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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 51 (??. Dezember 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0403
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Nr. 51

. JUGEND

1900

Vorkei —

Meine Liebe war wie Maienbkuft,

(Wie -NKendroth so tief,

Ko rein unL stiK wie junger Tag -—
Ein VinL, Las träumend fchkief.

Meine Liebe war wie Metterzorn
Ein Ädkerftug 511m Licht —

Ein (Wutstrom, Ler aus ^ekfenfchacht
Kich macht'ge (Kähnen bricht! —

Meine Liebe ging nun längst zur Kuh;
Meine arme todte Lieb! —

Der junge Mai? Der Aonnenfl'ug?
Mer sagt mir, wo Las bkieb ?

Heime von Schweinitz

Schönheit ist Ketzerei

JMUir leiden hart unter der Schule. Unter ihrem
W Zuviel und Zuwenig. Zuviel des Wort-
krams, des leeren Allerweltwissens, der eingebildeten
Rechthaberei. Zuwenig der lebendigen Erkennt-
uiß, der befeuernden Sinnlichkeit, der Anregung
schöpferischer Kraft, der Freude am Nächstwirken-
den, des Muthes zuni Eigenen. Und die Schule
gehört noch nicht einmal sich selbst und macht
ihre Fragwürdigkeiten nicht aus eigenem Genie
und auf ihre Gefahr und Rechnung: wie viele
fremde Einflüsse und Rücksichten pfuschen ihr ins
Hirn- und Handwerk!

Besonders in allem Künstlerischen herrscht
noch viel zu viel der alte Trichter. Mächtige
Widersinnigkeiten müssen sich die jungen Köpfe
eingießen lassen. Die rächen sich dann dadurch,
daß sie hochfahrend und absprecherisch werden in
all' den feinen, fließenden Dingen, die sich nur
mit unendlicher Liebe und Geduld fassen lassen.
Die Kunst weiß ein traurig Lied davon zu singen
in deutschen Landen, wo alle Welt so
schulgeschcidt ist und so autoritätssüchtig.

Was ist Schönheit?

Darüber wird noch mehr gesalbadert,
gestritten, festgestellt und infallibel dog-
matisirt, als über die Frage: Was ist
Wahrheit?

„Wenn Jhr's nicht fühlt, Ihr werdet's
nie erjagen" --

Der Schönheitsbegriff ist eine wissen-
schaftliche Konstruktion im besten Falle,
also etwas rein, aber nicht immer rein-
lich Theoretisches. Eine Worthülse, eine
Phrascntasche, in die jeder etwas anderes
hineinsteckt und herausschmeckt. Und die
Kältesten, die am wenigsten Sehnsucht
nach Schönheit und gar kein Gefühl für
die Freiheit der sonnenwandernden Seele
haben, schreien und dekretiren am lau-
testen: Das ist das Alleinechtei Damit
will ich Euch Anderen Mores lehren!

In der chinesisch ummauerten Schule
gibts selbstverständlich immer nur einen
Schönhcitsbegriff, einen einzigen und ab-
soluten. Außerhalb China, in Gottes freier,
ewig sich verjüngender und neugebärender
Welt, gibt es so viele Schönheitsbegriffe,
als es Gehirne und wechselnde Sehn-

sucht nach Schönheit gibt und Kunstmüchtige, sie
leiben und leben zu lassen.

Lehrte man je, daß der Begriff des Schönen
ewig beweglich und fließend sei? Knüpfte man
je daran die edle Vernünftigkeit, wenn nicht Ehr-
furcht, so doch Toleranz zu predigen allem Schönen
gegenüber und den Künstlern ihre göttliche Frei-
heit zu gönnen?

Aber aller Enge und Härte der Schuldogmatik
zum Trotz: Schönheit und Kunst bleiben selbst-
herrlich in alle Ewigkeit, und es wird niemals
gelingen, für einen gegebenen Schönheitsbegriff
allgemeine Giltigkeit und Verbindlichkeit zu er-
zwingen. In jeder philosophischen, ästhetischen,
ethischen oder gar theologischen Weltanschauung
wird er anders erklärt werden. Die Zeichendeuter
und die in Worten »nd Formeln kramen, werden
stets ihre liebe Noth mit ihm haben. Goetheisch
zu reden: Das Beste dürfen sie den Buben doch
nicht sagen: Im Anfang war das Geschlecht.
So bleibt unerschütterlich auch die Grundlage
aller künstlerischen Schönheitszeugung: Das omni-
potente Geschlechtsgefühl. Der Ausbau eines
einigermaßen brauchbaren Schönheitsbegriffs be
ruht auf beidem: Der Lust des Geschlechtsbewnßt-
seins, der Kraft des zeugungstüchtigen Kunsttriebes.
Liebe und Kunst haben als gemeinsame Wurzel
des Menschen göttliche Nothdurft und Seligkeit,
die Art zu erhalten und immer höher zu bringen
in Schönheit. So deckt sich vollkommenes Leben
mit vollendeter Schönheit und natürlicher Ge-
sundheit.

Die Kunstwerke einer bestimmten Zeit, und
darin in erster Linie die bevorzugten menschlichen
Idealfiguren der jeweilig anerkannten Meister,
zeigen uns, wie cs mit der göttlichen Nothdurft
der Menschen dieser Zeit bestellt war. Alle mysti-
schen Träume in Ehren und alle symbolistischen
Visionen: Künstler fallen nicht vom Himmel.
Mag ihre Phantasie in allen Fernen Bescheid
wissen und den Kosmos mit blauen Wundern
bevölkern, die Künstler selbst sind nur das ver-
feinertste Organ, der vorgeschobenste Posten der
Seelen- und Lendenkraft der Menschheit einer ge-
gebenen Zeit. Ihr Blut ist der stärkste Saft.
Aus ihm blüht in sinnfälliger Pracht und Bild-

form, was bei den Andern zu anderer Aussprache
sich fügt. Die Künstler allein richten vor unfern
Augen den entscheidenden Schönheitstypus ihrer
Zeit auf. Sie allein finden die überzeugende,
weithin leuchtende Formel für den Schönhcits-
begriff ihrer Zeitgenossen. Die Dauer der Formel,
ihre Wirkung auf die folgenden Geschlechter hängt
ab von der Summe der suggestiven Eindrucks-
momente. Die Schönheitsformel der Antike be-
herrscht durch die beispiellose Höhe dieser Summe
heute noch alle anderen. Die Neberlieferung und
systematische, verzückte Propaganda durch die klas-
sische Schulung der studirenden Jugend brächte das
nicht allein fertig.

Der Künstler gibt uns also das Maß und
Ziel der Schönheit seiner Zeit. Sein Normal-
mensch ist ein Zeittypus. Als solcher ist er der
Entwicklung, der Variation durch unzählige feinere
und gröbere Abstufungen unterworfen. Alles
Individuelle arbeitet unablässig an seiner Ver-
änderung. Je reicher eine Zeit an Individuali-
tät, desto stärker die Veränderung. Was ist In-
dividualität im Grunde? Die Abweichung vom
Schenia, die ausgesprochen ketzerische Nüance, die
revolutionäre Essenz als Reaktion wider den dog-
matisirten normalen Menschen in allen Formen
des Auslebens, der Protest wider die Verdumm-
ung durch den Heerdengeist.

Worin besteht für uns die charakteristische
Schönheit eines gesund entwickelten Menschen, sei
er Mann oder Weib? Sicher nicht in dem, was
er mit dem Dutzend, mit dem Hundert, dem Tau-
send gemeinsam hat, sondern in dem Reiz, der
ihm persönlich eignet. In seinem Anders- und
Fürsichsein. In dem ausgearbeiteten Muth, er
selbst zu sein. In seiner eigenen Prägung und
Werthrmg. Unbekümmert um die aufgestellten
Muster und ihre öffentliche Konzessionirung. Im
resoluten Jasagen zu sich selbst — mit allen Kon-
sequenzen. Entgegen aller uniformistischen Staats-
raison.

So wäre also alles Persönlich-Starke, Indi-
viduell-Schöne mit allen anhaftenden Reizen fin-
den künstlerisch gearteten Menschen im Grunde
beschlossen in der Abweichung von Regel und
Gesetz? Gewiß. Die echte Schönheit ein Spott
auf die hohe Obrigkeit gemeingiltiger An-
schauungen und Tugenden? Aber ja!
Und paradox ließe sich das so ansdrücken:
Die Schönheit eines Menschen liegt in
seinen Fehlern? Ganz gewiß — warum
denn nicht? Die Schönheit eines Men-
schen liegt in seinen Fehlern, wie die
Tugend eines Menschen in seiner aparten
Sündhaftigkeit. Da wir ja doch einmal,
laut Bibel und Kirchenlehre, „allzumal
Sünder" sind und „des Ruhmes mangeln,
den wir vor Gott haben sollen."

Schönheit ist Ketzerei, das wird uns
schließlich jeder fromme Gottesmann be-
stätigen. Nur legen wir gar so großen
Werth nicht darauf, daß er's uns be-
stätigt. Wir wissen selbst, wo Barthel
den Most holt.

Es bleibt dabei: Die seltensten und
köstlichsten Schönheitswerthe erblühen uns
außerhalb des Gesetzes, der Regel, des
Dogmas. Sie sind der göttliche Wild-
wuchs im Paradiese der Freiheit. Je
höher die Kulturstufe, je reicher an Eigen-
willigkeit, Kraft und Lust der schöpferische
Mensch, desto mannigfaltiger und herr-
licher die Offenbarungen der Schönheit
— und desto diabolischer die Unter-

D a r w i n i a n c ts A. Hofer (München)

„prost — auf unsre Epigonen!"

8;o
Register
Helene v. Schweinitz: Vorbei
Michael Georg Conrad: Schönheit ist Ketzerei
Adolf Höfer: Darwinianer
 
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