Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 37 (??. September 1900)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0182
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1P00

Nr. 37

. JUGEND •

gar kein Ende zu lachen und gemüthlich davon zn
schwatzen, wie sehr nun das Ferkelchen die Frau
vermissen werde, und wie pfiffig es geworden sei,
vaß es so an der Frau und den Kindern hänge —,
io daß Gerda schließlich beinahe wieder die Thränen
in die Augen traten.

Drinnen in der Stadt sehnte sie sich anfangs
furchtbar auf das Land zurück; die Luft war so
schwer und dick, und überall war es so voll Men-
schen, die kaum einander ansahen. Thiere, die sie
kannten und zu ihr kamen, gab cs gar nicht mehr.
Tie stand bisweilen am Fenster und wurde von
ganz heißem Sehnen ergriffen, in dem ein kleines,
lustig emporgedrehtes geringeltes Schweineschwänz-
chen gleich einer wehmüthig entschwindenden Land-
schaft wirkte_

^ Dann nahte Weihnachten heran, und eines
Tages kam das Mädchen mit der Meldung herein,
daß der Bauer Andreas Hansen vom Lande draußen
wäre und gern die Frau begrüßen möchte. Er
hatte für die Kinder Aepfel mit von den alten
Bäumen im Garten und hob schließlich den Deckel
eines Korbes auf und machte dann eine kleine
Pause- Gerda sah ihn erwartungsvoll an.

„Ja, sehen Sie," sagte er, „wir haben ja nun
auch das Ferkelchen geschlachtet..." Es war Gerda,
als bekäme sie einen Stoß vor die Brust, aber sie
bezwang sich und gab keinen Laut von sich.

„Und da dachten wir, daß die Frau und die
Kinder auch 'was davon haben sollten, und da

ist hier ein Rippspeerbraten, wenn Sie ihn nicht
verschmähen wollen, Frau."

Andreas Hausen sah sehr ehrbar und freund-
kich aus, und Gerda bat ihn in die Stube hinein,
dankte ihm tiud setzte ihm Wein rmd Cigarren
vor; aber während sie da so saß und den Bauern
reden ließ und nur ab und zu ein Ja oder Nein,
eine kleine Frage der Antwort einschob, war cs
ihr, als starrte sie in etwas verzwciflungsvotl
Düsteres und Trauriges hinein, und sie kam sich
so bedrückt tiud zerstreut vor, daß es ihr eine
wahre Erleichterung bereitete, als Erich in strah-
lender Laune nach Hause kaiu und mit Andreas
Hansen lustig zu plaudern begann.

Erich sah in den Korb hinein: „Rippspeer! O,
das ist wirklich großartig von Ihnen, Herr Hansen!
Das ist eins meiner Leibgerichte! Und dann von
solch' einem feinen, kleinen Ferkelchen I Ach, das ist
das possirliche vom Sommer! Das machtJhnen wirk-
lich Ehre, Andreas Hansen! Ja, morgen zum Mittag
Gerda, wir wollen uns ordentlich daran delektiren."

Gerda lächelte, war aber äußerst froh, daß sie
nichts zu sagen brauchte, denn sie glaubte, daß sie
kein Wort über die Lippen bringen könnte! Karl
und Ella, mit denen das Kindermädchen gleich dar-
auf nach Hause kam, erzählte sie nur von den
Aepfeln, über die die Kinder sogleich herfielen. Das
mit dem Ferkelchen erfuhren sie wirklich noch früh
genug.

Am nächsten Tage aber saßen beim Mittags-
tisch sowohl Gerda als Karl und Ella mit wunder-

lich langen Gesichtern; die Suppe wurde schweigend
verzehrt, Erich war tüchtig hungrig und bemerkte
nichts weiter, als daß es ihm großartig schmeckte.

„So, sol" sagte er und rieb sich ein bischen
die Hände, „nun kommt das Rippspeer, direkt
importirt aus dem Bauernlande! So was schmeckt
zehnmal besser, wenn man es von da draußen
geschenkt bekommen hat, als wenn es im Laden
gekauft ist!"

Er kostete einen Happen und schnalzte mit der

Zunge: „O, das ist ja ganz delikat-" aber

dann ließ er Messer und Gabel sinken und sah
nach Karl hinüber. „Warum ißt Du denn nicht,
Junge!.. . Und Ella! Sitzt Du auch und hältst
Maulaffen feil?"

Die Kinder stachen mit Messer und Gabel in
dem Rippspeerbraten herum.

„Was soll das heißen, Gerda?"

Als aber Erich nach Gerda hinübersah, wurde sein
Ausdruck noch erstaunter.

Plötzlich begann Ella zu weinen.

„Ja, aber znm Teufel, was fehlt dir denn,
Kind? — Und ich glaube gar, nun beginnt der
Junge auch zu heulen! Darf ich fragen, Gerda,
was das zu bedeuten hat?"

Da konnte Gerda sich nicht länger halten,
mitten unter Karl's und Ella's Schluchzen ent-
fuhr es ihr unter Weinen:

„Ja aber, wir können doch nicht das
Ferkelchen essen!"

Deutsch von L. Brausewetter

Am 25. August 1900 haben die letzten Reste
von Lebensgleichgewichten, ivelche ehemals einem
der bedeutendsten Geister aller Zeiten als Festung
gedient hatten, zu existiren aufgehört. In diesem
Augenblicke der letzten Kapitulation war die Fest-
ung schon längst geschleift, ihr Widerstand gegen
die feindlichen Heerschaaren der Philister längst
gebrochen, — ein bloßer Viktualienmarkt für in-
serior-normalmenschliche Stoffwechselprozesse. Ob
unter der Hülle des Wahnsinnes, in den unbe-
wußten Gefilden seines einst so glänzenden Denk-
organs noch Erinnerungen an die siegreichen
Wasfenthaten des llebermenschen aufleuchteten, —
wir wissen cs nicht. Wir wissen überhaupt so
gut wie gar nichts, weder von uns selbst, tioch
von Friedrich Nietzsche. Wir wissen namentlich
nicht, ob seine zündenden Geistesblitze schon Vor-
boten des Wahnsinns waren, oder ob der Wahn-
sinn lediglich eine mechanische Folge der Neber-
anstrengung seiner Apparate und Kräfte war. Das
letztere, das er selbst geahnt, wäre plausibel; denn
unter allen Organen des genus homo ist die
Großhirnrinde das jüngste, das verwundbarste,
die eigentliche Achillesferse der großen Denker. Ich
will nicht sagen: ignorabimus; aber nach dem
heutigen Stande unserer hirnphysiologischen und
psychiatrischen Kenntnisse wissen wir eben nichts.

Das wollte ich heute nur betonen, ich wollte
nur warnen vor hirnlosen Kritikastereien über
ein Gehirn, zu dessen Verständniß unsere subjek-
tiven Empfindungen nicht ausreichen. Warnen
wollte ich vor seichtem Geschwätz in Bezug auf
einen großen Deutschen, den wir bewundern
müssen auch da, wo wir ihn nicht verstehen. Denn
schon voni Standpunkte des simpeln deutsche»
Denk- und Sprachturuwarts muß ich diesem un-
sterblichen Meisterturner den Lorbeer reichen. Er
hat uns eine Kraft und Leidenschaft höchster Geistes-
arbeit offenbart, auf welche die ganze Menschheit
und namentlich wir Deutsche stolz sein müssen. Es
hieße die menschliche Bestie beim Schwänze auf-
zäumen, wollten wir diesen Stern am Himmel des
Menschengcistes herabziehen in die Pfützen unserer
jammervollen Philisterlogik. Neunen wir ihn im-
merhin ein Phänomen, eine von der thieriichen
Fassungsgabe losgelöste Feuererscheinnng, - aber
entehren wir uns selbst nicht, indem wir ihn mit
dem Maßstabe der ewigen Inferiorität messen.

Friedrich Nietzsche kann in diesem Augen-
blicke nur naturwissenschaftlich gewürdigt
werden; und die Naturwissenschaft lehrt uns Be-
scheidenheit, wo wir nicht wissen. Man kann
ja wohl auf die Ironie Hinweisen, die darin liegt,
daß der Gedankenübermensch Nietzsche durch das

an innerem Widerspruch krankende Werk des
Thatenübermenschen Bismarck — die Verherr-
lichung des Normalmenschen im allgemeinen und
direkten Wahlrecht —auf das Höchste gereizt wurde.
Man kann das und vieles andere beschreiben,
manches erklären, — aber die Physiologie seines
Gehirns bleibt uns ein Buch niit sieben Siegeln.
Wir können nur sagen: es war; cs war ein großes
Gewitter, dessen Entladungen uns erschrecken. Ich
habe auch nichts gegen das Argument der From-
men einzuwenden, daß Gott es sei, der die Ge-
witter und die Geister wachsen lasse, und daß von:
Standpunkte der biblischen Schöpfungsgeschichte
zu einem gewaltigen Menschengeiste mehr göttlicher
Witz gehöre als zu einem Donnerwetter. Das
alles lasse ich gelten, aber das inferiore Gewinsel
von Schafsköpfcn, die alles besser wissen wollen
als der liebe Gott, das lasse ich nicht gelten.

Man vergesse auch nicht, daß kürzlich ein
Goethebuud nöthig war I Geben wir Jenen, die
das Göttliche im Menschen mit der Inferiorität der
Massen zu erschlagen bereit stehen, nicht das wider-
liche Beispiel einer Nietzsche-Inquisition,
bei der zuletzt doch nur die Herren Inquisitoren als
die Genarrten auf der Wahlstatt bleiben würden.
Denn Der, über den sie zu Gericht zu sitzen ivähnen,
ist für sie nicht erreichbar. Er ist schon in Walhall.

Georg Birth
Register
Karl Riss: Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag
Georg Hirth: Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag
 
Annotationen