1901
JUGEND
Nr. 6
Nietzscheana
Von Georg Hirrh
I V.*)
In unserer Zeit der Nervenfurcht ist es geradezu
Node geworden, jede durch Lebhaftigkeit und Ori-
ginalität verblüffende Geistcsthätigkeit nls „krank-
est", ja sogar als Folge neuropathischer Belast-
ung hinzustelleu. Der Geniale gehört dem Irren-
arzt,-das ist der eigentliche Witz des Lombrosismus.
Nietzsche selbst war in Hellen Tagen von dieser
Modethorheit nicht frei- Ich meine nicht sowohl
den herrlichen Lobgesang Zarathüstra's auf die
schenkende Tilgend, wo es heißt: „llnd ans ^Ent-
artung räthen wir immer, wo die schenkende Seele
fehlt-" Denn gerade in dieser Verwerfung des
roheü Egoismus als einer Entmenschung liegt
eine tiefe epigenetische Wahrheit- Auch die feine
Parenthese in „Fröhliche Wissenschaft" 357 meine
ich nicht, wo das sogenannte Bewußtsein „viel-
leicht ein krankhafter Zustand" genannt wird; ich
habe nachgewiesen, daß das Bewußte nicht krank
fein kann, wenn das llnbewußte gesund ist, daß
das Bewußtsein höchstens uns irreführen kann,
wenn sein momentaner Inhalt voreilig als allein
maßgebender Werthmesser für unsere Urtheile den
Ausschlag gibt; indessen das ist eine Erkenntniß
auf dem Grunde allerneuester Gehirnforschung,
welche Nietzsche noch nicht zugänglich war. Wohl
aber meine ich die äußerst plastische Schilderung der
modern-französischen Literatenseele in „Nietzsche
contra Wagner", an deren Schluß es heißt: —
„aber krank!"
In solcher Verallgemeinerung liegt Jrrthum
und Gefahr- Der Reichthum und die Vielgestaltig-
keit der geistigen Anlagen und die Feinheit der
Beziehungen zwischen Sinnen, Trieben und Intel-
ligenzen machen an sich durchaus kein Stadium,
auch kein Vorstadium der Erkrankung oder De-
generation aus- Die Möglichkeit solcher höchsten
Entwicklung müssen wir vielmehr als ein g e-
sundes Vorrecht des gesunden Menschenhirnes
in Anspruch nehmen- Abnormal nur insofern,
als es selten ist, und verdächtig nur deshalb,
weil es in Gefahr bringt- Wer wollte die Schiefer-
decker nur darum für die ungeeignetsten Dach-
kletterer halten, weil sie zu der Todesursache des
Sturzes vom Dache das größte Kontingent stellen?
Jawohl, gefährlich ist es, auf den Höhen des
geistigen Lebens zu schaffen, zu kämpfen; ja schon
das leidenschaftliche Miterleben dieser Kämpfe
kann zum Dachsturz führen, wie ich denn ganz
*> «gl- Jahrg. 1900 No. 40 S. 673, No. 41 S- 694,
No. 43 S- 726.
vorurtheilslos zugebe, daß für manches schon-
ungsbedürftige Menschenhirn sogar ein zuviel an
bloßer Nietzsche-Lektüre unheilbringend werden
kann. Aber gegen das, leider auch in die wissen-
schaftliche Literatur eingedrungene Streben, jedes
ungewöhnliche, das Philisterium aufrüttelnde Gei-
stesblitzen schlechtweg als ein Zeichen der Entart-
ung zu brandmarken, muß auf das Heftigste pro-
testirt werden als gegen einen abscheulichen Ver-
such, die glänzendste, ja göttlichste Eigenschaft vor-
nehmen Menschenthums mit parasitischen Krank-
heitserregern auf eine Stufe zu stellen. Außerdem
ist solches Beginnen Charlatanerie und gereicht
der Wissenschaft zur Unehre. Es erscheint mir
von der größten Wichtigkeit, dies — allen äußeren
Bedenken zum Trotz ■— gerade an dem Geistes-
helden Friedrich Nietzsche und an dieser Stelle zu
erweisen. Wer diesen Gang mitmachen will, möge
für eine Stunde alle Bekleidungen des Milieus,
alle poetische und evangelische Aesthetik ablegen;
wir nehmen eine Dusche jenseits von Kalt und
Warm — wohl bekomm'sl
Man entrüste sich nicht: ich betrachte das Den-
ken als einen Trieb- Zu dieser Annahme zwingt
mich nicht nur die Beobachtung, daß unsere Ge-
danken uns beherrschen, also mit überlegener Trieb-
kraft ausgestattet sind, sondern auch die physikalische
Logik. Wenn auch das freie Spiel der Phantasie,
unser höheres Denken nur scheinbar von den
gemeinen und verfeinerten Nöthen der Lebens- und
Arterhaltung losgelöst ist, so beansprucht doch der
Denktrieb eine gewisse Selbständigkeit neben den
sexuellen, den Ernährungs- und Bewegungstrieben,
ja sogar neben den weit über die rein thierischen
Angelegenheiten hinaus gehenden Bedürfnissen
der menschlichen Sinne. Vielleicht mußte die ästhe-
tische Umwerthung der Sinnenlust in Augen-
weide, Ohrenschmaus und Duftrausch, mit anderem
Worte: die Vergöttlichung der Sinnlich-
keit der Entwickelung des höheren Denktriebes
vorangehen, — und thatsächlich gewährt für diese
Ansicht die Entstehung primitiver Religionen man-
chen Anhaltspunkt, — aber das hindert nicht, daß
der Denktrieb den Menschen bis zu einem gewissen
Grade vom Thierischen unabhängig gemacht
hat- Er kann unser Befreier und Erzieher
werden- Freilich bildet er auch wegen seiner Wan-
delbarkeit eine ständige Gefahr, denn er wird nicht
nur sehr häusig zu halben und Viertelsperversi-
täten verleitet, weil er unter allen Trieben am
Meisten der Verführung und Ueberredung unter
liegt, sondern er ist auch je nach der Beschaffen-
heit, Lage und Verknüpfung seiner zahlreiche»
Herde einer schier unberechenbaren Vielgestaltig-
keit fähig. Die Lokalisation solcher Herde wissen
wir nur für gewisse Gruppen hervorragend starker
und alteingesessener Merksysteme, z. B. für das
Sprachzentrum- Aber es ist anzunehmen, daß e§
keine einzige Gedankenart gibt, die nicht irgend-
wie im Gehirn lokalisirt wäre. Begabungen für
Dinge, die in der Welt der äußeren Erscheinung
sich nahe berühren, sehen wir in unserer Psyche
oft haarscharf getrennt und in solcher Trennung
vererbt: so z. B. für mathematische Raumlehre und
für plastische Gestaltung, für die Technik eines mu-
sikalischen Instrumentes und für erinnerungsstarke
Symphonik u. s. w. Die Begabungen eines Leibl,
eines Böcklin und eines Wilhelm Busch auf ma-
lerischem, diejenigen eines Job. Strauß und eines
Richard Wagner auf musikalischem Gebiete sind
so grundverschieden, daß wir ohne die Annahme
cerebraler Gebundenheiten — besonderer Gedächt-
nißlokale und Assoziationsbahnen — gar nicht Aus-
kommen. Wir kennen nur diese speziellen Lokali-
sationen noch nicht, so wenig wir die genaue Lage
ddr Centralbureaux und Sprechstellen und den Zug
der Drähte in dem Telephonnetz einer Großstadt
kennen. Statt der in bescheidener Anspruchs-
gewärtigkeit dasitzenden Telephonistinnen brauchen
wir uns nur eine Anzahl von aufgeregten, ab-
wechselnd lernenden und vergessenden, theils klugen,
theils thörichten Jungfrauen vorzustellen, welche
aus eigenem Antriebe Gespräche unter den Abon
nenten veranstalten, hier beruhigend und tröstend,
dort neugierige Fragen stellend und intriguirentr
— so haben wir einen, wenn auch hinkenden'Ver
gleich mit unserem Denktrieb und seinen Lokali-
sationen, mit welchen wir unausgesetzt arbeiten,
ohne sie zu kennen.
Trotzdem dürfen wir nicht davor zurückschrecken,
diesen Tausenden von mehr oder weniger tempera-
nientvollen Jungfrauen unserer Auto-Telephon-
anstalt etwas näher auf den Leib zu rücken, sie
in ihren geheimnißvollen Verstecken aufzustöbern,
was im folgenden Artikel versucht werden soll
Klassisches ^eugniss
Zum Rrieg in Transvaal
„<L\ sendet Hilfe dem bedrängten Lord!"
(Shakespeare, Hcinr. VI. I. 4, 4)
Hus China
»Den Zustand Li-Hung-Tschangs halte ich für
besorgnißerregend," sagte ein Diplomat zu
einem Kollegen.
„Was?" rief dieser- „Ist der Kerl schon wieder
besser?"
JUGEND
Nr. 6
Nietzscheana
Von Georg Hirrh
I V.*)
In unserer Zeit der Nervenfurcht ist es geradezu
Node geworden, jede durch Lebhaftigkeit und Ori-
ginalität verblüffende Geistcsthätigkeit nls „krank-
est", ja sogar als Folge neuropathischer Belast-
ung hinzustelleu. Der Geniale gehört dem Irren-
arzt,-das ist der eigentliche Witz des Lombrosismus.
Nietzsche selbst war in Hellen Tagen von dieser
Modethorheit nicht frei- Ich meine nicht sowohl
den herrlichen Lobgesang Zarathüstra's auf die
schenkende Tilgend, wo es heißt: „llnd ans ^Ent-
artung räthen wir immer, wo die schenkende Seele
fehlt-" Denn gerade in dieser Verwerfung des
roheü Egoismus als einer Entmenschung liegt
eine tiefe epigenetische Wahrheit- Auch die feine
Parenthese in „Fröhliche Wissenschaft" 357 meine
ich nicht, wo das sogenannte Bewußtsein „viel-
leicht ein krankhafter Zustand" genannt wird; ich
habe nachgewiesen, daß das Bewußte nicht krank
fein kann, wenn das llnbewußte gesund ist, daß
das Bewußtsein höchstens uns irreführen kann,
wenn sein momentaner Inhalt voreilig als allein
maßgebender Werthmesser für unsere Urtheile den
Ausschlag gibt; indessen das ist eine Erkenntniß
auf dem Grunde allerneuester Gehirnforschung,
welche Nietzsche noch nicht zugänglich war. Wohl
aber meine ich die äußerst plastische Schilderung der
modern-französischen Literatenseele in „Nietzsche
contra Wagner", an deren Schluß es heißt: —
„aber krank!"
In solcher Verallgemeinerung liegt Jrrthum
und Gefahr- Der Reichthum und die Vielgestaltig-
keit der geistigen Anlagen und die Feinheit der
Beziehungen zwischen Sinnen, Trieben und Intel-
ligenzen machen an sich durchaus kein Stadium,
auch kein Vorstadium der Erkrankung oder De-
generation aus- Die Möglichkeit solcher höchsten
Entwicklung müssen wir vielmehr als ein g e-
sundes Vorrecht des gesunden Menschenhirnes
in Anspruch nehmen- Abnormal nur insofern,
als es selten ist, und verdächtig nur deshalb,
weil es in Gefahr bringt- Wer wollte die Schiefer-
decker nur darum für die ungeeignetsten Dach-
kletterer halten, weil sie zu der Todesursache des
Sturzes vom Dache das größte Kontingent stellen?
Jawohl, gefährlich ist es, auf den Höhen des
geistigen Lebens zu schaffen, zu kämpfen; ja schon
das leidenschaftliche Miterleben dieser Kämpfe
kann zum Dachsturz führen, wie ich denn ganz
*> «gl- Jahrg. 1900 No. 40 S. 673, No. 41 S- 694,
No. 43 S- 726.
vorurtheilslos zugebe, daß für manches schon-
ungsbedürftige Menschenhirn sogar ein zuviel an
bloßer Nietzsche-Lektüre unheilbringend werden
kann. Aber gegen das, leider auch in die wissen-
schaftliche Literatur eingedrungene Streben, jedes
ungewöhnliche, das Philisterium aufrüttelnde Gei-
stesblitzen schlechtweg als ein Zeichen der Entart-
ung zu brandmarken, muß auf das Heftigste pro-
testirt werden als gegen einen abscheulichen Ver-
such, die glänzendste, ja göttlichste Eigenschaft vor-
nehmen Menschenthums mit parasitischen Krank-
heitserregern auf eine Stufe zu stellen. Außerdem
ist solches Beginnen Charlatanerie und gereicht
der Wissenschaft zur Unehre. Es erscheint mir
von der größten Wichtigkeit, dies — allen äußeren
Bedenken zum Trotz ■— gerade an dem Geistes-
helden Friedrich Nietzsche und an dieser Stelle zu
erweisen. Wer diesen Gang mitmachen will, möge
für eine Stunde alle Bekleidungen des Milieus,
alle poetische und evangelische Aesthetik ablegen;
wir nehmen eine Dusche jenseits von Kalt und
Warm — wohl bekomm'sl
Man entrüste sich nicht: ich betrachte das Den-
ken als einen Trieb- Zu dieser Annahme zwingt
mich nicht nur die Beobachtung, daß unsere Ge-
danken uns beherrschen, also mit überlegener Trieb-
kraft ausgestattet sind, sondern auch die physikalische
Logik. Wenn auch das freie Spiel der Phantasie,
unser höheres Denken nur scheinbar von den
gemeinen und verfeinerten Nöthen der Lebens- und
Arterhaltung losgelöst ist, so beansprucht doch der
Denktrieb eine gewisse Selbständigkeit neben den
sexuellen, den Ernährungs- und Bewegungstrieben,
ja sogar neben den weit über die rein thierischen
Angelegenheiten hinaus gehenden Bedürfnissen
der menschlichen Sinne. Vielleicht mußte die ästhe-
tische Umwerthung der Sinnenlust in Augen-
weide, Ohrenschmaus und Duftrausch, mit anderem
Worte: die Vergöttlichung der Sinnlich-
keit der Entwickelung des höheren Denktriebes
vorangehen, — und thatsächlich gewährt für diese
Ansicht die Entstehung primitiver Religionen man-
chen Anhaltspunkt, — aber das hindert nicht, daß
der Denktrieb den Menschen bis zu einem gewissen
Grade vom Thierischen unabhängig gemacht
hat- Er kann unser Befreier und Erzieher
werden- Freilich bildet er auch wegen seiner Wan-
delbarkeit eine ständige Gefahr, denn er wird nicht
nur sehr häusig zu halben und Viertelsperversi-
täten verleitet, weil er unter allen Trieben am
Meisten der Verführung und Ueberredung unter
liegt, sondern er ist auch je nach der Beschaffen-
heit, Lage und Verknüpfung seiner zahlreiche»
Herde einer schier unberechenbaren Vielgestaltig-
keit fähig. Die Lokalisation solcher Herde wissen
wir nur für gewisse Gruppen hervorragend starker
und alteingesessener Merksysteme, z. B. für das
Sprachzentrum- Aber es ist anzunehmen, daß e§
keine einzige Gedankenart gibt, die nicht irgend-
wie im Gehirn lokalisirt wäre. Begabungen für
Dinge, die in der Welt der äußeren Erscheinung
sich nahe berühren, sehen wir in unserer Psyche
oft haarscharf getrennt und in solcher Trennung
vererbt: so z. B. für mathematische Raumlehre und
für plastische Gestaltung, für die Technik eines mu-
sikalischen Instrumentes und für erinnerungsstarke
Symphonik u. s. w. Die Begabungen eines Leibl,
eines Böcklin und eines Wilhelm Busch auf ma-
lerischem, diejenigen eines Job. Strauß und eines
Richard Wagner auf musikalischem Gebiete sind
so grundverschieden, daß wir ohne die Annahme
cerebraler Gebundenheiten — besonderer Gedächt-
nißlokale und Assoziationsbahnen — gar nicht Aus-
kommen. Wir kennen nur diese speziellen Lokali-
sationen noch nicht, so wenig wir die genaue Lage
ddr Centralbureaux und Sprechstellen und den Zug
der Drähte in dem Telephonnetz einer Großstadt
kennen. Statt der in bescheidener Anspruchs-
gewärtigkeit dasitzenden Telephonistinnen brauchen
wir uns nur eine Anzahl von aufgeregten, ab-
wechselnd lernenden und vergessenden, theils klugen,
theils thörichten Jungfrauen vorzustellen, welche
aus eigenem Antriebe Gespräche unter den Abon
nenten veranstalten, hier beruhigend und tröstend,
dort neugierige Fragen stellend und intriguirentr
— so haben wir einen, wenn auch hinkenden'Ver
gleich mit unserem Denktrieb und seinen Lokali-
sationen, mit welchen wir unausgesetzt arbeiten,
ohne sie zu kennen.
Trotzdem dürfen wir nicht davor zurückschrecken,
diesen Tausenden von mehr oder weniger tempera-
nientvollen Jungfrauen unserer Auto-Telephon-
anstalt etwas näher auf den Leib zu rücken, sie
in ihren geheimnißvollen Verstecken aufzustöbern,
was im folgenden Artikel versucht werden soll
Klassisches ^eugniss
Zum Rrieg in Transvaal
„<L\ sendet Hilfe dem bedrängten Lord!"
(Shakespeare, Hcinr. VI. I. 4, 4)
Hus China
»Den Zustand Li-Hung-Tschangs halte ich für
besorgnißerregend," sagte ein Diplomat zu
einem Kollegen.
„Was?" rief dieser- „Ist der Kerl schon wieder
besser?"