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Nr. 4

JUGEND

1901

3br Mund

Ihr Mund ist schön. Nicht vieles auf der Welt
Ist schön rvie dieser Mund, so völlig schön,
Daß ich ergriffen bin, denk ich daran.

Ihr Mund ist schön. Aus diesem Munde kann
Kein schlechtes Wort, kein böses Lachen weh'n;
von diesem Mund ;u träumen ist schon Glück.

Ich merd' ihn iviederseh'n. Dann bin ich froh,
Wie nach dem Winter, wenn es Frühling ist:
DH Leben, allerseligstes Geschenk!

Reinheit und Güte sind aus ihm gepaart,
Dort hat die kleinste Lüge keine Statt;
Mein höchster Lid ist Schwur bei

ihrem Mund.

wie glücklich bin ich! Stgßt mich Gram

und Leid,

So denk ich, wie sie schön ist, wie ihr Mund
Klar lächeln kann, und Alles ist verscheucht.

Otto Iutius k-.erbauni

Bern etuN' (Quell

Ehr Gesicht bargt lütt Trina in Grotmoders

Schoor,

Rann to Ruh dörut »ich kamen.

„Up de Straar ropr de annern, min

Hosr wcer rod

As dar Für, ut de Rachclabnd nahmen.

Un nu, Grotmodcr, scgg mi, dat bä ick di blot,
Lvo dat fürrode Hoor ick Hess kregen?"

„Min lütt Dccrn, ock uns' Hoor makr de

lewe Gott;

As he't gisst, so möt wi't drägcn."

Un lütt Trina ward still un ganz nadcnkli,
Deiht de Gisch de Backen straken.

„Awcr, Grotmodcr, dat versprichst du mi:
Dor lat' wi nix weddcr maken."

i>. ii.

Enclymion

Schlummernd liegt, gebettet auf welsse stören,
kwig jung kndymio». Sen Selene
Nach des Eatmos Kipfel hin. aus dem Leben
Zärtlich entführte . . .

Uon den thälern fern herauf hallt Getöse,
sterblich schimmert Fackelschein durch die

Ulälder,

Cymbel-Rlang und wildes Kvoe-stufen
Schreckt die Dryaden.

Dionys, von Ulein und von Wollust trunken,
Rast auf seinem Panthergespann rum Feste.
Schwärme von mänaden und plumpe Satyrn
taumeln im Canze . . .

Schlummernd ruht Gndymion, wendet nur im
träum das Raupt und lächelt t es schlingt

um ihn ihr

Sanftes Eicht Selene ? und so im Russe

Radirung G. E. Dodge 's

Die Zigarette

Eines Abends, als wir ziellos die Friedrich-
straße durchstreift, waren wir in ein altes, ver-
räuchertes Weinstübchen gerathen. Es behagte uns
trefflich, und so setzten wir uns als ehrliche deutsche
Männer fest und tranken eine Flasche nach der
andern.

Bald waren wir die letzten Gäste. Der Kellner
schlief hinterm Buffet, der Rauch sammelte sich
wolkengleich über unfern Häuptern und trüb nur
durchbrach ihn das Licht des bescheidenen Lämpchens.

Es war die Zeit, wo die Herzen aufgeh» und
die Zungen ohne Falsch sind. Man erzählte dies
und das, und, wollte schließlich aufbrechen, als
Folgendes passirte:

Ich hatte dem Einen von uns, der nach einer
Zigarette schrie wie der Hirsch nach dem Wasser,
meine Tasche hinübergegeben. Er nahm sie, öff-
nete und stutzte plötzlich.

Neugierig bog ich mich hinüber. Aber ich
konnte mir nicht erklären, was er hatte, denn bis
auf eine Zigarette war die Tasche leer.

Langsam hob er diese Zigarette empor und sah
nach dem Stempel. Und ehe es einer hindern
konnte, hatte er den verschlafenen Kellner heran-
gerufen und zu dessen lebhaftestem Mißvergnügen
eine neue und bessere Flasche bestellt.

Als sie kam, goß er die Gläser voll und sagte:
„Ihr müßt schon »och hierbleiben, Kinder! Ich
will diese Zigarette rauchen und Euch eine kleine
Geschichte erzählen, die mir vor Jahren passirt ist.
Keine Furcht, sie ist nur kurz und in die Betten
kommt Ihr noch immer."

Damit begann er.

„Ihr wißt, daß ich mit meinem ersten Buche
Glück hatte. Studenten und Backfische stürzten sich
wie die Hyänen auf mich los und ein Segen von
Briefen ging über mein sündiges Haupt hernieder.

52

Darunter war mancher, der mich interessirte.
Und besonders die Epistel einer kleinen Holsteinerin
beschäftigte mich ein paar Tage. Sie hatte mir
ihr ganzes Leben und Treiben geschildert und über
sich selbst tausendmal mehr gesagt als über^das
Buch, von dem sie ausging. Nach diesen Schil-
derungen mußte sie ein komplizirtes Geschöpf sein.
Auf der einen Seite das robust-gesunde Land-
mädel, das gern aß, trank, schlief, tanzte, eine
naive Gefühlskraft hatte, jeder Prüderie fern stand
und nüchtern mit dem wirklichen Leben rechnete.
Ans der andern Seite aber entwickelte sie ganz
wunderliche Eigenschaften. Sie war abergläubisch,
sah Gespenster am hellen Tage über die Straße
gehn, unterhielt sich Nachts mit Klopfgeistern und
Verstorbene», und alles mit heiligem Ernst. ,Lachen
Sie mich ruhig aus", schrieb sie, ,was ich weiß,
weiß ich.' Dementsprechend konnte der erste Theil
ihres Briefes nett, normal und nüchtern sei», ganz
durchtränkt von dem niederdeutschen Realgefühl,
der zweite aber verrückt-phantastisch, ganz voll von
einer fast ungesunden Pbantasiegluth.

. Ich korrespondiere mit ihr einige Zeit, verreiste
dann und der Briefwechsel schlief ein. So mochte
ein halbes Jahr vergangen sein, ich saß längst
wieder in meiner Junggesellenwohnung, als meine
Wirthin mir eines Vormittags eine Karte herein-
brachte. Sie trug den Namen: Lotte Jürgensen.
Nicht Charlotte, sondern Lotte.

Ich wußte sofort, daß es meine Holsteinerin
war. Im nächsten Augenblick stand sie vor mir.

Für Berliner Verhältnisse war sie. . hm, nun
eben holsteinisch angezogen. Ich habe selten so
unmögliche Damengarderobe gesehen. Wie elu
Pfropfen im Flaschenhals steckte sie darin — dick,
klein und frisch.

Ihr Gesicht schien mir zuerst ganz dazu zu
passen. Auf dem Lande findet man solche roth-
backigen derben Gesichter mit nicht hoher Stirn so
häufig wie Butterblumen.

Aber während der ersten Minuten schon ging
mit Lotte Jürgensen eine Veränderung vor. Sie
war eingetreten und auf mich zugekommen ohne
jede Verlegenheit, als wäre es ganz natürlich daß
sie mich besuchte. Allmählich jedoch wurde sie
purpurroth, überhörte die Fragen, die ich an sie
richtete und schien nicht aus und ein zu wissen.
Ihre Augen wichen geradezu scheu den meinen aus.

Später sagte sie mir, sie hätte nie daran ge-
dacht, wie ich eigentlich aussehe. Sie wäre sozu-
sagen mehr zu meinem Buche gekommen, als zu
mir. Sie hätte sich einen Dichter gleichsam als
geschlechtsloses Wesen gedacht oder als alten Herrn,
wie sie in Königs Literaturgeschichte in Conterfeis
parndiren.

Und da wär' es ihr eben plötzlich zum Be-
wußtsein gekommen, daß sie vor einem jungen
Mann stand, daß sie, das achtzehnjährige Mädchen,
einen solchen jungen Mann in seiner Wohnung
besuchte. Daher ihre gräßliche Verlegenheit.

Sie machte mich selbst verlegen. Erst allmäh-
lich kam ein rechtes Gespräch in Gang. Ich er-
fuhr, daß sie vierzehn Tage hier bleiben wolle und
sich riesig darauf freue.

Was soll ich Euch langweilen? Wir trafen uns
zu Spazierwegen, ich entdeckte allmählich, daß Lotte
Jürgensens Gesicht im Profil eine wundervolle Li-
nienschärfe hatte, daß ihre Augen oft so seltsam
groß in die Lust starrten, als sähen sie dort Er-
scheinungen. Unter dem Einfluß der Berliner Ver-
wandten verschwand auch die holsteinische Garde-
robe, sie bekam Figur — kurz, acht Tage nach
ihrem ersten Besuch war ich regulär in sie ver-
schossen.

Ich halt' mich nicht gern bei der Vorrede auf.
Eines Nachniittags fuhren wir mit der Bahn nach
einem Vorort und durchstreiften den Grunewald.
Wie ein Kind lief Lotte voran, warf mit Kien-
äpfeln nach Eichkatzen und war ganz heidenmäßig
vergnügt. Ich deßgleichen. Und als sie wieder mal
vorangelaufen war, jagt' ich ihr nach, holte sie
ein, umschlang sie und preßte die vom schnellen
Register
Carl Busse: Die Zigarette
H. H.: Keen gude Quell
Kurt Martens: Endymion
Otto Julius Bierbaum: Ihr Mund
George Ernest Dodge: Radierung
 
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