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Nr. 5

JUGEND

1901

r/ :•?

-Auf sonniger Höh

Paul Segisser tKarlsruhe)

„Was hat's für n'en Werth, wenn man Keinen
hat, der Einen caressiert?" sagte die Andere, die
praktischer angelegt war.

„Laß es in d'Zeitung setzen."

„Dabei könnt man nett reinfallen," bemerkte John.

„Das kann man auch, wenn man heirathet."

„Und wenn man ledig bleibt."

„Na, gut' Nacht!"

„Gut' Nacht!"

Betsy und John blieben allein und wanderten,
dem Moor entlang, Betsy's Heimath zu.

John hatte Bctsy's Hand gefaßt. Er schaute
nach dem perlfarbigen Schimmer, den die Sonne
bei ihrem Untergange zurückgelassen, er schaute nach
dem Abendstern, er schaute auf Betsy und ein wunder-
liches Gefühl kam über ihn.

Als sie sich dem Hause näherten, sagte er: „Ich
möcht' ganz gern n'en Schluck von Deiner Mutter
Hansbier."

„Kannst haben," versetzte Betsh etwas trocken.

Sie traten ein und fanden die Mutter in einiger
Entfernung des Herdseuers sitzen.

„Grüß Gott," sagte Mrs. Gee, und machte sich
im Zimmer zu schassen. „Nimm doch Platz! Bist
ein seltener Gast. John ließ sich auf einen der
Holzsessel am Fenster nieder, wo Geranien und
Fuchsien in voller Blüthe standen. Trotz der Jahres-
zeit fiel das Feuer nicht lästig in dem großen Raum
mit seinen Steinfliesen. Die Schinken, die rings
von den Sparren herunterhingen, nahmen sich bei
dem flackernden Schein >vie mächtige Birnen ans.

Mrs. Gee hatte viel Aehnlichkeit mit Betsy, doch
war sie breiter, dunkler und stämniiger. Mutter
und Tochter waren wie zwei Pflanzen derselben
Gattung, die eine zarter, grüner, die andere, tveil
älter, derber und holziger.

„Ist Vater zu Bett?" fragte Betsy.

„Ja," antwortete die Mutter.

„Er möcht' gern von Deinem Bier," sagte Betsy.
Der „Er" sollte John heißen.

„Warum nicht?" sagte Mrs. Gee.

„N—ein," stotterte John, der mit einem Mal den
Wunsch empfand, sich unsichtbar machen zu können,
„ich — ich — —"

„Was ich?" rief Betsy. „Ich mein', Du weißt nicht,
was Du willst," fuhr sie heftig fort. Dann kam's
ihr plötzlich, daß diese Bemerkung, bei den momen-
tanen Verhältnissen, sehr doppelsinnig klang, und stob
mit brennend rothen Backen aus dem Zimmer.

John starrte ihr offenen Mundes nach. Da
schien irgend etwas nicht zu stimmen — aber was?

Mrs. Gee war's auch nicht ganz geheuer, sie
machte sich mit dem Bier zu schaffen. Ihr Bier
war berühmt weit und breit, und wer zu ihr kam,
that gut, sich welches geben zu lassen.

John fühlte wieder festeren Boden unter den
Füßen, als das Bier vor ihm stand. So oft er
ausgetrunken, so ost füllte Mrs. Gee den Krug
ivieder auf. So oft sie nachsiillte, so oft trank er
ihn wieder leer. Die Sache wurde allgemach bedenk-
lich. Er trank, um nicht sprechen zu müssen, aber
ewig konnte das doch nicht weiter gehen.

„Du wirst durstig sein," bemerkte Airs. Gee, als
sie zum sechsten Mal einschenkte.

„Ja," meinte John, „aber 's ist nimmer so
schlimm jetzt," setzte er hinzu.

Nach diesem Gedankenaustausch kam Beides in's
Stocken, das Trinken und das Sprechen. Mrs. Gee
hatte ihren Vvrrath an den üblichen, freundnachbar-
lichen Erkundigungen bald erschöpft. Sie hielt es
rathsam, Betsy wieder zu citiren und ging an die
Thür hin, durch welche dieselbe verschwunden war.

„Betsy! Betsy!"

Es kam keine Antwort.

„Sie scheint's nicht zu hören," sagte John, zum
ersten Mal die Initiative beim Gespräch ergreifend.
„Ich will sie holen," antwortete die Mutter und
ging hinaus. .

John war allein. Er athmete auf. Nun war's
ihm wohl. Er setzte sich behaglich zurecht, lockerte
sich den Hemdkragen, streckte erst das eine Bein,
dann das andere und fing an, unternehmend um
sich zu blicken. Er trommelte mit den Fingern
auf seinem Stuhle herum und pfiff vergnüglich vor
sich hin.

Zehn Minuten vergingen. Noch immer war
nichts von Mrs. Gee und Betsy zu sehen. Sein
Rücken begann nachgerade zu schmerzen. Er wechselte
die Stellung, aber es nützte nicht für lange.

Es war Alles so ruhig! Zwei Heimchen fingen
an, sich zirpend Antwort zu geben. Wenn ein
Holzscheit zusammenfiel, fuhr er auf. Wo blieb
denn Betsy?

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Paul Segisser: Auf sonniger Höh'
 
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