Nr. 52
JUGEND
1900
E. L. Hoess (Immenstadt)
frau Holle
Divan sitzen die zwei Mädchen, denen diese nächtliche Welt gehört. Sie
haben Reklambändchen vor sich liegen, aus welchen sie ihrem Gedächtniß
nachhelfen. Es wird „Preziosa" gegeben.
Die Papierstguren sind die imaginären Schauspieler, welche durch
den Mund der Mädchen sprechen. Die Braune mit den fanatischen Augen
spricht und spielt den Alonzo, die Blonde mit der leisen, süßen Stimme
die Preziosa. Sie haben durch lange llebung eine große Virtuosität er-
langt und der Ausdruck ihrer blassen, erregten Gesichter verräth den
Ernst und die Leidenschaft, mit welcher sie sich dein Spiel hingeben.
Hier ist das Reich der Trämue, in welchem das Ideal herrscht, jedes
Gefühl poetische Gestaltung findet und die Phantasie ihre wilden Blüthen
treibt. Geheime Gedanken, welche die Wirklichkeit fliehen, kleiden sich in
die bunten Flitter der Märchemvelt und entfalten ihre Schwingen zum
berauschenden Flug durch alle Stimmungen: lachend frohe, wehmüthig
müde, verzweifelte, todestraurige. Furchtlos wagt sich hervor, was der
Tag verborgen, und schafft die phantastische Wunderwelt, in welcher
strahlend die Schönheit cinhergeht, nach der die hungernde Seele in
unbestimmter Sehnsucht verlangt.
Von den beiden Mädchen ist die Wirklichkeit abgefallen. Sie sind
ganz Alonzo und Preziosa. Jeder Nerv spannt sich in der heißen Leiden-
schaft des Augenblicks,.jede Blutwelle fiebert im Rausch der Begeisterung
über sich selbst. Wenn ein Akt zu Ende ist, schon sie sich an, lehnen
das Haupt zurück und lauschen dem entfliehenden Klang ihrer Worte.
Dann aber werfen sie mit vor Aufregung zitternden Händen die Sträuß-
chen den bemalten Puppen zu, welche sich zum Tank verneigen müssen.
Während die Dekoration geändert wird, ergehen sie sich in Worten der
Anerkennung über ihre Leistung.
Allmählich werden ihre Stimmen leiser und matter. Die Phantasie
hat sie abgehetzt und sie finden kein Feuer und keine Leidenschaft mehr.
Irgendwo schlägt eine Uhr vier. Die Blonde lauscht erschreckt,
streicht mit ihren nervösen Händen die schweren, aschfarbenen Locken
aus der Stirn und löscht die Kerze. Die Braune breitet ein Tuch über
all' die bunte Herrlichkeit.
„Morgen ist Maria Stuart!" sagt sie dabei.
Fröstelnd und fiebernd kriecht die Blonde in's Bett.
Phantasma! Johanne Boysen
Feierabend
Sin Lebensmarchen von Rudolf Greinz
Der alte Lapitano hatte nur einen einzigen Freund gehabt. Und
der war wohl längst gestorben. Als das Schiff scheiterte, sahen sie
sich vor Jahren 311m letztenmal. Seitdem hatte Don vineenzo von
seinem Freunde Amadco nichts inehr gehört.
Der Tapitano war recht alt und gebrechlich geworden. Hur den
weg zu einer kleinen benachbarten Gsteria am Posilippo ließ er sich
keinen Abend verdrießen. Dort saß er auch heute als der einzige Gast
und schaute hinaus auf das Neer, iu dessen sxiegclklaren, kaum von
einem Windhauch bewegten Fluthcn das rothe Sonnengold allmählich
fern verzitterte. Schattenhaft wurden die Linien der Inseln draußen,
immer verschwommener die llmriffc der näher gelegenen Häuser, Pfade
und Gärten. In die Nacht hinübcrgleitende Däminernng. Fast ver-
schollen drang der Lärm aus den Straßen Neapels nach der stillen
Gsteria. Der wirth hatte ein windlicht auf den Tisch im Garten
gestellt, an dein der Tapitano saß und feinen schweren rotheu wein
schlürfte. Dann zog er sich wieder in beit Schankraum der Taverne
zurück, um dort ein Schläfcben zu machen.
Don Oincenzo wandte seine Blicke mit gespannter Aufmerksamkeit
gegen den Eingang des kleinen Gartens. Er war sich nicht klar, was
ihn an dem zerbröckelten Mauerpfeiler dort drüben fesselte. Seine
ganze Umgebung begann ihm bei offenen dingen zu verschwimmen
und doch wieder für Momente ganz deutlich wahrnehmende Formen
anzunehmen. Seine Brust hob sich mühsam, wie wurde doch das
Athmen schwer in dieser lauen, mit fetten Blumendüftcn gcschwänger
tcn Luft, unter diesem Himmel, der auf ihn niederzudrücken schien
mit seiner ganzen unermeßlichen Ausdehnung ...
Da war es dem alten Mann plötzlich, als wenn aus der tiefen
Dämmerung über die Gartenstiege die Gestalt eines Fremden käme.
Der späte Gast trug eine Seemannsjacke. Er bewegte sich langsam
quer über den Garten bis zu dem Sitz des Eapitano. Dort ließ er
sich schweigend auf einem Stuhle nieder. Der alte Mann beugte sich
über den Tisch und sah dem Besucher in's Gesicht. (Ein. heiserer,
halb unterdrückter Aufschrei rang sich von seinen Lippen. „Amadeo!"
rief er. „Bist Dn's wirklich, mein Freund!"
„Ich bin es!" sagte der Andere, ohne sich zu regen.
„Du bist also nicht tobt!" sagte der alte Mann freudig.
„Ich bin cs!" cntgcgnete sein Gesellschafter ebenso unbeweglich.
JUGEND
1900
E. L. Hoess (Immenstadt)
frau Holle
Divan sitzen die zwei Mädchen, denen diese nächtliche Welt gehört. Sie
haben Reklambändchen vor sich liegen, aus welchen sie ihrem Gedächtniß
nachhelfen. Es wird „Preziosa" gegeben.
Die Papierstguren sind die imaginären Schauspieler, welche durch
den Mund der Mädchen sprechen. Die Braune mit den fanatischen Augen
spricht und spielt den Alonzo, die Blonde mit der leisen, süßen Stimme
die Preziosa. Sie haben durch lange llebung eine große Virtuosität er-
langt und der Ausdruck ihrer blassen, erregten Gesichter verräth den
Ernst und die Leidenschaft, mit welcher sie sich dein Spiel hingeben.
Hier ist das Reich der Trämue, in welchem das Ideal herrscht, jedes
Gefühl poetische Gestaltung findet und die Phantasie ihre wilden Blüthen
treibt. Geheime Gedanken, welche die Wirklichkeit fliehen, kleiden sich in
die bunten Flitter der Märchemvelt und entfalten ihre Schwingen zum
berauschenden Flug durch alle Stimmungen: lachend frohe, wehmüthig
müde, verzweifelte, todestraurige. Furchtlos wagt sich hervor, was der
Tag verborgen, und schafft die phantastische Wunderwelt, in welcher
strahlend die Schönheit cinhergeht, nach der die hungernde Seele in
unbestimmter Sehnsucht verlangt.
Von den beiden Mädchen ist die Wirklichkeit abgefallen. Sie sind
ganz Alonzo und Preziosa. Jeder Nerv spannt sich in der heißen Leiden-
schaft des Augenblicks,.jede Blutwelle fiebert im Rausch der Begeisterung
über sich selbst. Wenn ein Akt zu Ende ist, schon sie sich an, lehnen
das Haupt zurück und lauschen dem entfliehenden Klang ihrer Worte.
Dann aber werfen sie mit vor Aufregung zitternden Händen die Sträuß-
chen den bemalten Puppen zu, welche sich zum Tank verneigen müssen.
Während die Dekoration geändert wird, ergehen sie sich in Worten der
Anerkennung über ihre Leistung.
Allmählich werden ihre Stimmen leiser und matter. Die Phantasie
hat sie abgehetzt und sie finden kein Feuer und keine Leidenschaft mehr.
Irgendwo schlägt eine Uhr vier. Die Blonde lauscht erschreckt,
streicht mit ihren nervösen Händen die schweren, aschfarbenen Locken
aus der Stirn und löscht die Kerze. Die Braune breitet ein Tuch über
all' die bunte Herrlichkeit.
„Morgen ist Maria Stuart!" sagt sie dabei.
Fröstelnd und fiebernd kriecht die Blonde in's Bett.
Phantasma! Johanne Boysen
Feierabend
Sin Lebensmarchen von Rudolf Greinz
Der alte Lapitano hatte nur einen einzigen Freund gehabt. Und
der war wohl längst gestorben. Als das Schiff scheiterte, sahen sie
sich vor Jahren 311m letztenmal. Seitdem hatte Don vineenzo von
seinem Freunde Amadco nichts inehr gehört.
Der Tapitano war recht alt und gebrechlich geworden. Hur den
weg zu einer kleinen benachbarten Gsteria am Posilippo ließ er sich
keinen Abend verdrießen. Dort saß er auch heute als der einzige Gast
und schaute hinaus auf das Neer, iu dessen sxiegclklaren, kaum von
einem Windhauch bewegten Fluthcn das rothe Sonnengold allmählich
fern verzitterte. Schattenhaft wurden die Linien der Inseln draußen,
immer verschwommener die llmriffc der näher gelegenen Häuser, Pfade
und Gärten. In die Nacht hinübcrgleitende Däminernng. Fast ver-
schollen drang der Lärm aus den Straßen Neapels nach der stillen
Gsteria. Der wirth hatte ein windlicht auf den Tisch im Garten
gestellt, an dein der Tapitano saß und feinen schweren rotheu wein
schlürfte. Dann zog er sich wieder in beit Schankraum der Taverne
zurück, um dort ein Schläfcben zu machen.
Don Oincenzo wandte seine Blicke mit gespannter Aufmerksamkeit
gegen den Eingang des kleinen Gartens. Er war sich nicht klar, was
ihn an dem zerbröckelten Mauerpfeiler dort drüben fesselte. Seine
ganze Umgebung begann ihm bei offenen dingen zu verschwimmen
und doch wieder für Momente ganz deutlich wahrnehmende Formen
anzunehmen. Seine Brust hob sich mühsam, wie wurde doch das
Athmen schwer in dieser lauen, mit fetten Blumendüftcn gcschwänger
tcn Luft, unter diesem Himmel, der auf ihn niederzudrücken schien
mit seiner ganzen unermeßlichen Ausdehnung ...
Da war es dem alten Mann plötzlich, als wenn aus der tiefen
Dämmerung über die Gartenstiege die Gestalt eines Fremden käme.
Der späte Gast trug eine Seemannsjacke. Er bewegte sich langsam
quer über den Garten bis zu dem Sitz des Eapitano. Dort ließ er
sich schweigend auf einem Stuhle nieder. Der alte Mann beugte sich
über den Tisch und sah dem Besucher in's Gesicht. (Ein. heiserer,
halb unterdrückter Aufschrei rang sich von seinen Lippen. „Amadeo!"
rief er. „Bist Dn's wirklich, mein Freund!"
„Ich bin es!" sagte der Andere, ohne sich zu regen.
„Du bist also nicht tobt!" sagte der alte Mann freudig.
„Ich bin cs!" cntgcgnete sein Gesellschafter ebenso unbeweglich.