Nr. 15
JUGEND
1901
J. Diez (München)
Mitleid doch ausschließlich nur Gefühl und als
solches durchaus individuell ist. Und eben darum
kann ich — wie ich fürchte — auch nichts beweisen.
Betreffs der Gesühle soll keiner den anderen zu über-
zeugen suchen. Es ist gut, wenn jeder davon hat:
das ist dann sein Gefühl und damit ein Stück seines
Jchs, und zwar ein kostbares Stück. — Es ist gut,
wenn man Gesühle anderer verstehen, nachempsin-
den kann, fremde anzunehmen, wie seine eigenen
anderen aufdrängen zu wollen, ist beides thöricht.
Und, wie ich glaube, unmöglich.
Denn sonst wäre das Gefühl eben nicht indi-
viduell. Doch hören Sie:
»Ich ging einmal vor die Stadt hinaus, dort-
hin, wo in kleinen freundlichen Gärten hübsche, in
frohen Farben getünchte Häuser stehen mit Blumen
an den bunten Fensterladen und lustig sich drehen-
den Windsahnen auf den Giebeln.
Es war ein schöner Frühlingstag. Die Sonne
schien hell und malte die zarten Birkenästchen mit
dem jungen frischen Laub in weichen Lilatönen an
die weißen Mauern: in den Wipfeln der Bäume
sangen junge Finken ihre ersten Liedchen und kleine
schillernde Schwalbe» kreisten darüber. Bor einem
der Häuschen blieb ich stehn. Es war das letzte
in der Reihe und dahinter lag ein weiter blumen-
übersäter Wiesanger, durch dessen frisches Grün sich
ein stiller Bach in die Ferne schlängelte.
Vor dem Hause spielte etwa ein Dutzend Kinder,
Mädchen und kleine Knaben.
Und da sah ich, daß es ein eigenes Spiel war,
das diese Kinder spielten. — Sie hielten sich an
ihren kleinen Händchen und hatten einen großen
Kreis gebildet. Einer von den Knaben hatte auf
seinem Lockenkopfe einen grünen Kranz aus Birken-
zweigen, in den blaue Blüthcn der Iris einge-
slochte» waren, die an dem Bache wuchsen. — So
tanzten sie den Ringelreihen und einige seine Stimm-
chen sangen dazu. — Aber in der Bütte des Ringel-
kreises stand in einem weißen Kleidchen ein blindes
Mädchen von etwa 16 Jahren — ein wunderschönes,
sanstes, blondes Kind. Und jedesmal, wenn der
Knabe mit dem Kranz im Kreise dem blinden Mäd-
chen gegenüber kam, kniete er vor ihr nieder und
küßte ihre zarten Hände. — Dann nahm sie den
Kranz mit den blauen Blumen von seinem Kopfe,
drehte sich um und setzte denselben einem anderen
auf. Und dabei lachte die kleine Blinde und schien
sroh und selig über die Huldigung, die ihr die
Kinder darbrachten.
Ich sah lange zu, ganz gefesselt von diesem lieb-
lichen Bilde.
Doch während die Kinder so mit ihren kleinen
Schrittchen um das arme Mädchen herumgingen,
und mit ihren seinen hellen Kinderstimmchen dazu
sangen — da mußte ich mich abwenden, um die
Thränen zu verbergen, Thränen des Mitleides mit
jenem armen schönen Kind, das die Sonne nicht
sah und die weite blühende Blumenwiese, nicht die
kleinen schillernden Schwalben, die über den zarten
Birken sangen, — nichts sah von all' dem Frühling
— und doch so selig und zufrieden lachte und sich
freute. Sans v. Depperger
Cieder
Eine Seele weifs ich, der im Dunkeln
Eine glulenrolhe Leuchte flammt; —
0oldne Liederfchwärrne feh ich funkeln,
Einern hohen Jlarnmenbrand entflammt.
Dunkler Schmer; und glutenheifses Lieben
.Hn gewalt’gem Zfammenherd entfacht,
lüie die Junken von der Jäckel, stieben
ßoldne Liederfchwärrne durch die Nacht.
"Frieda Schanz
„Gedanken“ *)
Zur Freundschaft gehört Gegenwart: sonst tritt
an ihre Stelle der Kultus der Erinnerung.
Jede größere Arbeit hat einen ethischen Einfluß.
Das Bemühen, einen Stoff zu concentriren und
harmonisch zu gestalten, ist ein Stein, der in unser
Seelenleben fällt: aus dem engen Kreise werden
viele weitere.
Glaube mir nur, daß die Fähigkeiten, die dazu
gehören, um mit Ehren philologisch zu producieren,
unglaublich gering sind, und daß ein Jeder,
an den richtigen Platz gestellt, seine Schraube
machen lernt. Fleiß vor Allem, Kenntnisse zu
zweit, Methode zu dritt — dies ist das A.BC j[ebe§
produzirenden Philologen: vorausgesetzt, daß ihn
jemand dirigirt und ihm eine Stelle an-
w e i st. Denn das gerade können nur Wenige von
selbst. Es gibt eben Arbeitsgeber und Fabrik-
arbeiter — in diesem Vergleich soll aber nichts
Geringschätziges liegen. Denn auch unsre größten
*) Die hier mitgetheilten „Gedanken" entnehmen wir
den Briefen, die Nietzsche an seinen Jugendfreund, den
Kieler Professor Paul Deussen, schrieb. Die Briefe finden
sich gesammelt in dem soeben erschienenen, außerordentlich
interessanten Buche: „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche"
von Paul Deussen, Leipzig, F. A. Brockhaus.
philologischen Talente sind nur relative Arbeits-
geber: stellt mau sich noch höher und nimmt einen
kulturgeschichtlichen Ausblick, so sieht man, daß auch
diese Ingenien schließlich nur Fabrikarbeiter sind,
nämlich für irgend einen großen philosophischen
Halbgott (deren größter in dem ganzen letzten Jahr-
tausend Schopenhauer ist).
Wer mir Schopenhauer durch Gründe wider-
legen will, dem raune ich ins Ohr: „Aber, lieber
Mann, Weltanschauungen werden weder durch Lo-
gik geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich hei-
misch in jenem Dunstkreis, Du in jenem. Laß
mir doch meine eigene Rase, wie ich Dir die Dei-
nige nicht nehmen werde."
Mitunter zwar werde ich ärgerlich, wenn ich
zeitgenössische Philosophen höre oder lese und ihren
Ruf bemerke und frage eindringlich, wie jener be-
kannte Hamlet seine Mutter fragte „Habt ihr Au-
gen? Habt ihr Augen?" Ich meine, sie haben
keine, aber ich kann mich irren und die meinigen
sind vielleicht zu kurzsichtig, daß ich einen Esel und
ein Pferd verwechsle. Aber sei es so: wenn ein
Sklave im Gefängniß träumt, er sei frei und ent-
bunden seiner Knechtschaft, wer wird so hartherzig
sein, ihn zu wecken und ihm zu sagen, daß cs ei»
Traum sei. Wer wird es sein? Nur ein Büttel,
und weder ich, noch Du werden Lust haben, dessen
Rolle zu spielen.
Das Beste, was wir haben, sich eins zu fühle»
mit einem großen Geiste, sympathisch auf seine
Jdeengäuge eingehen zu können, eine Heimat des
Gedankens, eine Zufluchtsstätte für trübe Stunden
gefunden zu haben — wir werden dies andern
nicht rauben wollen, wir werden es uns selbst
nicht rauben lassen. Sei cs ein Jrrthum, sei es
eine Lüge.
Das Leben hat mit der Philosophie ganz und
gar nichts zu thun, aber man wird wahrscheinlich
die Philosophie wählen und lieben, die uns unsre
Natur am meisten erklärt. Eine Umwandclung
des Wesens durch Erkenntniß ist der gemeine Jrr-
thum des Rationalismus, mit Sokrates an der
Spitze. _
Ich habe bereits das Rücksichtnehmen in der
Hauptsache verlernt: dem einzelnen Menschen gegen-
über seien wir mitleidig und nachgebend, im Aus-
sprechen unsrer Weltanschauung starr wie die alte
Römertugend.
Wir glauben uns durch Aufnehmen eines großen
Genius zu erweitern. In Wahrheit verengern wir
den Genius, daß er in uns hinein kann.
srieckricb nietzscbe
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JUGEND
1901
J. Diez (München)
Mitleid doch ausschließlich nur Gefühl und als
solches durchaus individuell ist. Und eben darum
kann ich — wie ich fürchte — auch nichts beweisen.
Betreffs der Gesühle soll keiner den anderen zu über-
zeugen suchen. Es ist gut, wenn jeder davon hat:
das ist dann sein Gefühl und damit ein Stück seines
Jchs, und zwar ein kostbares Stück. — Es ist gut,
wenn man Gesühle anderer verstehen, nachempsin-
den kann, fremde anzunehmen, wie seine eigenen
anderen aufdrängen zu wollen, ist beides thöricht.
Und, wie ich glaube, unmöglich.
Denn sonst wäre das Gefühl eben nicht indi-
viduell. Doch hören Sie:
»Ich ging einmal vor die Stadt hinaus, dort-
hin, wo in kleinen freundlichen Gärten hübsche, in
frohen Farben getünchte Häuser stehen mit Blumen
an den bunten Fensterladen und lustig sich drehen-
den Windsahnen auf den Giebeln.
Es war ein schöner Frühlingstag. Die Sonne
schien hell und malte die zarten Birkenästchen mit
dem jungen frischen Laub in weichen Lilatönen an
die weißen Mauern: in den Wipfeln der Bäume
sangen junge Finken ihre ersten Liedchen und kleine
schillernde Schwalbe» kreisten darüber. Bor einem
der Häuschen blieb ich stehn. Es war das letzte
in der Reihe und dahinter lag ein weiter blumen-
übersäter Wiesanger, durch dessen frisches Grün sich
ein stiller Bach in die Ferne schlängelte.
Vor dem Hause spielte etwa ein Dutzend Kinder,
Mädchen und kleine Knaben.
Und da sah ich, daß es ein eigenes Spiel war,
das diese Kinder spielten. — Sie hielten sich an
ihren kleinen Händchen und hatten einen großen
Kreis gebildet. Einer von den Knaben hatte auf
seinem Lockenkopfe einen grünen Kranz aus Birken-
zweigen, in den blaue Blüthcn der Iris einge-
slochte» waren, die an dem Bache wuchsen. — So
tanzten sie den Ringelreihen und einige seine Stimm-
chen sangen dazu. — Aber in der Bütte des Ringel-
kreises stand in einem weißen Kleidchen ein blindes
Mädchen von etwa 16 Jahren — ein wunderschönes,
sanstes, blondes Kind. Und jedesmal, wenn der
Knabe mit dem Kranz im Kreise dem blinden Mäd-
chen gegenüber kam, kniete er vor ihr nieder und
küßte ihre zarten Hände. — Dann nahm sie den
Kranz mit den blauen Blumen von seinem Kopfe,
drehte sich um und setzte denselben einem anderen
auf. Und dabei lachte die kleine Blinde und schien
sroh und selig über die Huldigung, die ihr die
Kinder darbrachten.
Ich sah lange zu, ganz gefesselt von diesem lieb-
lichen Bilde.
Doch während die Kinder so mit ihren kleinen
Schrittchen um das arme Mädchen herumgingen,
und mit ihren seinen hellen Kinderstimmchen dazu
sangen — da mußte ich mich abwenden, um die
Thränen zu verbergen, Thränen des Mitleides mit
jenem armen schönen Kind, das die Sonne nicht
sah und die weite blühende Blumenwiese, nicht die
kleinen schillernden Schwalben, die über den zarten
Birken sangen, — nichts sah von all' dem Frühling
— und doch so selig und zufrieden lachte und sich
freute. Sans v. Depperger
Cieder
Eine Seele weifs ich, der im Dunkeln
Eine glulenrolhe Leuchte flammt; —
0oldne Liederfchwärrne feh ich funkeln,
Einern hohen Jlarnmenbrand entflammt.
Dunkler Schmer; und glutenheifses Lieben
.Hn gewalt’gem Zfammenherd entfacht,
lüie die Junken von der Jäckel, stieben
ßoldne Liederfchwärrne durch die Nacht.
"Frieda Schanz
„Gedanken“ *)
Zur Freundschaft gehört Gegenwart: sonst tritt
an ihre Stelle der Kultus der Erinnerung.
Jede größere Arbeit hat einen ethischen Einfluß.
Das Bemühen, einen Stoff zu concentriren und
harmonisch zu gestalten, ist ein Stein, der in unser
Seelenleben fällt: aus dem engen Kreise werden
viele weitere.
Glaube mir nur, daß die Fähigkeiten, die dazu
gehören, um mit Ehren philologisch zu producieren,
unglaublich gering sind, und daß ein Jeder,
an den richtigen Platz gestellt, seine Schraube
machen lernt. Fleiß vor Allem, Kenntnisse zu
zweit, Methode zu dritt — dies ist das A.BC j[ebe§
produzirenden Philologen: vorausgesetzt, daß ihn
jemand dirigirt und ihm eine Stelle an-
w e i st. Denn das gerade können nur Wenige von
selbst. Es gibt eben Arbeitsgeber und Fabrik-
arbeiter — in diesem Vergleich soll aber nichts
Geringschätziges liegen. Denn auch unsre größten
*) Die hier mitgetheilten „Gedanken" entnehmen wir
den Briefen, die Nietzsche an seinen Jugendfreund, den
Kieler Professor Paul Deussen, schrieb. Die Briefe finden
sich gesammelt in dem soeben erschienenen, außerordentlich
interessanten Buche: „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche"
von Paul Deussen, Leipzig, F. A. Brockhaus.
philologischen Talente sind nur relative Arbeits-
geber: stellt mau sich noch höher und nimmt einen
kulturgeschichtlichen Ausblick, so sieht man, daß auch
diese Ingenien schließlich nur Fabrikarbeiter sind,
nämlich für irgend einen großen philosophischen
Halbgott (deren größter in dem ganzen letzten Jahr-
tausend Schopenhauer ist).
Wer mir Schopenhauer durch Gründe wider-
legen will, dem raune ich ins Ohr: „Aber, lieber
Mann, Weltanschauungen werden weder durch Lo-
gik geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich hei-
misch in jenem Dunstkreis, Du in jenem. Laß
mir doch meine eigene Rase, wie ich Dir die Dei-
nige nicht nehmen werde."
Mitunter zwar werde ich ärgerlich, wenn ich
zeitgenössische Philosophen höre oder lese und ihren
Ruf bemerke und frage eindringlich, wie jener be-
kannte Hamlet seine Mutter fragte „Habt ihr Au-
gen? Habt ihr Augen?" Ich meine, sie haben
keine, aber ich kann mich irren und die meinigen
sind vielleicht zu kurzsichtig, daß ich einen Esel und
ein Pferd verwechsle. Aber sei es so: wenn ein
Sklave im Gefängniß träumt, er sei frei und ent-
bunden seiner Knechtschaft, wer wird so hartherzig
sein, ihn zu wecken und ihm zu sagen, daß cs ei»
Traum sei. Wer wird es sein? Nur ein Büttel,
und weder ich, noch Du werden Lust haben, dessen
Rolle zu spielen.
Das Beste, was wir haben, sich eins zu fühle»
mit einem großen Geiste, sympathisch auf seine
Jdeengäuge eingehen zu können, eine Heimat des
Gedankens, eine Zufluchtsstätte für trübe Stunden
gefunden zu haben — wir werden dies andern
nicht rauben wollen, wir werden es uns selbst
nicht rauben lassen. Sei cs ein Jrrthum, sei es
eine Lüge.
Das Leben hat mit der Philosophie ganz und
gar nichts zu thun, aber man wird wahrscheinlich
die Philosophie wählen und lieben, die uns unsre
Natur am meisten erklärt. Eine Umwandclung
des Wesens durch Erkenntniß ist der gemeine Jrr-
thum des Rationalismus, mit Sokrates an der
Spitze. _
Ich habe bereits das Rücksichtnehmen in der
Hauptsache verlernt: dem einzelnen Menschen gegen-
über seien wir mitleidig und nachgebend, im Aus-
sprechen unsrer Weltanschauung starr wie die alte
Römertugend.
Wir glauben uns durch Aufnehmen eines großen
Genius zu erweitern. In Wahrheit verengern wir
den Genius, daß er in uns hinein kann.
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