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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 50 (??. Dezember 1900)
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Nr. 50

JUGEND

1900

Momentbilder sub specie aeternitatis

Spuren im Life

Ich ftcinb am Ufer eines zugefrorenen Teiches und sah
den Exerzitien eines Schlittschuhläufers zu. Er war weit
über den Anfang hinaus und mit einer Hingebung, wie
sie bei wenigen Bestrebungen des Lebens um so idealer
Ziele willen eingesetzt wird — warb er um wechselnde
Wendungen und Windungen, Verschlingungen und Rück-
läufigkeiten seiner Kurven. Aber noch gelangen sie nicht
leicht und sicher. Die Kniee bogen und steiften sich in
unrühmlicher Abhängigkeit, die Arme griffen in die Luft
nach einem imaginären Gegengewicht umher, der Körper
ließ sich wie mit schwerfälliger Widerwilligkeit die Linie
entlang ziehen, die der Geist ihm vorschrieb. Ich wandte
mich von dem anmuthlosen Schauspiel ab und nach einer
Weile zurückkehrend, fand ich die Bahn leer und stieg
selbst hinab. Und siehe da, die Spuren, die jener Läufer
dem Eise eingeritzt hatte, waren die entzückendsten, an-
muthigsten Formen, von einem Schwung und einer
Freiheit wie die Linien, die ein Vogel durch die Luft zieht.

Dabei kam es wie ein Glück über mich, daß so etwas
doch möglich ist: daß wir unter aller Plumpheit, allem
Ungeschick, allem Schwanken unserer Bewegung doch mit
einer äußersten Spitze eine Linie auswirken können,
deren schlanke und leichte Spur nichts von der Unzu-
länglichkeit unseres Gesammtanblicks weiß. Und ob wir
das wirklich nur mit den Füßen können? Ob nicht
auch nach oben hin, während mir täppisch und gleich-
gewichtslos dahintaumeln, das Aeußerste unserer Seele
eine Spur hinterläßt, von deren Reiz und Werth uns,
während wir sie beschreiben, nichts anzusehen ist, die
aber ein Gott zu erkennen, sich an ihr zu freuen wüßte?

Blüthenverschwendung

Der Frühling war ganz jung und herb und die
Obstbäume, die voller Blüthen, aber noch ohne Blätter
standen, beschatteten unfern Weg mit durchbrochenen
Mustern wie mit venezianischen Spitzen. Rings umher
lagen noch unzählige Blüthen, abgeweht, von stärkeren
Nebenbuhlern verdrängt, und doch nicht so unbestreitbar
todt, wie todte Vögel es sind. Denn vielleicht, weil
die Pflanze nicht so lebendig ist wie das Thier, scheidet
sich Leben und Tod ihr nicht mit so plötzlicher Grenze:
sie hat nicht so viel zu sterben. Und der Freund begann:
„Man hat doch manchmal das unwiderstehliche Bedürf-
niß, etwas Triviales zu sagen. Das ist unser Waffen-
stillstand mit der Welt, denn alle Originalität ist doch

nur ein Kannst gegen die Welt — vielleicht sogar gegen
die Wahrheit, von der wir uns nicht wollen vergewal-
tigen lassen. Kurz, ich muß es wieder einmal sentimen-
tal bedauern, daß tausende von Blüthen umkommen
müssen, damit wenige zur Frucht kommen, daß die
Natur für jedes Wesen, das sich auslebt, erst Hekatomben
anderer, zu gleichem Anspruch erzeugter, opfern muß!"

Und ich: „Nein, die einzige Freude, die man an
der Trivialität hat, ist, daß sie so oft falsch ist, denn
wäre sie auch noch richtig, so würde sie einen ganz
zur Verzweiflung bringen. Nichts in der Welt kann mich
überzeugen, daß jede abgerissene Blüthe, all das in der
Welt, was den Frühlingstod stirbt, zu Anderem und
Besserem bestimmt war! Das ist nur eine anspruchs-
volle Verlängerung der Einzeldinge über die Rolle
hinaus, die ihnen im Zusammenhangs des Ganzen zn-
kommt. Womit erweist das früh Gewelkte, daß es hätte
Früchte tragen können? Wenn es wirklich gekonnt
hätte, so hätte es sie auch gebracht. Wie jenes andere
mit der Länge, so hat dieses mit der Kürze seines Daseins
dessen Schönheit nicht minder erfüllt und nicht über sie
hinausbegehrt. Wer sagt uns, daß die Blüthen ver-
schwendet sind, weil sie nicht zu dem Ende kommen, das
dem Obstbauer nützlich ist? Nein, den Vorzug, etwas
zum Fenster hinauswerfen zu können, hat nur der
Mensch."

„Das Letzte find' ich etwas unvorsichtig," sagte der
Andere. „Wenn wir die Natur schon von dem Vorwurf
entlasten, Verschwendung zu treiben, so können wir
davon doch selbst profitiren und all die Verschwendung
der Kräfte und Jahre für etwas ebenso Schönes, Volles,
Nothwendiges halten, wie das Bischen von unserm Ich,
das sich entwickelt hat. Ist es nicht eine ebenso phan-
tastische Anmaßung, daß ich zu Besserem bestimmt ge-
wesen sei, als wirklich aus mir geworden ist? Haben
meine Kräfte nicht, wo sie abstarben, ihre Rolle ebenso
zu Ende gespielt, wie wo sie Frucht trugen? Hat Ihre
Theorie hierfür keinen Platz?"

„Ich will einmal Nachsehen," sagte ich.

wenig Kuchen

Ich besuchte mit meinem Sohn eine sehr verehrte
■ J Freundin an dem Abend ihres Geburtstages. „Wieviele
y y Gratulanten sind heute schon bei Ihnen gewesen I" sagte
ich im Eintreten. „Man sieht es an den vielen Blumen."
„Ja," sagte Hans, „und an dem wenigen Kuchen!" —
Emil Spatz Das traf mich tief und erschloß mir ein Stück
(München) Menschlichkeit, an das ich nie gedacht hatte und das

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G. S.: Momentbilder sub specie aeternitatis
Emil Spatz: Zierleiste
 
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