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Nr. 4

JUGEND

1901

0cdankcn undStimmungsbilder

von F>cnry D. Cborcau

Schwayt vom Schicksal! Wie wenig kann
der Eine wissen, was für den Andern Schick-
sal iss was er thun oder nicht rhun kann. Ich
bezweifle, ob Jemand im Stande ist, einen
wirklich guten Rath zu geben oder anzunehmen.
In allen wichtigen Lrisen kann der Mensch
nur seinen Genius befragen. Und wen» er
der ärgste Pechvogel und der Verrückteste der
Sterblichen wäre, wenn er nur noch erkennt,
daß ihm ein Genius bleibt, den er befragen
kann, so maße sich Niemand an, zwischen die
Leiden zu treten. Das sind meiner Ansicht
»ach Geschöpfe aus armseligem Stoff und von
trauriger Bestimmung, die sich bei irgendwel-
chen wichtigen Schritten rathen oder überreden
lassen. Zeigt mir einen Menschen, der mit
seinem Genius Rathes pflegt und ihr habt mir
Jemand gezeigt, dem sich nicht rathen läßt.
Ihr könnt wissen, wieviel ein Ding Euch kostet
oder was cs Euch wcrrh ist, aber nie, wieviel
cs mich kostet oder was cs n»ir wcrrh ist.
Laßt die ganze Gemeinde zusammcnschreien,
weil ein Individuum geboren wurde, das sich
ihren Anschauungen nicht fügt, weil Fügen für
es Tod bedeutet. So ist cs nun einmal ge-
schaffen, und die sind Narren, die sich anmaßen,
cs berathen zu wollen. Der Mann von Genie
weiß, was er will. Niemand anders als er
kann es wissen, wenn etwas zwischen ihn und
seinen Gegenstand tritt. Weint aber Genera-
tionen darüber entschwunden sind, werden die
lNenschen euch entschuldigen, wenn ihr nicht
tharct wie sie, wenn ihr nur genug auf eigenem
Wege zu Stande brachtet.

Ich gehe hinaus, den Sonnenuntergang zu
sehen. Wer weiß nur eine halbe Stunde vor-
her, wie er sich gestalten wird? Ob die Sonne
in Wolken hinabsinkt oder in klarem Himmel?
Ich sehe eine Schönheit in der Form oder
Farbe der Wolken, die sich an meine Phantasie
wendet. Was sie mir bedeutet, daß ist sic.
ein Symbol dessen, was ich liebe, und wenn
ihr mich durch irgend eine» Lniff der Wissen-
schaft darum bringt, so leister ihr mir keinen
Dienst und ihr erklärt mir nichts. Ich sehe
von meinem zwanzig Meilen entfernten Stand-
punkt eine rosige Wolke am Horizont. Ihr
sagt mir: „Das ist eine Dunstmasse, die alle
anderen Strahle» absorbirt und die rorhcn

rcflcktirt," das hat aber gar nichts mit der
Sache zu thun, denn diese rothe Vision regt
mich an, bringt mein Blut in Wallung und
mein Blut in Fluß. Ich habe nun unbcschrcib
lichc Vorstellungen, ihr habt das Gcheimniß
dieses Einflusses nicht berührt. Wenn in eurer
Erklärung nichts Mystisches liegt, so ist sic ganz
ungenügend... Was für eine Wissenschaft ist
das, welche das Verstehen bereichert, aber die
Phantasie beraubt? Sic nimmt nicht nur dem
Peter, um den Paul zu bezahlen, sondern sie
nimmt dem Peter mehr, als sic je dem Paul
gibt... So spricht sic zum Verstand, aber
nicht zur Vorstellung. Ebenso ungenügend
wäre einem bloßen Mechaniker die Beschreib-
ung, welche ein Dichter von einer Lokomotive
entwirft. — Wenn wir alles nur so mechanisch
wüßten, wüßten wir dann irgend etwas
wirklich?

Man kann nicht schnell genug seine Fehler
und Missethaten vergessen. Lang bei ihnen
verweilen, heißt die Schuld erschweren. Reue
und Lummer könne» nur durch etwas Bes-
seres ersetzt werden, das so frei und ursprüng
lich ist, als wären sic nie gewesen. Nicht sich
über eine That grämen, sonder» frisch weg
anders handeln mindert das Unrecht.

Ein Farmer reitet vor meiner Thür vorbei
mir einem Hur, bei dessen Anblick mir wohl
wird; es liegt so viel Charakter, so viel Un-
abhängigkeit vor allem, dann so viel Anhäng-
lichkeit an alte Freunde darin. Ich würde
mich nicht wundern, wenn Flechten darauf
wüchsen. Man stelle sich das Bild eines Helden
vor in funkclnagelneucin Hut!

Unsere Gedanken sind bei jenen Tobten, in
deren Sphäre wir steigen, oder die sich in dic
unscrc erheben. Die anderen werden unaus
blciblich vergessen und seien sic Brüder und
Schwestern. So könne» die Abgeschiedenen uns
näher sein, als da sic am Leben waren. Im
Tode drängen sich unsere Freunde und Ver-
wandten entweder näher heran und werden
erkannt, oder sie entfernen sich und werden
vergessen. Freunde werden ebenso oft durch
den Tod einander näher gebracht als von ein-
ander geschieden.

Zum Moor_hauptsächlich um im Wald

eine Eule zu hören, doch ließ sich keine vcr
nchmen. Jetzt, wo das Gehölz eine Meile hinter
mir liegt, ruft eine deutlich, — Hurrcr hu.
Sonderbar, daß wir diesen Ton so oft hören
und den Vogel so selten sehen, am häufigsten
noch in der Dämmerung. Der Ton macht einen
eigcnthümlich tiefen Eindruck.... als ob der
Wald oder der Horizont ihn erzeugte.

Zwischen den nackten Mittclrippen zimmr-
farbiger Farrcnkräutce mit höchstens einem
Blarrrcst wandcrtc ich umher; hie und da
blickte aus kleinen Gruben ein wenig schwarzes
Wasser herauf, dessen der Schnee noch nicht
Herr werden konnte. Ich fühlte mich hcrab-
gestimmt, wenn auch entschlossen, aus Geringem
zu machen, was sich daraus mache» ließ. Wenig
genug Beweise des Göttlichen sah ich da, und
das Leben erschien nicht als ein so lohnendes,
einladendes Unternehmen, wie cs sollte als
meine Aufmerksamkeit durch ein Schnccstcrn
chcn auf meinem Rockärmcl gefesselt wurde.
Es war einer jener vollkommenen kristallklaren,
scchsstrahligcn Sterne, ein flaches Rad mit
sechs Speichen, nur waren die Speichen tadel-
lose kleine Tanncnbäumchen, die um eine zen-
trale Spange gereiht waren. Dies kleine Ding,
das mit vielen seiner Lameraden, ohne zu schmel-
zen, auf meinem Aermcl liegen blieb, erinnerte
mich daran, daß die Allkraft noch nichts von
ihrer früheren Frische cingcbüßt; warum sollte
da der Mensch verzagen? Manchmal waren
die Tannenbäumchcn verbraucht und hatten
ihre Acstc verloren, und dann schien cs wieder,
als seien mehrere Sternchen in verschiedenen
Winkeln aufcinandergetroffcn, um cinc kugcl
igc Masse zu bilden. Auch kleine flaumige
Lnäulche» waren mit diesen Srcrnflöckchcn ver-
mischt. Es schneit und regnet Juwelen aus
uns herab. Ich muß gestehen, daß mir dcr
Muth wuchs, denn, nachdem ich zuerst geglaubt
hatte, die Natur sei arm und niedrig, wurde
ich nun davon überzeugt, daß sic so gurc Ar-
bcit leistete wie je.

In welcher Welt leben wir! Wo sind die
eigentlichen Iuwclenläden? Nichts Schöneres
gibt cs als eine Schneeflocke, einen Thaurropfcn.
An jedem derselben, den er iiiedcrsendct, er-
schöpft der Schöpfer der Welt seine Lunft
Wir glauben, daß die eine» mechanisch Zusam-
menhängen, die andern zusamincnflicßen und
-fallen, und doch sind sie das Produkt des
Enthusiasmus, die Linder der Ekstase, die des
Lünstlcrs höchste Lunst zur Vollendung brachte

;o

Fril: Srhprz (Berlin)
Register
Fritz Scherz: Zierleiste
Henry David Thoreau: Gedanken und Stimmungsbilder
 
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