1901
. JUGEND •
Nr. 13
Protektion
Pole: Der Hilst mir schon, wenn Dn nicht gut mit mir bist.
Invalidenversorgung
lkliquel: Er kann leicht groß thun und niein Geld kost's!
N ietzscheana
Von Georg Hirrh
V.»)
Während Nietzsche geistig umnachtet war, stieg
im Osten der Psychophysik ein neues Morgenroth
herauf, das auch ihn in neuer glänzender Beleucht-
ung zeigt, freilich in ganz anderem Sinne, als er
selbst jemals gedacht. Denn die Lehren, die wir
aus der neuesten Gehirnforschung ziehen können,
lassen zwar selbst die größte Werihschätzung des
Lebens nnangetastct, ja sie müssen uns mit „noch
grenzenloserer" Bewunderung für die Architektur
der menschlichen Psyche und mit leidenschaftlicher
Dankbarkeit für die Auszeichnung des Homo sum
erfüllen, — und ferner berechtigen uns jene Lehren,
auch die höchsten und komplizirtesten Leistungen
des Menschenhirnes noch innerhalb seiner Ge-
sundheitsbreite zu suchen, — aber das lichter-
loh flammende Lieblingsidol Nietzsche's, sein er-
träumtes U e b e r m e n s ch e n t h u m, sinkt zu einem
Häuflein Asche zusammen, deren Urne wir als
ein Denkmal göttlichsten Jrrthums aufbewahren
wollen. U. I. P.
Die Lehren aus der neuesten Gehirnforschung,
die mir zur Beurtheilnng des Falles Nietzsche be-
sonders wichtig erscheinen, sind hauptsächlich folg-
ende: 1) daß der Aufbau unserer Denkwerkstatt
ein außerordentlich komplizirter und differenzirter
ist, und daß vermuthlich alle diese Tausende feiner
und feinster Bildungen Apparate darstellen,
welche besondere Arbeiten verrichten; 2) daß der
eigentliche Sitz der höheren Denkarbeit fast aus-
schließlich die graue Rinde des Großhirns zu sein,
und daß zwischen der psychischen Leistungsfähigkeit
und der Ausbreitung der Rinde ein direkter Zu-
sammenhang zu bestehen scheint; 3) daß die Rinde
ihren Flächenraum hauptsächlich in Form von
Quetschfalten nach Innen um so mehr ver-
gröbert, je höher die geistige Entwickelung des
Individuums steigt; 4) daß die Ausstattung der
Rinde mit markhaltigen Fasern in zeitlich
oerschiedener Reihenfolge der einzelnen Arbeits-
gebiete und zum Theil nur nach Maßgabe der
Inbetriebsetzung erfolgt; 5) daß die verbindenden
Faserungen innerhalb und zwischen verschiedenen
Theilen der Rinde selbst unendlich viel zahlreicher
und mächtiger sind, als die von den niederen Ge-
hirntheilen bezw. vorn Rückenmark zur Rinde führ-
enden Fasern; 6) daß die Verfeinerung des Rinden-
aufbaues infolge der geistigen Thätigkeit
*) Vgl. Jahrg. 1900 No. 40 S. 07», No. 41 S. »94,
No. 4» S. 720; 1891 No. 0 S. 89.
eine bis in das fünfte Jahrzehnt des Lebens,
vielleicht darüber hinaus, fortschreitende sein kann.
Diese Lehren gewinney aber erst plastisches
Leben, wnin wir uns die! menschliche Gedanken-
werkstatt als eine zusa mmcnhängend e Masse
von Triebsystemen vorstellen, welche einer-
seits wegen ihrer erblichen Epigenesis, andererseits
wegen des assoziativen Gedächtnisses als die h ö ch st e n
und feinsten Systembildungen der Natur
erscheinen. Ich kann heute nicht weiter entwickeln,
wie ich mir den Aufbau der menschlichen Psyche
im Rahmen des großen energetischen Richtungs-
gesetzes denke, welches alle Materie von den Mole-
kularverbindungen der Elemente in statu uasosucii
an beherrscht, und das wir schlechtweg den perio-
dischen Systemzwang nennen können. Ich
will nur sagen, daß cs keine Maschine von Men-
schenhand gibt, deren Gleichgewichtszustände, Stütz-
und Widerstandskräfte auch nur annähernd ähnliche
Ordnung und Feinbeweglichkeit aufweist. Das geht
schon daraus hervor, daß jene Systeme materiell
aus den unbeständigsten Stoffen aufgebaut, und
daß zur Erhaltung ihrer Gleichgewichtszustände
— ihrer Entropie — unausgesetzte Prozesse
erforderlich sind, da jede Abweichung von der
vitalen Wärmebreite und jede Unterbrechung der
normalen Sauerstoffzufuhr zunächst das Schwinden
des Bewußtseins und bald den Stillstand des Ge-
sammtsystems, den Tod, zur Folge hat.
An jene Lehren schließen sich -noch mancherlei
klinische Erfahrungen neuesten Datums, u. A. über
die spezifische Einwirkung von Alkohol und anderen
Giften auf verschiedene Formen der nervösen und
geistigen Thätigkeit, ferner über Ursache und Ver-
laus der Paralyse; aber ich will mich hier zu-
Aristokratische Erscheinungen
D a l l e r zu Brtcrer (nach der Verleihung des
Aronenordens): „kjätt's gar net braucht, den
persönlichen Adel — den Ham mer so schon
von jeher g'habt."
nächst an eine biologische Thatsache großen Stiles
halten und es einmal rücksichtslos aussprechen:
Es ist nicht wahr, daß das Gehirn weit sei und
„leicht bei einander die Gedanken wohnen," im
Gegentheil, unser Schädeldach ist schon
längst viel zu klein, um den Apparaten
unseres Denktriebes, nämlich der Rinde des Groß-
hirns, ein bequemes Dasein zu gönnen. Wäre
dies der Fall, so müßten wir einen stopf vom
Umfange des Elephantenschädels tragen, aber ohne
dessen lleberfluß an Knochenmasse. So ausge-
rüstet, brauchten wir wohl keine Nervenärzte und
Psychiater. Was thut nun die spitzbübische Er-
finderin Natur, um sich nicht mit den Propor-
tionen des Polyklet zu verfeinden und uns den-
noch an der Spitze der Civilisation marschiren zu
lassen? Wenn man die ersten embryonalen Sta-
dien des Gehirnwachsthnms betrachtet, dann könnte
man annehmen, hier sei der Anlauf zu einer über-
menschlichen Kopfbildung in der Richtung des Zeus
von Otricoli genommen. Aber nein, es findet
eine förmliche Zurückzwängnng der verschiedenen
Hirnsegmente sozusagen in eine „relativ enger
werdende" Kapsel statt, die Natur vollbringt hier
etwas, was ihr keine Putzmacherin der Welt nach-
macht : es ist ein geradezu geniales rosettenartiges
„Arrangement nach Innen", wodurch für die Rinde
die drei- bis vierfache Ausdehnung gewonnen wird
Hätte beim Menschen das Großhirn, wie bei
den Amphibien, Reptilien und Vögeln, nur eine der
Schädelkapsel entsprechende glatte Ausbreit-
ung, dann müßten wir uns mit der Hälfte des
Affengeistes begnügen. Die Quetschfaltenrinde der
Säuger in ihrer höchsten Entwickelung aber hat
es uns möglich gemacht, auch trotz relativ nur
mäßig größeren Schädeldaches als Herren auf die
gesammte Thierwelt hinabznblicken. „Spitzbübisch"
ist diese großartige Erfindung nur deshalb, weil
jede Verfeinerung und Komplikation des Gehirn-
baues immer nur auf Kosten der Einfach-
heit und Sicherheit des Betriebs erfolgt,
genau so wie beim Maschinenbau. Wie hier, so
verlangen auch dort die feinsten Instrumente ent-
weder eine relativ stärkere Fundamentirung oder
eine verhältnißmäßig größere Schonung, und Bei-
des, wenn auf die Dauer höheren Anforder
nngcn genügt werden soll. Der Denkapparat der
Thiere verhält sich zu dem menschlichen etwa wie
eine Nachtwächteruhr zu einem erstklassigen Chrono
Meter, oder wie eine Brückenwaage zu einem Seis-
mographen. Die obligaten Begleiter jener gött-
lichen Ueberlegenheit des Menschen über das Thier
aber heißen: Wahnsinn, Nervenzerrüttnng, Pessi-
mismus, Bosheit und untcrthierische Niedertracht.
(Schluß folgt)
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