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Nr. 22

JUGEND

1901


heit derselbe» ausbrennt. Dieser Wahrheit ruf'
ich zu: Sei mir gegrüßt!

Aber es gibt eine zweite Wahrheit, diejenige,
die uns wie ein schwerer Stein auf das Herz fällt;
— sie zertrümmert und tödtet in uns alle Sehn-
sucht und Möglichkeir zu leben;. .. diese Wahr-
heit bleibe mir fern.

Weinig ich diesen: alten Mütterchen mittheile,
daß ihr Sohn auf immer für sie verloren ist,
so werde ich sie in: besten Fall auf einmal tobten.
Wenn sie aber nicht stirbt.. . Wenn sie nicht
fallen wird unter der schweren Last dieser furcht-
baren, entsetzlichen Nachricht... und wenn in ihr
das erstirbt, was das Wesen und den Kern des
Lebens bildet... und der giftige Schmerz, die
unheilbare Wehmuth ihr die letzten Tage verbittern
werden? ...

Sic hat ja durch 28 Jahre hindurch mit dem
Aufgebote namenloser Opfer und Mühen diesen
Sohn vor allein Schlechten bewahrt, und heute,
so nahe vor ihrem Tode, soll ihr die frohe und
stolze Gewißheit benommen werden, daß er in der
Fülle seiner Jugend und seiner Kraft keiner frem-
den Hilfe mehr bedarf und den Lebenskampf selber
führen und darin siegen kann!

lind ihr, die heilig auf seinen Triumph ver-
traut, soll ich das Wort hinwerfen: Dein Sohn
ist besiegt!?

O nein, eine Liege ist besser!

Ich ahmte also die Schriftzüge meines Freun-
des nach und schrieb ihr Briefe, welche mit
den Worten begannen: „Meine theure, liebe
Mutter!"

Sie erwiderte mir dieselben innig und herzlich;
sie warnte mich vor Vielem und bewies mir die
Nothimudigkeit, mich warm anzuziehen mit größerer
Sicherheit und schönerer Redekunst, als Luther seine
Thesen vcrtheidigte.

Ich dagegen, indem ich zu ihr als Sohn
sprach, theilte ihr immer mit, wie ich gesund
und glücklich sei, wie es mir gut auf der Welt
ergehe; — ich beschrieb ihr meine Erfolge im
Leben und bei den Menschen, ich unterwarf mich
für ihn ihren Ermahnungen und Rath»
schlage», und sie — entzückt — er-
widerte mir:

„Mein lieber, einziger Herzensbub l
Tu warst noch nie mit mir so offen,
so herzlich, so voller Liebe, wie Du
jetzt in Deinen Briefen bist. Möge Dir
Gott die Reinheit Deines Herzens loh-
nen, welche meine letzten Lebenstage
bestrahlt."

Und ich meinerseits erschöpfte den
ganzen Reichthum meiner Eiubildungs-
kraft, gebrauchte die zärtlichsten Aus-
drücke, die herrlichsten Farben für die
Bilder meines Glückes und schrieb ihr,

„wie angenehm es sich lebt, wenn
:»an eine so gute, so heilige, so liebe
Mutter hat."

Und sie antwortete mir, „daß es
selig sei zu sterben, wenn man die
Mutter eines so treuen, so schönen, so
glücklichen Sohnes ist."

Und sie starb im Glauben an das
Glück ihres Kindes gerade in den:
Augenblick, als dasselbe ausruhte in
einer Häftlingsstation auf der Strecke
nach dem fernen, grausamen Norden
rach Sibirien!

I^eimscherz

(1851)

<3in ganzer Jlbend ohne Kuss,

JIls war’ ich ein Kanonikus?

€{in ganzer Abend wonneleer,

£ls ob mein ^Schatz ’ne IJonne war’?

Und sage, wer ist (Schuld hieran?

Der gute San, der (Schultyrann,

Der, wenn das Ijerz behende klopft,
Dem CCIildfang auf die Hönde klopft.

Kaum küsst ich ihrer GCCange Hand,

(So kommt er scheltend angerannt.

O nehmt ihm sein fatales Kmt>

Ihr Liebesgötter allesammt,

Und zu bedenken gebt ihm ja:

GCCir sind nicht mehr in jäeptima.

(Sein Buckel soll die Hiebe sparen
Bei ausgewachs’nen Liebespaaren,

Vau! Heyse

Pferd und Ssek

Ich bin ein ganz verworfner lvicht,

Ulein Rarrentagwerk freut mich nicht,

Bald stampf' ich den Boden, bald steh' ich faul.
Stall das; ich als braver Bauerngaul
Tagtäglich aufwühle des Ackers Schollen,

Lieb' ich's auf grüner Miese z» tollen.

Ich wieh'rc und zapple und schlage aus,

Und komme fchweißgeiadet nach lfaus.

Ulein Nachbar Esel hingegen gilt
Als ein fürtrefflich Nlusterbild,
lvcil viel er frohndet und wenig frißt
Und die Vhren zu senken nicht vergißt;

Auch hinten über seinem Steiß

Den Schweif gar fromm zu falten weiß.

Die hohen Mbern sah'» noch nie
Solch Ideal von einem Vieh,

Sind voll des Lobes und Preises. Indessen
Bekömmt er auch nur Disteln zu fressen.

pfingslgelang

Don ktsbetb Meyer-yLrster

MHsingsten! — FrühlingtreibendcS Wort! Birken-
grün vor blinden Fensterscheiben! — — Cs
fingt, das Wort, es hat die Stimme von tausend
Sängerkehlen. Wer es ausspricht, hat das Vorge-
fühl von Wandern, von weiter, weiter Fläche, über
die hellgekleidete Menschen zu Paaren in zitternder
Freude zieh» — die Sonne suchend und kleine
Gänseblumen —

Ich sitze auf meinem Balcon, fast zwischen den
Wipfeln der Kiefern, und blicke hinab in das
Pfingstfest. Denn unter mir ist es, zwischen den
Menschen, die zu Tausenden und abermals Tau-
senden den Waldweg dahergegaugen kommen,
lieber mir ist nur der todte Himmel. Dort unter
ihnen, zwischen ihren hellen Aeidern, und schief-
gesetzten Cylindern, und schreienden, jauchzenden
Kindern ist Pfingsten, — ist der Menschenfrühling
Was geht der Himmel mich an, mit seiner todten
Blässe?

Es schmettert kein Vogel — auf den Zweigen
der Kiefern suchen die nicht ihre Nester, sie brauchen
die Verborgenheit zwischen Blättern für ihre un-
aufhörlichen, jauchzenden kleinen Hochzeitsnächte —
Aber Mädchenstimmen, anwachsend zu Chören,
verebbend in dem Nachhall einer Einzelnen, Ge-
fühlvollen, überfiuthen die Straße mit einer Musik
voll unendlicher Süße. Wo nehmen sie, deren
Stimmen so hart und schnippisch und klanglos
sind am Alltag, wo nehmen diese rosa und weiß
gekleideten Dienstmädchen und Ladeneugel und
Bürgerstöchter am Arm ihrer Schätze die Kehlen
voll Süße und Güte her? Weinen sie in ihnen
ihr trockenes Großstadtleben aus? Sind sie am
Abend vor ihrer Liebesnacht? — Wieviel Küsse
mögen heut getauscht worden sein! Der Wald,
duftend und tropfend von Harz, von der Sonne
bloßgelegt bis ins Her;, muß erzittert sein unter
diesem Ansturm der Pfingstliebe so vieler truscnd
und wieder tausend hungernder Großstadtmenschen!
Und er berauschte sie noch obendrein, indem er
flüsterte: „Es ist so still hier. Horcht
wie still es ist. Nur die Bäume sehen

es."-Und so mußte es geschehen,

daß diese Pfingstwanderer, wenn sie
einander begegnen in den Labyrinth-
wegen des unermeßlichen Forstes, die
Augen vor einander Niederschlagen, als
hätten sie über den Zaun gestohlen —
Aber wenn sie dann außer Schuß-
weite sind, sollt Ihr sie sehen! Es flat-
tern die hellen Kleider, denn das Mäd-
chen läßt sich jagen, um sich bald sehr
bald wieder fangen zu lassen. Die Ge-
sichter glühen, die Locken sind aufge-
gangen, — und welche Seligkeit, erhascht
zu werden und das rothflammende Ge-
sicht endlich wieder bergen zu können
an der Brust des Soldaten! — „Bist
du mir gut?" sagt der lange, blonde,
schweißtriefende Mensch. Und die Wipfel
über ihm schütteln sich und lachen leise
in sich hinein. Wie oft haben sie es
heut schon gehört, dieses Wort. Es
überwuchert den Wald. Es erstickt die
Blumen. Es drückt beu Rasen platt,
zermalmt das Moos und bettet überall

einen Platz-„Ja ja!" äfft der

Wald. „So gut! so gut!i" Und die
Menschen, die sich heute, gestern fand -n.

Max v> Seyckel -j-

Lröszdnwahn
Index
Gertrud Kohrt: Größenwahn
Paul Heyse: Reimscherz
Elsbeth Meyer-Förster geb. Blaschke: Pfingstgesang
Max v. Seydel: Pferd und Esel
 
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