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1901

- JUGEND

Nr. 25


Eifellandscliaft (Lithographie,

Die versunkene Stadt

F. v. Wille (Düsseldorf)

sagen, daß ihr ein achtzehnjähriger siegreicher
Kampf um die Entropie vorausgegangen
war, wie er wohl selten, vielleicht noch nie von
einem Geisteshelden gekämpft ward.

In diesem überstarken Willen zum Optimis-
mus steckt wahrlich nicht die Art von Genialität,
die als zufälliges Kreuzungsprodukt erblich Be-
lasteter zu Tage tritt, die aber unter dem ersten
Lebenssturm wie ein Schilfrohr zusammen knickt.
Bei Nietzsche ist es ein Triumph der Ektro-
pie, oder sagen wir gemeinverständlicher: des
Geistes; ein Triumph, zu welchem nur der
Mensch, sonst kein thierisches System befähigt ist.
Aber es ist absolut nicht einzusehen, warum sein
Geist vor der organischen Erkrankung „patho-
logisch" gewesen sein soll. Er hat seine reiche An-
lage gewissermaßen der Menschheit zum Opfer ge-
bracht, anstatt sich damit auf ein beschauliches
Altentheil zurückzuziehen, wie es wohl unsere Alt-
vordern in seinem Falle thun mußten. Es nrag
sein, daß die große Triebkraft seiner Geistesanlage
früher oder später auch ohne das Hinzukommeu
somatischer Schädigungen vielleicht zur Psychose
geführt hätte, aber wir haben kein Recht, in
seinen Schriften Spuren des Wahnsinns zu

suchen, nur weil wir die Energie und Feinheil
seiner Gedanken nicht auf den ersten Hieb verstehen.
Der zureichende Grund für seine Leidenschaft liegt
in der Faulheit der Anderen. Auch von Größen-
wahn ist meines Erachtens nicht die Rede, da er-
wirk l i ch g r o ß w a r und gegründete Veranlassung
hatte, sich für einen schwer Verkannten zu halten.
Er war mit Recht stolz auf seine Ideen und
seine Künstlerschaft, und da er ein Kämpfer war,
so d u r s t e er seine Verächter hassen. Sein Intellekt
war ungetrübt. Es ist freilich nicht schwer, bei
kaltem Froschblut selbst einem Nietzsche Gedächtniß-
und Denkfehler nachzuweisen, aber das Anstürmen
großer Geister gegen das Herkömmliche einfach
als „krankhaft" zu prostituiren, ist jammervolles
Banausenthum. Dieses zu bekämpfen ist Ehren-
pflicht jedes Freien.

Dazu gehört nun freilich vor Allem eine un-
begrenzte Werthschätzung der eigenen Denkwerk-
statt als eines Spiegels der Welt nicht nur,
sondern als eines Erzeugers der Welt. Denn
die Welt ist für Jeden nur so wie er sie sieht,
hört, begreift, sich zurechtmacht. Die Welt der
Menschheit ist die Summe derjenigen lebenden
Systeme, welche in einem menschlichen Denknpparat

gipfeln. Der unsterbliche Geist des Philosophen,
der sich von der Vorstellung des Menschengehirns
als eines Gerichts von Makaroninudeln, also einer
quantitö n6gligeable, nicht losmachen kann, wird
vielleicht erstaunt einwenden: „Was scheeren dich
die Quetschfalten und die Markfasern meiner
Großhirnrinde — fort mit diesem Spuk; wir
haben schon genug Pfaffen, brauchen keine neuen
Gehirnpfafsen." Ich niuß diesen Einwand als
sehr berechtigt anerkennen. Ob zwar der große
Weise an der Ilm es trefflich verstanden hat,
Poesie und Kunst mit naturwissenschaftlichem
Denken unter einen Hut zu bringen, so liegt doch
für unendlich viele wohlkonstituirte Menschen ge-
rade in dem Schleier der Hauptreiz des Bildes
von Saks, und ich kann es Keinem verdenken,
wenn er, um seine Psyche vor lästigen Bildern zu
bewahren, diese Betrachtungen unwillig bei Seite
legt oder in das Bereich der lemurischen Wissen-
schaften verweist. Es gibt aber auch lebende Le-
muren, schwankende Gestalten ohne Gleichgewicht,
und wer in ihnen nicht blos Gespenster sieht, denr
rufe ich zu: „Muth, Freund! und thue En-
tropie in deine Lampe, solange sie noch
— ganz ist!" —

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Friedrich v. Wille: Die versunkene Stadt
 
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