1900
JUGEND
Nr. 52
XJXU
Der alte Mann schien die Antwort überhört zu haben. Geraume
Zeit herrschte Schweigen zwischen den Beiden. Dann sagte der An-
kömmling: „Gut rasten hier, Vineenzo, wenn über Meer und Land
der Feierabend dämmert. So geht auch jeder Lebenstag zur Neige.
Und allenr Menschlichen steigt sein Feierabend nieder, hoch vom Entm-
inet her. . . Wenn einst sieb still die Seele schließt wie eine müde
Blume. . . Wenn mit eingerafften Segeln all die Schiffe langsam
ländcii an dem Port der Ewigkeit . . . Selig sind, die zu Gottes paus
ihre schwanken Kiele lenken durch die Dämmerung zwischen Tod und
Ewigkeit. . . durch des Lebens Feierabend bis zu jenem Licht, das
nie verschlungen wird von einer Erdennacht . . ." Der Besucher sprach
diese Worte mit einer tiefen, feierlichen und eindringlichen Stimme.
Der alte Mann hatte ihm mit ehrfürchtigem Schweigen zugehört.
„Ich weiß, mich trennt nur mehr eine kurze Spanne von der letzten
Fahrt!" sprach er halblaut vor sich hin. „Aber warum so traurig,
Amadeo?"
Der Freund lachte kurz auf. Dann meinte er plötzlich ganz un-
vermittelt: „Wollen wir nicht mit einander würfeln?" Dabei hatte
er schon einen ledernen Becher aus der Jacke gezogen und ließ die
Würfel in deniselben klappern, „Wir haben noch ein Spiel zu voll-
enden, vineenzo. Als wir das letztemal beim Würfeln faßen, mußten
wir das Spiel unentschieden lassen. Du aber bist mir den Einsatz
schuldig geblieben!"
„Ganz recht!" erinnerte sich der Lapitano. „Ich bewundere Dein
Gedächtniß."
„Mein Gedächtniß?" lächelte der Seemann sarkastisch. „Mein
Gedächtniß ist freilich das beste in dieser Welt. Denn ich habe noch
Niemand vergessen." Dabei erfaßte er mit rauher pand den Becher
und streute die Knöchel über den Tisch. Zwölf Augen.
Zitternd faßte der alte Mann nach dem Würfelbecher. Er warf
nur fünf Augen.
„Um was spielen wir?" fragte da der Andere.
„Bestimme Du den Einsatz, Amadeo!"
„Gut! Spielen wir um Dein Leben!" lächelte der Freund.
„Um mein Leben?" meinte der alte Mann erstaunt und sah
seinem Gegenüber erschrocken in's Gesicht. Es war nicht Amadeo,
und es war wieder Amadeo. Und dennoch schienen die Augen des
Mannes ganz anders zu fein, als die seines verschollenen Freundes.
Diese Augen hatte der späte Gast fest auf den Eapitano geheftet,
als ob er ihn mit seinem Blick bannen wollte. Augen so tief wie
Felsenhöhlen am Strand, in die sich gurgelnde Brandung ergießt.
Augen mit flackerndem Leuchten wie der von stnrmgepeitschter Fluth
widerspiegelnde Schein lodernder Fackeln. So brennend heiß wie im
Weltall kreisende Sonnen. So tödtlich kalt wie glitzernde Eisfelder
des Nordens. So mächtig wie muthige Wagenlenker, die eine Schaar
wilder Rosse zügeln ... und doch wieder so unendlich friedsam und
ruhig wie ein Abendhimmel . . . wie über die stille Welt leise ver-
klingendes Glockengeläute.
Der alte Mann nahm nicht mehr die Züge in dem Antlitz feines
Gegenüber wahr. Er sah nur die unablässig aus ihn gerichteten
Augen des Fremden, die ihn bald mit ihrer Gluth verzehren, bald
mit ihrer Milde wundersam trösten wollten . . . einwiegend gleich einem
heimlichen Lied, das den Kindern in der Dämmerung gesungen wird.
So würfelten sie weiter in dem unsichern Schein des Windlichtes.
Der alte Mann sah nicht mehr nach den Würfeln. Er mischte sie
und ließ sie auf den Tisch rollen, halb in tödtlichem Schrecken, halb
in süßer Seligkeit. Bei jedem Wurf stüsterte er entsetzt und doch
wieder freudig bewegt .. „Mein Leben der Einsatz . . mein Leben .."
Vhne nach dem Erfolg des Spieles zu sehen, las er es in den
Augen seines Partners, daß er verlor... mit jedem Wurf verlor...
„Und jetzt der letzte Wurf, vineenzo!" sagte der Mann in der
Seemannsjacke.
Der Lapitano hielt den Becher krampfhaft in beiden Länden,
wie man andachtsvoll die Füße eines Kruzifixes umklammert. „Der
letzte Wurf!" murmelte er. Die Würfel fielen, verloren.
Da raffte sich der alte Mann mit einem verzweifelten Aufgebot
seiner Kräfte noch einmal empor. Es wurde ihm plötzlich klar, daß
fein Partner nicht der verschollene Freund sei: Nein, ein Anderer.
Ein ganz Anderer, den er kannte und doch nicht kannte... zu dem
er sich unwiderruflich hingezogen fühlte und vor dem ihn bis in den
tiefsten Grund seiner Seele schauderte.
„Wer bist Du? Und was willst Du von mir?" fragte er mit
erstickter Stimme.
Da sprach der Andere: „Das Spiel ist aus. Dein Einsatz ist ver-
loren. Und ich bin der Tod."
Mit einem leisen Athemzug sank der alte Mann auf seinem Stuhl
zurück.
Der, mit dem er gespielt hatte, erhob sich lächelnd, schob Würfel
und Becher in die Tasche, legte dem alten Mann langsam und feier-
lich zu stillem Segen beide pände über das Gesicht, glitt behutsam
daran hernieder und schloß ihm schier zärtlich die Augen... „Feier-
abend ..." sprach er leise. Dann blies er das Windlicht aus und
wandte sich zum Eingang des Gartens, wo er langsam die Stufen
niedersteigend in der Nacht verschwand.
HncLkeine ricuid
tiSülir' ffas 3oi3me Ffcu«
(„Ssnigskinder") Fritz, Rehm (München)
DU Gänsemagcl
JUGEND
Nr. 52
XJXU
Der alte Mann schien die Antwort überhört zu haben. Geraume
Zeit herrschte Schweigen zwischen den Beiden. Dann sagte der An-
kömmling: „Gut rasten hier, Vineenzo, wenn über Meer und Land
der Feierabend dämmert. So geht auch jeder Lebenstag zur Neige.
Und allenr Menschlichen steigt sein Feierabend nieder, hoch vom Entm-
inet her. . . Wenn einst sieb still die Seele schließt wie eine müde
Blume. . . Wenn mit eingerafften Segeln all die Schiffe langsam
ländcii an dem Port der Ewigkeit . . . Selig sind, die zu Gottes paus
ihre schwanken Kiele lenken durch die Dämmerung zwischen Tod und
Ewigkeit. . . durch des Lebens Feierabend bis zu jenem Licht, das
nie verschlungen wird von einer Erdennacht . . ." Der Besucher sprach
diese Worte mit einer tiefen, feierlichen und eindringlichen Stimme.
Der alte Mann hatte ihm mit ehrfürchtigem Schweigen zugehört.
„Ich weiß, mich trennt nur mehr eine kurze Spanne von der letzten
Fahrt!" sprach er halblaut vor sich hin. „Aber warum so traurig,
Amadeo?"
Der Freund lachte kurz auf. Dann meinte er plötzlich ganz un-
vermittelt: „Wollen wir nicht mit einander würfeln?" Dabei hatte
er schon einen ledernen Becher aus der Jacke gezogen und ließ die
Würfel in deniselben klappern, „Wir haben noch ein Spiel zu voll-
enden, vineenzo. Als wir das letztemal beim Würfeln faßen, mußten
wir das Spiel unentschieden lassen. Du aber bist mir den Einsatz
schuldig geblieben!"
„Ganz recht!" erinnerte sich der Lapitano. „Ich bewundere Dein
Gedächtniß."
„Mein Gedächtniß?" lächelte der Seemann sarkastisch. „Mein
Gedächtniß ist freilich das beste in dieser Welt. Denn ich habe noch
Niemand vergessen." Dabei erfaßte er mit rauher pand den Becher
und streute die Knöchel über den Tisch. Zwölf Augen.
Zitternd faßte der alte Mann nach dem Würfelbecher. Er warf
nur fünf Augen.
„Um was spielen wir?" fragte da der Andere.
„Bestimme Du den Einsatz, Amadeo!"
„Gut! Spielen wir um Dein Leben!" lächelte der Freund.
„Um mein Leben?" meinte der alte Mann erstaunt und sah
seinem Gegenüber erschrocken in's Gesicht. Es war nicht Amadeo,
und es war wieder Amadeo. Und dennoch schienen die Augen des
Mannes ganz anders zu fein, als die seines verschollenen Freundes.
Diese Augen hatte der späte Gast fest auf den Eapitano geheftet,
als ob er ihn mit seinem Blick bannen wollte. Augen so tief wie
Felsenhöhlen am Strand, in die sich gurgelnde Brandung ergießt.
Augen mit flackerndem Leuchten wie der von stnrmgepeitschter Fluth
widerspiegelnde Schein lodernder Fackeln. So brennend heiß wie im
Weltall kreisende Sonnen. So tödtlich kalt wie glitzernde Eisfelder
des Nordens. So mächtig wie muthige Wagenlenker, die eine Schaar
wilder Rosse zügeln ... und doch wieder so unendlich friedsam und
ruhig wie ein Abendhimmel . . . wie über die stille Welt leise ver-
klingendes Glockengeläute.
Der alte Mann nahm nicht mehr die Züge in dem Antlitz feines
Gegenüber wahr. Er sah nur die unablässig aus ihn gerichteten
Augen des Fremden, die ihn bald mit ihrer Gluth verzehren, bald
mit ihrer Milde wundersam trösten wollten . . . einwiegend gleich einem
heimlichen Lied, das den Kindern in der Dämmerung gesungen wird.
So würfelten sie weiter in dem unsichern Schein des Windlichtes.
Der alte Mann sah nicht mehr nach den Würfeln. Er mischte sie
und ließ sie auf den Tisch rollen, halb in tödtlichem Schrecken, halb
in süßer Seligkeit. Bei jedem Wurf stüsterte er entsetzt und doch
wieder freudig bewegt .. „Mein Leben der Einsatz . . mein Leben .."
Vhne nach dem Erfolg des Spieles zu sehen, las er es in den
Augen seines Partners, daß er verlor... mit jedem Wurf verlor...
„Und jetzt der letzte Wurf, vineenzo!" sagte der Mann in der
Seemannsjacke.
Der Lapitano hielt den Becher krampfhaft in beiden Länden,
wie man andachtsvoll die Füße eines Kruzifixes umklammert. „Der
letzte Wurf!" murmelte er. Die Würfel fielen, verloren.
Da raffte sich der alte Mann mit einem verzweifelten Aufgebot
seiner Kräfte noch einmal empor. Es wurde ihm plötzlich klar, daß
fein Partner nicht der verschollene Freund sei: Nein, ein Anderer.
Ein ganz Anderer, den er kannte und doch nicht kannte... zu dem
er sich unwiderruflich hingezogen fühlte und vor dem ihn bis in den
tiefsten Grund seiner Seele schauderte.
„Wer bist Du? Und was willst Du von mir?" fragte er mit
erstickter Stimme.
Da sprach der Andere: „Das Spiel ist aus. Dein Einsatz ist ver-
loren. Und ich bin der Tod."
Mit einem leisen Athemzug sank der alte Mann auf seinem Stuhl
zurück.
Der, mit dem er gespielt hatte, erhob sich lächelnd, schob Würfel
und Becher in die Tasche, legte dem alten Mann langsam und feier-
lich zu stillem Segen beide pände über das Gesicht, glitt behutsam
daran hernieder und schloß ihm schier zärtlich die Augen... „Feier-
abend ..." sprach er leise. Dann blies er das Windlicht aus und
wandte sich zum Eingang des Gartens, wo er langsam die Stufen
niedersteigend in der Nacht verschwand.
HncLkeine ricuid
tiSülir' ffas 3oi3me Ffcu«
(„Ssnigskinder") Fritz, Rehm (München)
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