Nr. 36
brecherkolonisten sich ein bis in die höchsten Kreise
reichender, rücksichtsloser sozialer Egoismus, eine
Art erblicher Grausamkeit gesellt, sie haben jenes
System durch alle Zeiten bewahrt und in der Ven-
detta, der Mafia und Camorra, der — Cavaleria
rusticana u. dgl. noch heute urwüchsig erhalten.
Es ist also gar nicht verwunderlich, daß unter
den blutdürstigen Wütherichen mit dem Dolch im
Gewände die Italiener noch heute im Vorder-
gründe stehen. Zu den uralten Mordmotiven
(Habsucht, Eifersucht, persönlicher und politischer
Haß, nackte Mordlnst, Herostrateuthum) ist aber
neuerdings noch dasjenige des propagandisti-
schen Mordes gekommen, wobei das Opfer
nicht persönlich, sondern durch feine zufällige
äußere Lebensstellung das „Mißfallen" des
Mörders erregt. Abgesehen von der brutalen
Ungerechtigkeit erscheint uns dieses Motiv auch
als blödsinnig und verrückt. Trotzdem halte ich
es für fraglich, ob der anarchistische Mord im-
mer auf ganz besondere erbliche Belastung, auf
Alkoholisnms u- dgl. zurückzuführen und zu den
unheilbaren Geistesstörungen zu rechnen fei.
Ich habe einen Attentäter gekannt, den in einer
ganz sinnlosen Gymnasiastenverschwörung gegen
das Leben einer Mittelmeerkönigin das Loos ge-
troffen hatte, zu „knallen"; hier konnte man höch-
stens von einer Jugendpsychose sprechen, denn später
war der Begnadigte ein sehr gesetzter, vernünftiger
Mensch. Im Allgemeinen darf man sich wohl der
Verbrechertheorie Lombroso's anschließen. Immer
und stets aber müssen wir auch bei den Propagandi-
sten der That einen geistigen Defekt voraussetzen,
welcher ihnen nicht gestattet, das ranbthierische Sy-
stem „Mord" in einer der heutigen Kulturstufe des
Menschen entsprechenden Weise znrückzudrängen.
Dieses System kann nur deshalb zur Boa constric-
tor anschwellen, weil die kontradiktorischen Systeme
zu schwach entwickelt, vielleicht auch gar nicht ent-
wickelnngsfähig sind. Ter Defekt betrifft also nicht
das inkriminirte System, — bei dem mir im Gegen-
theil von Hypertrophie sprechen können — sondern
andere zur Lebenshaltung uothwendige Systeme.
Wie bei vielen jugendlichen Selbstmördern, so
finden wir auch bei den Attentätern sehr häufig
hochgradigen Schwund natürlicher altruistischer
Gefühle (Eltern- und Geschwisterliebe, Achtung vor
dem Alter, Mitleid mit Kindern re.), dagegen mei-
stens eine mimosenhaft gesteigerte Empfindlichkeit,
soivie Eitelkeit und Größenwahn neben Neid ans
alle Bessersitnirten und auf jedes fremde Verdienst;
der anarchistischeJdiot nimmt „Rache" an Personen,
die für ihn vernünftigerweise gar nicht in Betracht
kommen, und sein defekter Verstand gestattet ihm
nicht einmal die Einsicht, daß er durch seine Thaten
Märtyrer gerade für diejenigen Institutionen
schafft, die er angeblich befämpfert will. Durch
die Ermordung Carnot's hat die bürgerliche Re-
publik in Frankreich, durch diejenige Umberto's
das italienische Königthicm eine mindestens ebenso
große Stärkung erfahren, als das Czarenthum
durch die verschiedenen Attentate der Nihilisten.
Wäre die rein dynamisch-autoritative
Stärkung von Regierungsformen gleich-
bebeutenb mit dem Siege der ausgleichenden sozi-
alen Gerechtigkeit, dann müßten allerdings
jene Märtyrerkronen schon Wunder gewirkt haben,
thatsächlich aber wird durch solche gewaltthätige
Unternehmungen die Aufmerksamkeit nicht nur der
Gewaltigen, sondern auch der Uuterthauen von
den Aufgaben der Volkswohlfahrt abgelenkt, so
sehr, daß man fast auf die Idee kommen könnte,
die anarchistische Propaganda der That sei „be-
stellte Arbeit" — bestellt von den Mächten
. JUGEND .
der Reaktion und Plntokratie. Und wie sehr durch
jene Attentatseseleien sogar das Urtheil der amt-
lichen Wissenschaft verwirrt wird, zeigt ja schlagend
der hier besprochene Angriff ans die literarische
und künstlerische Modernität.
Mit Kunst nnb Literatur aber haben die
Anarchisten des Gedankens und der That nichts
zu thun. Es mag unter diesen einige talentvolle
Leute geben, die geschickt mit Feder oder Pinsel
umgehen können, jedoch die „Modernität" wird
dadurch so wenig betroffen, wie das reine Christen-
thum durch die Inquisition. Dagegen muß ich
es als eine Art von Embryonenmord bezeichnen,
wenn der großen Atasse der Normalmenschen, die
von den „zartesten und vornehmsten Spiegelungen
der Volksseele" soviel verstehen, wie die Kuh voic
Muskaten, — wenn dieser denkfaulen Males die
ohnehin mit Noth und Opfern kämpfenden armen,
weil ehrlichen Künstler und Literaten der „Mo-
derne" als Gedankenanarchisten vorgestellt werden.
Man bringt ein verwickeltes Problem dem Ver-
ständniß der urtheilslosen Masse nicht dadurch
näher, daß man gänzlich unbetheiligte Dritte in
die Debatte zieht. Wir Künstler, Dichter und
Schriftsteller wollen Saaten des Wohlwol-
lens ausstreuen für unsere individuelle Art, die
Schönheiten des Lebens und der Gotteswelt Zu-
sehen und zu begreifen; wir streben in künstleri-
schem Sinne nach Freiheit und Wahrheit, nach
innerer Befriedigung und nach Beglückung unserer
Mitmenschen, und dabei ergibt sich naturgemäß
eine große Vielgestaltigkeit subjektiver Auffassungen,
— Anarchisten aber sind wir nicht! Man nenne
uns lieber Ordnnngsmeuschen ans der vierten
Dimension, religiöse Symbolisten, Apostel der
Nächstenliebe, Schwärmer für höhere Gesetze, die
bei der Inferiorität des Normalmenschen ewig
Sternenharmonie bleiben werden, man tadle auch
die Geringschätzung, welche Viele unter uns für
das politische Metier und für den höfischen und
akademischen Formalismus hegen, — aber A n -
archisten schimpfe man uns nicht!
„Modernität" im weitesten Sinne ist das Gegen -
theilvonNückständigkeit; einen „modernen
Menschen" nennen wir Einen, der sich in den für
seine Lebenshaltung wichtigsten Gedankenkreisen
von veralteten Vorurtheilen frei machen kann oder
zu solcher Befreiung den guten Willen besitzt, und
der — das hängt nun mehr vom Charakter als
von der Intelligenz ab — auch den sittlichen
Muth besitzt, seine Vorurtheilsfreiheit zu beken-
nen und zu vertreten. Die Lebensklugheit,
seine schwache Seite zu verbergen, ist allerdings
nicht Jedem gegeben. Die Meisten unter uns sind
in irgend einem Seelenwinkel etwas rückständig,
sie sprechen nur nicht davon. Das ist noch mehr
Sache des Temperamentes als der Erziehung —
wie sehr würde z. B. Kaiser Wilhelm II. als
muthvoller „moderner Mensch" in unseren Angen
wachsen, wenn er nicht des Oeftern durch rück-
ständige Anschauung über Kunst und Literatur
imponiren wollte. Will man aber von der breiten
„Modernität," welche alle kulturellen Lebens-
äußerungen umfaßt, als besonderen hortulus de-
liciarum die „Moderne" ab grenzen, worin die
zarten Blumen der erwachenden Morgenröthe ge-
pflegt werden, dann dürfen wir billigerweise er-
warten, daß die Herren Kritiker nicht mit ihren
Acethylenlaternchen uns die poetische Stimmung
verderben. Das thun sie aber durch ihre höchst
überflüssige Abnormitätenschnüffelei, durch die
Sucht, Krankhaftes zu entdecken, die au sich schon
krankhaft ist. Und auch das ist wohl kein un-
billiges Verlangen, daß ein deutsches Urtheil
(ho
1900
auch einige Rücksicht auf die allgemeine Richtung
der d eutschen Modernität und deren internatio-
nale Sympathien nehme. Für den greisenhaften
Kunst feind Tolstoi (der nebenbei immer noch
Künstler sein mag) haben wir Deutsche nicht die
geringste Sympathie. Er,gehört in unseren Augen
zu den Chinesen. Baknnin und Krapotkin rechnen
wir zu den Boxern. Das „Sprungbrett," das
von diesen Theoretikern des politischen Anarchis-
mus zic den Bombenwerfern und Königsmördern
führen soll, existirt für die deutsche M oder
nität überhaupt nicht! Nehmen wir dazu das
liebevolle Eingehen auf die unscheinbarsten Schön-
heiten der Natur und der menschlichen Seele, unsere
humorvolle Geunßfreudigkeit, die in unseren Krei-
sen vorwiegende Abneigung gegen alle Uebertreib-
iliigen, gegen alle unerquickliche Prinzipienreiterei
dann begreife ich nicht, ivie man die Anarchisten
auf unser gemüthliches Konto setzen kann!
Wenn ich die Modernitäten früherer Zeiten mit
der gegenwärtigen vergleiche, so finde ich sogar,
daß noch keine so tolerant war, sowohl in
religiöser und erkenntnißtheoretischcr, wie in ästhe-
tischer Hinsicht. Freie Bahn für jede Art der
Seligkeit, nur kein Monopol, kein Glaubenszwang;
Zurückweisung aller Angriffe auf die Gewissens-
freiheit. Ich mache besonders darauf aufmerksam,
daß die heutige Modernität sich frei weiß von
allen Versuchen, die Aufklärung durch die Natur-
wissenschaften in religionsfeindlicher Weise auSzn-
beuten. Ja man könnte uns sogar eine noch den
Vätern unserer Modernität fremde Konnivenz gegen
das Pfäffische, eine Art von Koketterie mit kon-
fessionellen Symbolen zum Vorwurf machen, die
allerdiicgs mit der Mystik unserer Poesie im Zu-
sammenhang steht. Die Geschichte der lox Heinze
hat es klärlich bewiesen, wie stark zwar die heutige
Modernität in der Abwehr ist; daß aber ihr
innerstes Wesen in der Defensive besteht, das
konnte nicht deutlicher werden, als eben durch den
Angriff der rückständigen Parteien. Die
Gegner — dreist, wie sie nun einmal sind —
hatten geglaubt, unser -Fanatismus für Toleranz
werde so weit gehen, daß wir uns die lex Heinze
nach ihrem Sinne gefallen lassen würdenI
Doch Alles gipfelt in der Frage des Ver-
ständnisses, von welcher zur Verständigung
nur noch ein Schritt ist. Herr Prof. Stein bringt
nun in seinen geistreichen Schriften zwar Vieles
zum Verständniß des blutigen Anarchismus
bei, aber für den von ihm künstlich konstruirten
gedanklichen Anarchismus der „Modernität"
findet er nur harte Worte. Wie ist es möglich,
daß derselbe Mann, der ein so warmes Herz für
die kommende „Aristokratie der Arbeit" an den
Tag legt, daß er für die Zukunftsmusik in Knust
und Literatur kein freundliches Gehör hat? Sind
wir nicht Alle „Arbeiter," nnb verdienten wir nicht
die Verachtung der Mitwelt, wenn wir anders
denken und arbeiten wollten, als es unsere heilige
lleberzeugung uns vorschreibt'? Es ist die alte
Geschichte: Was nicht verstanden wird, wird nicht
einmal verziehen I Die Modernität aber bedarf
der Verzeihung gar nicht, sie verlangt nur ihr
stolzes Recht, denn sie ist nichts anderes als
Knospe und Blüthe, ohne welche niemals reife
Früchte vom Baume des Lebens geärntet werden.
brecherkolonisten sich ein bis in die höchsten Kreise
reichender, rücksichtsloser sozialer Egoismus, eine
Art erblicher Grausamkeit gesellt, sie haben jenes
System durch alle Zeiten bewahrt und in der Ven-
detta, der Mafia und Camorra, der — Cavaleria
rusticana u. dgl. noch heute urwüchsig erhalten.
Es ist also gar nicht verwunderlich, daß unter
den blutdürstigen Wütherichen mit dem Dolch im
Gewände die Italiener noch heute im Vorder-
gründe stehen. Zu den uralten Mordmotiven
(Habsucht, Eifersucht, persönlicher und politischer
Haß, nackte Mordlnst, Herostrateuthum) ist aber
neuerdings noch dasjenige des propagandisti-
schen Mordes gekommen, wobei das Opfer
nicht persönlich, sondern durch feine zufällige
äußere Lebensstellung das „Mißfallen" des
Mörders erregt. Abgesehen von der brutalen
Ungerechtigkeit erscheint uns dieses Motiv auch
als blödsinnig und verrückt. Trotzdem halte ich
es für fraglich, ob der anarchistische Mord im-
mer auf ganz besondere erbliche Belastung, auf
Alkoholisnms u- dgl. zurückzuführen und zu den
unheilbaren Geistesstörungen zu rechnen fei.
Ich habe einen Attentäter gekannt, den in einer
ganz sinnlosen Gymnasiastenverschwörung gegen
das Leben einer Mittelmeerkönigin das Loos ge-
troffen hatte, zu „knallen"; hier konnte man höch-
stens von einer Jugendpsychose sprechen, denn später
war der Begnadigte ein sehr gesetzter, vernünftiger
Mensch. Im Allgemeinen darf man sich wohl der
Verbrechertheorie Lombroso's anschließen. Immer
und stets aber müssen wir auch bei den Propagandi-
sten der That einen geistigen Defekt voraussetzen,
welcher ihnen nicht gestattet, das ranbthierische Sy-
stem „Mord" in einer der heutigen Kulturstufe des
Menschen entsprechenden Weise znrückzudrängen.
Dieses System kann nur deshalb zur Boa constric-
tor anschwellen, weil die kontradiktorischen Systeme
zu schwach entwickelt, vielleicht auch gar nicht ent-
wickelnngsfähig sind. Ter Defekt betrifft also nicht
das inkriminirte System, — bei dem mir im Gegen-
theil von Hypertrophie sprechen können — sondern
andere zur Lebenshaltung uothwendige Systeme.
Wie bei vielen jugendlichen Selbstmördern, so
finden wir auch bei den Attentätern sehr häufig
hochgradigen Schwund natürlicher altruistischer
Gefühle (Eltern- und Geschwisterliebe, Achtung vor
dem Alter, Mitleid mit Kindern re.), dagegen mei-
stens eine mimosenhaft gesteigerte Empfindlichkeit,
soivie Eitelkeit und Größenwahn neben Neid ans
alle Bessersitnirten und auf jedes fremde Verdienst;
der anarchistischeJdiot nimmt „Rache" an Personen,
die für ihn vernünftigerweise gar nicht in Betracht
kommen, und sein defekter Verstand gestattet ihm
nicht einmal die Einsicht, daß er durch seine Thaten
Märtyrer gerade für diejenigen Institutionen
schafft, die er angeblich befämpfert will. Durch
die Ermordung Carnot's hat die bürgerliche Re-
publik in Frankreich, durch diejenige Umberto's
das italienische Königthicm eine mindestens ebenso
große Stärkung erfahren, als das Czarenthum
durch die verschiedenen Attentate der Nihilisten.
Wäre die rein dynamisch-autoritative
Stärkung von Regierungsformen gleich-
bebeutenb mit dem Siege der ausgleichenden sozi-
alen Gerechtigkeit, dann müßten allerdings
jene Märtyrerkronen schon Wunder gewirkt haben,
thatsächlich aber wird durch solche gewaltthätige
Unternehmungen die Aufmerksamkeit nicht nur der
Gewaltigen, sondern auch der Uuterthauen von
den Aufgaben der Volkswohlfahrt abgelenkt, so
sehr, daß man fast auf die Idee kommen könnte,
die anarchistische Propaganda der That sei „be-
stellte Arbeit" — bestellt von den Mächten
. JUGEND .
der Reaktion und Plntokratie. Und wie sehr durch
jene Attentatseseleien sogar das Urtheil der amt-
lichen Wissenschaft verwirrt wird, zeigt ja schlagend
der hier besprochene Angriff ans die literarische
und künstlerische Modernität.
Mit Kunst nnb Literatur aber haben die
Anarchisten des Gedankens und der That nichts
zu thun. Es mag unter diesen einige talentvolle
Leute geben, die geschickt mit Feder oder Pinsel
umgehen können, jedoch die „Modernität" wird
dadurch so wenig betroffen, wie das reine Christen-
thum durch die Inquisition. Dagegen muß ich
es als eine Art von Embryonenmord bezeichnen,
wenn der großen Atasse der Normalmenschen, die
von den „zartesten und vornehmsten Spiegelungen
der Volksseele" soviel verstehen, wie die Kuh voic
Muskaten, — wenn dieser denkfaulen Males die
ohnehin mit Noth und Opfern kämpfenden armen,
weil ehrlichen Künstler und Literaten der „Mo-
derne" als Gedankenanarchisten vorgestellt werden.
Man bringt ein verwickeltes Problem dem Ver-
ständniß der urtheilslosen Masse nicht dadurch
näher, daß man gänzlich unbetheiligte Dritte in
die Debatte zieht. Wir Künstler, Dichter und
Schriftsteller wollen Saaten des Wohlwol-
lens ausstreuen für unsere individuelle Art, die
Schönheiten des Lebens und der Gotteswelt Zu-
sehen und zu begreifen; wir streben in künstleri-
schem Sinne nach Freiheit und Wahrheit, nach
innerer Befriedigung und nach Beglückung unserer
Mitmenschen, und dabei ergibt sich naturgemäß
eine große Vielgestaltigkeit subjektiver Auffassungen,
— Anarchisten aber sind wir nicht! Man nenne
uns lieber Ordnnngsmeuschen ans der vierten
Dimension, religiöse Symbolisten, Apostel der
Nächstenliebe, Schwärmer für höhere Gesetze, die
bei der Inferiorität des Normalmenschen ewig
Sternenharmonie bleiben werden, man tadle auch
die Geringschätzung, welche Viele unter uns für
das politische Metier und für den höfischen und
akademischen Formalismus hegen, — aber A n -
archisten schimpfe man uns nicht!
„Modernität" im weitesten Sinne ist das Gegen -
theilvonNückständigkeit; einen „modernen
Menschen" nennen wir Einen, der sich in den für
seine Lebenshaltung wichtigsten Gedankenkreisen
von veralteten Vorurtheilen frei machen kann oder
zu solcher Befreiung den guten Willen besitzt, und
der — das hängt nun mehr vom Charakter als
von der Intelligenz ab — auch den sittlichen
Muth besitzt, seine Vorurtheilsfreiheit zu beken-
nen und zu vertreten. Die Lebensklugheit,
seine schwache Seite zu verbergen, ist allerdings
nicht Jedem gegeben. Die Meisten unter uns sind
in irgend einem Seelenwinkel etwas rückständig,
sie sprechen nur nicht davon. Das ist noch mehr
Sache des Temperamentes als der Erziehung —
wie sehr würde z. B. Kaiser Wilhelm II. als
muthvoller „moderner Mensch" in unseren Angen
wachsen, wenn er nicht des Oeftern durch rück-
ständige Anschauung über Kunst und Literatur
imponiren wollte. Will man aber von der breiten
„Modernität," welche alle kulturellen Lebens-
äußerungen umfaßt, als besonderen hortulus de-
liciarum die „Moderne" ab grenzen, worin die
zarten Blumen der erwachenden Morgenröthe ge-
pflegt werden, dann dürfen wir billigerweise er-
warten, daß die Herren Kritiker nicht mit ihren
Acethylenlaternchen uns die poetische Stimmung
verderben. Das thun sie aber durch ihre höchst
überflüssige Abnormitätenschnüffelei, durch die
Sucht, Krankhaftes zu entdecken, die au sich schon
krankhaft ist. Und auch das ist wohl kein un-
billiges Verlangen, daß ein deutsches Urtheil
(ho
1900
auch einige Rücksicht auf die allgemeine Richtung
der d eutschen Modernität und deren internatio-
nale Sympathien nehme. Für den greisenhaften
Kunst feind Tolstoi (der nebenbei immer noch
Künstler sein mag) haben wir Deutsche nicht die
geringste Sympathie. Er,gehört in unseren Augen
zu den Chinesen. Baknnin und Krapotkin rechnen
wir zu den Boxern. Das „Sprungbrett," das
von diesen Theoretikern des politischen Anarchis-
mus zic den Bombenwerfern und Königsmördern
führen soll, existirt für die deutsche M oder
nität überhaupt nicht! Nehmen wir dazu das
liebevolle Eingehen auf die unscheinbarsten Schön-
heiten der Natur und der menschlichen Seele, unsere
humorvolle Geunßfreudigkeit, die in unseren Krei-
sen vorwiegende Abneigung gegen alle Uebertreib-
iliigen, gegen alle unerquickliche Prinzipienreiterei
dann begreife ich nicht, ivie man die Anarchisten
auf unser gemüthliches Konto setzen kann!
Wenn ich die Modernitäten früherer Zeiten mit
der gegenwärtigen vergleiche, so finde ich sogar,
daß noch keine so tolerant war, sowohl in
religiöser und erkenntnißtheoretischcr, wie in ästhe-
tischer Hinsicht. Freie Bahn für jede Art der
Seligkeit, nur kein Monopol, kein Glaubenszwang;
Zurückweisung aller Angriffe auf die Gewissens-
freiheit. Ich mache besonders darauf aufmerksam,
daß die heutige Modernität sich frei weiß von
allen Versuchen, die Aufklärung durch die Natur-
wissenschaften in religionsfeindlicher Weise auSzn-
beuten. Ja man könnte uns sogar eine noch den
Vätern unserer Modernität fremde Konnivenz gegen
das Pfäffische, eine Art von Koketterie mit kon-
fessionellen Symbolen zum Vorwurf machen, die
allerdiicgs mit der Mystik unserer Poesie im Zu-
sammenhang steht. Die Geschichte der lox Heinze
hat es klärlich bewiesen, wie stark zwar die heutige
Modernität in der Abwehr ist; daß aber ihr
innerstes Wesen in der Defensive besteht, das
konnte nicht deutlicher werden, als eben durch den
Angriff der rückständigen Parteien. Die
Gegner — dreist, wie sie nun einmal sind —
hatten geglaubt, unser -Fanatismus für Toleranz
werde so weit gehen, daß wir uns die lex Heinze
nach ihrem Sinne gefallen lassen würdenI
Doch Alles gipfelt in der Frage des Ver-
ständnisses, von welcher zur Verständigung
nur noch ein Schritt ist. Herr Prof. Stein bringt
nun in seinen geistreichen Schriften zwar Vieles
zum Verständniß des blutigen Anarchismus
bei, aber für den von ihm künstlich konstruirten
gedanklichen Anarchismus der „Modernität"
findet er nur harte Worte. Wie ist es möglich,
daß derselbe Mann, der ein so warmes Herz für
die kommende „Aristokratie der Arbeit" an den
Tag legt, daß er für die Zukunftsmusik in Knust
und Literatur kein freundliches Gehör hat? Sind
wir nicht Alle „Arbeiter," nnb verdienten wir nicht
die Verachtung der Mitwelt, wenn wir anders
denken und arbeiten wollten, als es unsere heilige
lleberzeugung uns vorschreibt'? Es ist die alte
Geschichte: Was nicht verstanden wird, wird nicht
einmal verziehen I Die Modernität aber bedarf
der Verzeihung gar nicht, sie verlangt nur ihr
stolzes Recht, denn sie ist nichts anderes als
Knospe und Blüthe, ohne welche niemals reife
Früchte vom Baume des Lebens geärntet werden.