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Nr. 3

JUGEND

1M1

citt langer Spitzenvorhang faltig über das
Gesicht herunterhängt. Ueber die weibliche
Unbekleidethcit wird viel raisonnirt; man
empfiehlt als eine phänomenal neue Er-
findung Tricotbeinkleider oder gestrickte wol-
lene Unterröcke, „nachdem erst kürzlich
wieder sieben junge Damen an rheuma-
tischen Zufällen umkamen," und man er-
zählt das Scandalgeschichtchen, wie der
schönen Frau von X. auf einem Feste ein
elegantes Kästchen mit der Aufschrift: Toi-
lette für Madame X. — übergeben worden
und wie dasselbe nur ein Weinblatt ent-
halten habe. Folgt dann eine umständliche,
heute auch nicht mehr gut wiederzugebende
Erklärung über die Bedeutung des wcin-
blattes. Ueberhanpt finden sich in dieser
noblen Damenlectüre. unter der Form sitten-
strenger Rügen und Belehrungen für den
guten Ton, die unanständigsten Dinge in
allernnglanblichster Unnmwlyidenheit her-
ansgcsagt. Ls ist ganz außerordentlich heiter!

Reizend schön find die großen, über den
Kopf drapirten „Iphigenienschleier", natür-
lich Gocthescher Theatereinstuß. Bei der
Beschreibung der betreffenden Modebilder
heißt es regelmäßig, die Dame sei „ver-
rätherisch" in ihren Schleier gehüllt. —
Allmählich siegt das kurz geschnittene lhaar.
Doch wohl in Folge des Perrückentragens
verwöhnt, wickeln sich die sonst so arg ent-
blößten Damen den Kopf in so dicke Tur-
bans, Pudelmützen, Kastorhüte, „Murmel-
thiermützen" und tickms a la marmotte, daß
man gar nie den bloßen Kopf zn sehen be-
kommt.

Thatsächlich ist der kjut das Einzige,
worin die Mode rasend wechselt und worauf
sie alles Gewicht legt. Schauerliche Pro-
dukte sind der englische Bienenkorbhut, der
Kürbishut, die riesig vorgebauten Invisibles-
hüte in Kohlenschaufelform, antike kjclme
mit Kinnspangen und die diversen „persi-
schen und egyptischen Aufsätze," wie denn
alle orientalisch sein sollenden Toiletten die
Krone der Lächerlichkeit bilden. Ghrgchänge
aus Fischbeinringen oder geschnitzten Apri-
kosenkernen werden als feine Novitäten be-
schrieben, ein Taschenspinnrad für Baum-
wolle zur vornehmen Damenbeschäftigung
empfohlen und dabei gesagt: zu stricken
oder nähen wäre für eine elegante Dame
sehr ignob le. Dazwischen stoßen wir auf
eine Rezension über Goethe'; Faust, der
Theaternovität, in Briefform, mit Stich-
proben aus dem Dialog, unter Andern: das
Ende der Kerkerscene. Danach die Worte:
„wie ist Ihnen bei diesem Schluffe, liebe
Freundin?" — Gleich nachher wird ein
Pariser Schuhmacher für „alle süffige Leibes-
nothdurft" empfohlen, seit kurzem Leib-
schnster der Kaiserin und ein gemachter
Mann, weil die Kaiserin keinen Schuh
länger als einen halben Tag und nie öfter
als einmal trage. Auch durften modische
Schuhe nicht nach Leder riechen, sondern
nach Leau äe Cologne, Bisam, Rosen
oder Nelken, je nach ihrem, meist leicht ver-
gänglichen Material; die Kleider waren
damals eben besonders kurz, daher der
Ehauffurelurus.

1807 heißt es endlich, man sei so ver-
nünftig geworden, sich wärmer zu kleiden,
wattirte Tuchüberröcke sind allgemeine Mode
und ein Arzt schreibt einen Artikel über
die „Mousselinkrankheit", die mörderisch sei,
führt alle Symptome, sowie zehn Todes-
fälle sammt Namen und Gertlichkeit zum
Beweis an. Aber schon in nächster Nummer
heißt es: Der Winter ist so mild, daß trotz
des Hausarztes wieder Monffeline getragen
werden kann; und dann wieder: Die seiden-
wattirten Tuchüberröcke sind so modern,
daß sie die Damen auch in'» Theater an-

Sxiekk»«»«nk>a«k'Genofse SeMfir

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ziehen und dort nur ksals und Busen lüs-
ten. — Nun, so unvernünftig ist heute ja
doch keine Modennärrin mehr.

Dann findet sich die merkwürdige Notiz:
„Man sieht keine Damen in Mannskleidern
mehr, wie das vor wenig Jahren so häufig
war; in diesem Punkte haben sich die Sitten
gebessert." Allmählich werden die Taillen
etwas länger. und fester, man trägt hohe
Ehemisetten, etwas weitere Röcke mit Fal-
beln und.,8,0 zeigt sich bereits jene Mode,
die wir biedermeierisch heißen, und die dann,
mit den Zwanzigerjahren als charakteristi-
scher Uebergangsform, anschwillt zu der vor
wenig Jahren treu copirten, voluminös
dreieckigen Tracht von 182».— ,8-zo Locken-
scheitel und Faltenröcke mit zahllosen, steif-
gestärkten Unterröcken, ,850 der Reisrock
mit graziösen Volantkleidern und langauf-
gcrollter Scheitelfrisur, s860 die Lrinolinc
in ihrer verwegensten Bedeutung und die
lange pängenctzfrisur abscheulichen Anden-
kens. 1870 erschien die amüsante Polster-
ung der rückwärtigen Partie, die „Tour-
nure", die enge zusammengebundene Tu
nique, der falsche Lockenchignon und son
stigcs tolles, nicht mehr von vornehmen
Damen, sondern von allerhand Republi-
kanerinnen erfundenes Modezeug, i88o
die drapirten Kleider mit Ualbcrinolinen
und die Renaiffancemoden, 18Y0 die löetz-
jagd durch alle Style, jede Saison wo-
möglich Anderes, und darin stecken wir
ja heute noch. — Vb wir in der jetzt
geplanten Emxirecopie auch zur Mouffeline
krankheit gelangen werden, oder zn jener
Damentoilette in den, Accajoukästchen?
Nach manchen neuen Larnevalsmodellru
eher zu Letzterem.

Rakalie Bruck-Auffenberg

Nlassiscker koclen

Der landwirthschaftliche Bezirksverein
Alarbach hat laut Nr. 149 des Amts-
blattes auf die Tagesordnung der auf den
27. Dez. anberaumten Bezirksversamnilung
unter anderem Folgendes gesetzt:

5) Austhcilung der Prämien und Preis-
nrknnden von der letzten staatlichen Be-
zirksrindviehschau, wozu die Preisträger
in Person sich einzufinden haben.

6) Ausfolge von Preisen für die besten
Eber im Bezirk in gleicher Weise.

In dem berühmten Schillerstädtchen
scheint sich das geistige Niveau der Thierc
ganz bedeutend gchohen zu haben.

Kilian

Zutn fall Kneißl

Der bayrische Räuber Matthias Kneißl
ist bis jetzt von der Polizei nicht gefangen
worden. Sollte dies vielleicht daran liegen,
daß den Herren Schutzleuten die Worte vor-
schweben: „Gefangene werden nicht
gemacht?"

wie nachträglich verlautet, soll die
bayr. Regierung K a r I M a y zur Ergreif-
ung Kneißls engagirt haben, wer die
unübertreffliche Tapferkeit und pfadfindia-
keit ,01d Sliatterhands* kennt, wird an
dem Erfolg nicht zweifeln.

Ilnvcrbürfftcs

vr. Joseph sprach jüngst in der
„Berliner medizinischen Gesellschaft" über
mehrere gelungene Fälle operativer Nasen-
verkleinerung. —

vr. Joseph erhielt einen Ruf nach —
Sofia. —

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Register
Kilian: Klassischer Boden
W. Schäfer: Spielhagenbank-Genosse
[nicht signierter Beitrag]: Zum Fall Kneißl
[nicht signierter Beitrag]: Unverbürgtes
 
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