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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 38 (??. September 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0196
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1900

JUGEND

Nr. 38

Die Pädagogik

„Sieber Herr Miiller," sagte der Pastor des Dorfes
zum Lehrer, „wollen Sie die Mädchen um Zwölf mal in
ineinen Garten schicken, ich will jedem Rinde einen
Blumensteckling zur pflege mitgeben; wer die schönste
Blume daraus zieht, soll eine Prämie haben. Glauben
Sie mir, indem ich so die Liebe zu den Bluinen wach-
rufe, erziehe ich die Rinder mehr für alles Gute und
öchöne, als Sie in hundert Schulstunden."

Mittags brachten alle Mädchen ihre Blumenstecklinge
heim, und wenn auch die Liese es vorzog, den ihren
in die Gosse zu schleudern und davonschwimmen zu
lassen, die Trude ihn ruhig vertrocknen ließ, und in Mar-
thas Garten der Ziegenbock sich des Weggeworfenen er-
barmte, die Grethe wie die Llla verwandten kein Auge
von ihren Zöglingen. Stundenlang konnte die Ella da-
bei sitzen, jedes Schmutzfleckchen wurde sorgfältig abge-
wischt, und dann träumte sie von ihrer Prämie und was
sie alles dafür kaufen könne. Als der Tag der Ent-
scheidung bevorstand, blühten ihr zwei prächtige Blüthen
entgegen. Traumverloren saß sie bei ihrem Pflegling,
die Sonne brütete heiß; morgen würde sie alles haben,
was sie wünschte. Wenn doch erst morgen wäre! Da
kam die Grethe. „Li, hast Du eine schöne Blume,"
lobte sie, „aber meine ist noch viel schöner, sie hat drei
Blüthen, Deine hat blos zwei." Und sie führte die Llla
i» ihren Garten. Am Graben auf einem Bänkchen stand
die Prämienblume, wirklich drei Blüthen. Die kleine
Llla war ganz still, die Sonne stach ihr jetzt förmlich
in's Gesicht, es flimmerte vor ihren Augen, sie wollte
etwas sagen, aber sie brachte es nicht heraus, und plötz-
lich lief sie davon, setzte sich daheim zu ihrer Blume und
heulte zum Herzbrechen. Die Sonne brannte heiß, aber
das war ihr gerade recht, die Sonne sollte nur ja nicht
denken, daß sie deshalb fortrücken würde. Sie ballte die
Hände. Alles war ganz stumm, nur die Bienen summ-
ten. Dabei mußte sie an den Honigkuchen denken, den
sie von der Prämie hatte kaufen wollen. Das war nun
vorbei. Sie wischte die Thränen ab. Sie mußte die
Grethe doch noch mal aussuchen, vielleicht tauschte sie
urit ihr, die Grethe war so gutmüthig und sie, die
Ella, mußte doch den Preis haben, sie hatte sich ja
solang - o'rauf gefreut. — Aber die Grethe war nicht
zu Hanse, leer das ganze Haus, nur im Garten schlich
der alte Rater. Und am Wasser stand die Blmne und
leuchtete. Ls raschelte in den Zweigen, Llla fuhr zu-
sammen, aber es war nur ein Spatz gewesen. Ganz
allein — Niemand sah's; Llla griff nach der Blume,
sie wollte ja gar nichts Böses, nur die eine Blüthe würde
sie abpflücken, dann waren's immer noch zwei. Aber, als
der Raub in ihrer Hand hing, da fiel ihr ein, das
würde ja die Grethe merken und dann müßte die Llla
sich schämen und das wollte sie nicht. — Lieberl —
!)orch, da raschelt's wieder. Ls ist der Rater nur;
vielleicht sucht er den Spatzen — und springt dabei
auf das Blumenbänkchen, stößt es um — und es fällt
— in's Wasser. — Geht da nicht die Gartenthür?
Rasch. Ein Stoß mit dem Fuß, das Wasser plätschert
und gurgelt auf, die Llla ist schon durch die Hecke ge-
krochen — —

Am andern Morgen saß die Grethe vor der Haus-
schwelle und weinte bitterlich, die Mutter hatte sie ge-
schlagen, weil sie keine Prämie bekommen würde. Neben
ihr saß der vermeintliche Missethäter und schnurrte.

Die Llla aber erhielt ihren Lohn, einen blanken
Thaler, und der Herr Pastor lobte sie. Innerlich war
er voller Freude, daß er in den Seelen dieser Rinder
und zumal dieses Rindes den Sinn für alles Gute und
Lchöne geweckt hattel

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Hans Zuchhold: Die Pädagogik
George Henry: Die Federboa
 
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