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Nr. 16

. JUGEND

1901

Obschon er sich aber hierbei, um sicherer zu gehen,
oft der Uebertreibung und Täuschung bediene»
muß, indem er3. B. Schatten, welche in der Natur
thatsächlich grau sind, noch blauer malt, als
sie unserem Auge infolge simultanen Farbenkon-
trastes in der Wirklichkeit erscheinen, so wird doch
jener vom Künstler beabsichtigte volle Eindruck
der Natürlichkeit durch das Betrachten mit bei-
den Augen unmöglich gemacht. Denn der Be-
sitzer gesunder Augen ist zunächst gezwungen,
das gemalte Bild als glatte Fläche zu erkennen,
und nur durch lange Uebung kommt er dazu,
auch gegenüber der gemalten Fläche den plastischen
Absichten des Künstlers einigermaßen gerecht zu
werden und sich den Illusionen hinzugeben,
welche der Maler in uns Hervorrufen wollte.

Je normalsichtiger der Mensch ist, desto schwerer
wird es ihm, solche Illusionen einer bemalten
glatten Fläche abzugewinnen. Ich bin sehr ge-
scheiten Leuten begegnet, die vor Meisterwerken
plastischer Stimmungsmalerei in ein homerisches
Wiehern ausbrachen, nur weil sie noch nicht im
Stande waren, die zarten Licht- und Farbenab-
stufungen des betrachteten Bildes auf ihre plast-
ische Bedeutung hin von der Leinwandfläche ab-
zulesen. Sie standen eben noch ausschließlich
unter dem nichtplastischen Eindruck, den
die glatte Fläche als solche auf jedes Kind
wie auf jedes Thier machen muß. (Bekanntlich
interessirt sich ein Hund nicht für ein Hundebild-
niß, weil er sofort sieht, daß es — kein Hund
ist!) Nur Zeichnungen mit sehr groben maler-
ischen Mitteln ä la Struwelpeter sind im Stande,
auf solche ALO-Schützen in der Kunstkennerschaft
zu „wirken", die letztere kann nur allmählig
bei gutem Willen und unter Beiseitelassung
alles übereilten Schimpfens erreicht werden.

Nun, mit meinem Jllusionsröhrchen habe ich
sogar bei sehr hartgesottenen Naturmenschen und
Kunstspöttern schon Wunder gewirkt. Die Stör-
ung der Illusion verschwindet dabei sofort oder
sehr rasch; wo das nicht gelingt, da ist überhaupt
keine Illusion möglich, cs fehlt an den nöthigen
Gedächtniß bildern aus der Wirklichkeit, ohne welche

allerdings irgend ein Kunstgenuß undenkbar ist-
Der physiologische Vorgang ist folgender: Mit
dem einen Auge haben wir überhaupt nur eine
ziemlich starke, aber sehr unbestimmte, kaum diffe-
renzirtc Fernempfindung für das Gesehene.
Ich habe schon vor vielen Jahren darauf hin-
gewiesen, daß wir mit einem Auge Alles ferner
sehen als mit beiden Augen. Mit beiden Augen
sehen wir aber nicht nur, daß das gemalte Bild
uns sehr nahe, sondern auch, daß es eine glatte
Fläche ist. Diese störende Empfindung wird durch
das Sehen mit einem Auge mittelst des Plastoskops
beseitigt, wir können nicht mehr erkennen, daß das
Gemälde (die Zeichnung re.) sehr nahe und eine
glatte Fläche ist. Die einäugige Jsolirung des
Bildes zwiugt uns daher, das Gesehene in un-
bestimmte Ferne zu rücken und unsere Auf-
merksamkeit auf die künstlerische Darstellung zu
konzentriren, und nun kommen die wieder lebendig
gewordenen Erinnerungen an die weite und breite
Wirklichkeit aus unserem verborgenen Gemerk her-
vor und stürzen sich förmlich auf das gemalte
Bild, indem sie sich seiner bemächtigen, es dehnen
und. ausbreiten, es mit dem Glanze und dem
Zauber der wunderbaren Gottesnatur schmücken.
Streng physiologisch mag es vielleicht richtiger
sein zu sagen, daß die Licht-, Farben- und Linien-
effekte des gemalten Bildes unsere Erinnerungen
wecken, sich mit ihnen vermählen, und daß hierbei
die Plastizität der Erinnerungen leicht die
Oberhand gewinnt, weil das Sehen mit einem
Auge, noch dazu durch das isolirende Instrument,
die der plastischen Vorstellung feindliche Flächen-
erscheinung nicht zur Geltung kommen läßt.

So erweist sich das Plastoskop gewissermaßen
als Gegenstück des Stereoskops, mit dessen
Hilfe wir zwei verschiedene Mächenbilder zu einem
einzigen plastischen Bilde mit Tiefenempfind-
ungen verschmelzen. Denn hier wiedorterzielen
wir wirkliche Empfindungen, und nicht, >vie noch
Helmholtz meinte, bloße Vorstellungen, deren
Zustandekommen auf unbewußten Urtheilsbildun-
gen beruhe. Ja, man kann diese Empfindungen
nicht einmal perverse nennen, da unser Verstand,

überhaupt unsere Psyche zunächst dabei ganz un-
betheiligt ist: wir sehen hier wie dort plastisch,
weil wir unser Sehorgan in eine solche Lage ver-
setzen, daß es normalerweise so sehen muß

Bei längerer Anwendung des Plastoskops kann
aber die Illusion eine derartig vollkommene
werden, daß wir das Bild nicht blos optisch-plastisch,
sondern auch seelisch ganz und gar als Wirklich-
keit ernpfinden und dann wie aus einem schönen
Traum erwachen, wenn wir wieder mit beiden
Augen in das verwirrende Chaos von Bildern
und Rahmen blicken. Daß das kleine Instrument
bei solchen Bildern, welche eine besondere
Natnrwahrheit anstreben, namentlich bei Land-
schaften mit zarten Farbenstimmungen und kühner
Technik, die besten Dienste leistet, ist leicht erklärlich;
aber auch sonst (nur nicht bei Flächendekorationen)
ist es überall als Helfer, Erzieher und Kritiker am
Platze, ja ich habe sogar gefunden, daß es bei
alten Bildern den illusionstörenden sogen.
Galerieton vergessen macht und uns die Weisheit
und Liebe der ältesten Meister in ergreifende Gegen-
wärtigkeit rückt. Das Aechte und wahrhaft Schöne
in der Kunst bleibt eben ewig modern, es
kommt nur darauf an, daß wir es ohne Vorurtheil
in die Tiefe unserer Seele eindringen lassen und
pietätvoll festhalten.

Trotz alledem kann ich das Plastoskop nur als
Erziehungsmittel und als Behelf zu ra-
scherem Erkennen gewisser künstlerischer Qualitäten,
sowie zur Erzeugung angenehmer Illu-
sionen empfehlen. Das Endziel bleibt immer
eine sichere, freie Kennerschaft mit unbewaffneten
Augen, eine Kennerschaft, welche vor Allem den,
Ingenium und dem technischen Können
dcsKünstlers gerecht wird. Die Illusion allein
bietet nur Genuß; die Kunst will aber nicht blos
genossen, sondern auch in ihrem Wesen und ihren
Mitteln gerecht beurtheilt sein. Hinter sei-
nem Werk steht immer der Meister, den wir
als unseren gottbegnadeten Bruder verehren und,
wenn er ein lieber Kerl ist, auch lieben wollen.

Georg Hirth

Hirths Plastoskop oder Illusionsrohr

(nebst einem Separatabdruck des obigen Aufsatzes) ist durch alle Buchhandlungen, Optiker und in den Museen
(Bildergalerien) und grösseren Kunstausstellungen zum Preise von 30 Pf. erhältlich. Der Unterzeichnete versendet
das Plastoskop nebst Broschüre franco gegen Francoeinsendung von 40 Pf. in Postmarken.

München, Färbergraben 24 Verlag der „Jugend“

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