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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 48 (??. November 1900)
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1900

JUGEND

Nr. 48

Der gute Stil

Skizze von Josef Ettlingen

„Otto?!"

„Ja, mein Herz?"

„Muht Du nicht gehen? ... Es ist schon zehn
Minuten Uber vier!"

Drinnen im Zimmer ein rasches Stuhlrücken
und Aufspringen.

„Gott ja, — da Hab' ich mich richtig wieder
verschrieben, und auf vier Uhr hatte ich mir Fitzner
ins Bureau bestellt . .. Nun hat's aber Eile!"

Er ging nach der Schlafstube hinüber, um sich
die Hände zu waschen, und kam gleich darauf mit
Hut und Paletot ins Speisezimmer zurück, auf dessen
Erkerestrade Frau Hella über eine Leinenstickerei
gebeugt sah.

„Adieu, Liebling", sagte er eilfertig und neigte
sich vor, um sie zu küssen; sie aber senkte tvie unab-
sichtlich den feinen Kopf noch etwas tiefer, so das;
seine Lippen nur ihr krauses, blondes Stirnhaar
streiften. Er that nicht, als ob er es bemerkte, und
wandte sich zum Gehen.

„Wann kommst Du zum Abendbrod?"

„Ich knnn's wirklich nicht genau sagen, — wohl
kaum später als halb neun. Auf Wiedersehen!" —

Sie hörte ihn die Corridorthür hinter sich zu-
klappen und sah ihn drunten noch über die Straße
gehen und um die nächste Ecke biegen.

Dann nahm sie die unterbrochene Arbeit wieder
ans, aber der kurze Wintertag fing schon an, zur
Neige zu gehen, und die seine Nadelarbeit ermüdete
ihre Augen.

Sie wollte lesen, so lange es noch hell genug
tvar, und griff nach dem französischen Nomanbande
— Franpois Coppse — der hinter ihrem Arbeits-
korbe lag. Otto hatte ihn tags vorher von seinem
Buchhändler als besonders interessante Neuheit mit-
gebracht. Aber das Buch war noch nicht ausge-
schnitten, und sie muhte wohl oder übet aufstehen,
um im Arbeitszimmer ihres Mannes ein Falzmesscr
zu holen.

Mit etlvas müden, schleppenden Schritten ging
sie durch die beiden Zimmer zu Ottos Schreibtisch,
der drinnen zunächst dem einen Fenster stand. Zu
suchen brauchte sie nicht lange: es herrschte immer
so Peinliche Ordnung auf dem großen, mit rost-
braunem Tuch beschlagenen Diplomatcntisch, daß
hier kaum jemand die tägliche Werkstatt eines fleißigen
Arbeiters vermuthet hätte.

Ihr Blick fiel auf ein paar frisch beschriebene
Quartblätter, die auf der breiten, schwarzen Schreib-
mappe lagen. Es schien das Manuscript zu sein,
an dem er vorhin noch gearbeitet hatte. Sonst
war es nicht seine Art, derlei offen liegen zu lassen;
er liebte es nicht, von „ungelegten Eiern" zu sprechen,
wie er sich ausdrückte, und war einmal ganz nervös
geworden, als er bemerkte, daß sie ihm während
des Schreibens über die Schulter sah. Aber in der

Hast des Fortgehens vorhin schien er vergessen zu
haben, die Blätter wie gewöhnlich tvcgzuschließen.

In einem Anflug von Neugier lieh sie sich auf
dem lederbezogenen venetianischen Sessel nieder, der
vor dein Schreibtische stand, und nahm eines der
Blätter zur Hand, um zu lesen . . .

Es war eine moderne Gesellschastsnovelle von
der Art, wie er schon eine ganze Reihe geschrieben
hatte. Von Beruf war er ja niemals Schriftsteller
gewesen. Die große Versicherungsgesellschaft, die
ihn trotz seiner jungen Jahre schon zu einem hohen
Vertrauensposten in ihrer Direktion berufen hatte,
nahm seine Zeit und seinen Kopf zum größten Tdeil
in Anspruch. Aber er betrachtete es als eine Er-
holung, in bureaufreien Stunden sein novellistisches
Talent zu üben, und seine Arbeiten pflegten gerne
genommen und gelesen zu werden. Was ihnen an
Originalität und Tiefe der Erfindung abging, er-
setzten sie durch die Abrundung der Form und eine
geschmackvolle, gewählte Sprache. Immer schrieb er
so, daß jedes Familienjournal seinen Beiträgen ohne
Skrupel Aufnahme geivähren konnte.

Frau Hellas Augen schweiften flüchtig über die
gleichmäßig eng geschriebenen Zeilen, in denen nur
ganz selten irgendwo eine kleine Correktur vorkam.
Sic las mitten heraus aus der Geschichte, doch ließ
sich leicht erkennen, daß es sich um die Liebe eines
jungen Musikers zu einem Mädchen handelte, das
als einzige Stütze des erblindeten Vaters die unge-
stüme Werbung des Geliebten um ihre Hand heroisch
ausgeschlagen hat. Der leidenschaftliche Künstler
aber will diesen Grund ihrer Entsagung nicht gelten
lassen und sucht ihr in einem Briefe zu beweisen,
daß auch Pietät und Kindcspflicht nicht bis zur
Sclbstvernichtung getrieben werden dürsten.

„ . Was Dir heute als heldenmüthige Groß-

that erscheint, geliebtes Herz, wird Dir in wenigen
Jahren, wenn nicht schon viel früher, die bittersten
Selbstvorwürfe und Seelenqualcn bereiten. Du
kannst, Du darfst, Du sollst nicht um eines allzu
schroff erfaßten, eingebildeten Imperativs willen
Dein junges Lebensglück freiwillig auf immer von
Dir werfen — und das meinige dazu! .. Du, Du
mein einziges, stolzes, tapferes Lieb, — Du ahnst
ja nicht, wie ich mich todtsehne nach Dir in Tagen
und endlosen Nächten, wie ich mich tvund quäle in
schmerzlichem, brennendem Verlangen nach Deiner
Nähe, wie der Gedanke an Dich und unsere Zu-
kunft mich kaum aus Minuten noch verläßt! — Dir,
Dir, Dir Glück zu schassen, Sonne, Licht und Glanz
in Dein Leben zu tragen, ist das höchste und einzige
Ziel, was mich fernerhin noch zum Schaffen be-
geistert, — durch Dich könnte ich groß und frei und
ein Schöpfer werden, — ohne Dich blieb' ich ewig
ein Stümper und Halbkönner, wie tausend Andere!
— Meine Muse sollst Du sein, meine künstlerische
Seele und mein treuer, guter Kamerad .. ."

Hier brach die Handschrift ab. Frau Hella ließ
das Blatt arif die Tischplatte sinken und stützte die
weiße Stirn auf die verschlungenen Hände.

Wie sie diese Schrift und diese Töne kannte!
Um mehr als ein Jahr trug die Erinnerung daran
sie zurück. Das war dasselbe stürmische Werben in
Worten, das ihr einst so oft das Blut in heißen,
jähen Wellen durch alle Pulse getrieben hatte! Ihre
ganze, heimliche Mädchenseligkeit, all ihre grenzen-
lose Hoffnung waren sie gewesen — seine Briefe,
die er ihr als Verlobter geschrieben und die jetzt
drüben in einem Fache ihres kleinen Schreibtisches
ungestört verblaßten und vergilbten! Wie hatte sie
ihn durstig geschlürft, den Trank verzehrenderLeiden-
scbast, den er ihr in diesen täglich erneuten Bekennt-
nissen seiner Liebe bot, wie sich berauscht an den
Vorstellungen einer nahen, beglückenden Wirklich-
keit! ... Und >vie schmählich-bitter war ihr Träumen
betrogen gewesen, als diese Wirklichkeit dann sich
einstellte! ... Hoch über Raum und Zeit entrückt
zu werden in ein Nirwana, einen seligen Vergessen-
heitstaumel, hatte sie erwartet und gewähnt, daß
der Mann, dem so lange ihr Besitz als ein kaum
tragbares Glücksübermaß erschienen war, sich nicht
zu lassen wüßte vor trunkenem, stolzem Jubel ...
und nun? — Es >var ein Sturz aus allen Höhen
getvesen. Warme Zuneigung — liebevolle Zärtlich-
keit, und wie die matten Surrogate ächter Leiden-
schaft alle heißen mochten ... das ward ihr Theil;
laue, wohltemperirte Gefühlswärme und jene gewisse
philiströse Herzlichkeit, wie sie zwischen sehr lange
verheiratheten und kinderlos gebliebenen Gatten
heimisch zu sein pflegt . .. Statt des zuckenden, über-
wältigenden Gewitterschauers, nach dem ihr unge-
zähmtes Herz sich in Sehnsucht verzehrt gehabt,
— — ein einförmiger Landregen! Ein wohlge-
pflegtes und umhegtes Gartetilaud statt der roman-
tischen Wildniß, in die sie ihre voreilige Phantasie
schon entführt hatte! . ..

Monate hindurch wehrte sie sich wie eine Ver-
zweifelnde gegen den Gedanken, daß sie wirklich den
Einsatz ihres Lebensglücks, auf einer falschen Karte
verspielt und verthan haben sollte; und als schließ-
lich die Gewißheit nicht mehr zu erschüttern war—,
o, wie hatte sie in wildem Hader mit sich und ihrem
Gott gelegen und die armselige, flüchtige Stunde
verwünscht, in der sich das Schicksal gegen sie ent-
schieden, — bis endlich langsam der Aufruhr ihres
Innern sich gelegt und einer Art seelenloser Apathie
den Platz geräumt hatte Seitdem war etwas ge-
storben in ihr, und sie fühlte, daß ihre Seele flügel-
lahm und eines Aufschwungs nicht mehr fähig fei.

Und daß solche grenzenlose Täuschung überhaupt
denkbar, menschenmöglich sein konnte — noch nie
zuvor hatte sie den Grund so erschreckend, so blitz-
artig klar erkannt, als eben jetzt nach den wenigen
Zeilen, die sie gelesen . . . Solche Sprache zittern-
der, verhaltener Leidenschaft konnte er schreiben, ohne
mit einer Fiber zu zucken! Das floß ihm Alles
glatt und fast geschäftsmäßig aus der stilgeübten
Feder, ohne daß sein Herz etwas davon erfuhr!
So gelassen und bei vollstem Seelengleichgewicht
hatte er auch die Briefe an sie, seine Braut, ge-

julius Diez

jÜbenteuef einer lischt: die jjbreisd
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Julius Diez: Abenteuer einer Nacht: Die Abreise
Josef Ettlinger: Der gute Stil
 
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