegel, der erst in der Lucinde das
Evangelium der freien Liebe predigte und dann,
mit den Sterbesakramenten der Kirche versehen,
als österreichischer Legationsrath zu Frankfurt starb,
und an Clemens Brentano, der schon mit 86 Jah-
ren die heilige Kunst übte, auf Stirn und Brust
ein katholisch Kreuz zu schlagen, und als Fünf-
ziger uns nach den Offenbarungen der stigmatisirten
Nonne Anna Katherina Emmerich allerlei Er-
bauliches aus dem Leben der heiligen Jungfrau
Maria zu berichten wußte."

„Ich glaube gar, Sie spotten. Was haben
wir Goetheüberwinder mit diesen romantischen
Tollhäuslern zu thun?"

„Mehr als Sie ahnen. Man sollte seine Väter
nie verleugnen. — Die Züge des Enkels reden
für Jeden, der Augen hat, eine zu deutliche Sprache.
Oder zählen Sie Maurice Maeterlinck nicht zu den
Ihren? Und haben Sie schon einmal etwas von
August Strindberg und seinem Weg nach Damas-
kus gehört?"

„Mein Herr! Was wollen Sie damit sagen?"

„Daß solche Schwächlinge einen Goethe nicht
überwinden!"

Edgar Steiger






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Alexander (Sandor) v. Kubinyi: Zeichnung zum Gedicht "Die dicke Melanie"
Edgar Steiger: Aus dem Tagebuch eines politischen Kannegießers
L. L. L.: Die dicke Melanie
 
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