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Nr. 26

JUGEND

/

Sem

Don Henry f. Urban

CßScttit citt Fremder rasch um die Ecke bog,
bekam er einen Schreck. Denn er sah da
plötzlich drei seltsame Menschen vor sich, in die
er um ein Haar hineingerannt wäre. Das waren
die drei jüdischen Jüngelchen vor dcni Laden von
Aaron Minzesheimer, dem Kleiderhändler. Zn
einer Prügelei wäre es wegen so eines Zusammen-
stoßes freilich nicht gekommen, denn keiner von
den Dreien war lebendig. Es waren lediglich
drei Figuren, etwas unter Lebensgröße, die den
Zweck hatten, die Aufmerksamkeit der Leute auf
Minzesheimers „hochfeine" Herrenkleider zu lenken.
Er hatte Alles — vom einfachsten Straßen-Anzng
bis zum stauuenswerth eleganten Frack-Anzug
„genau von der Art, wie ihn vanderbilt trug"
und nur für sieben Dollars. In der Gegend von
New-Hork, wo Minzesheimer seinen Laden hatte,
wohnten biedere Deutsche, Slaven und Juden.
Die glaubten felsenfest, daß vanderbilt einen Frack-
Anzug für sieben Dollars trüge. Die drei Jüngel-
chen nun hießen Sem, Ham und Iaphet. So
hatte sie Minzesheimer getauft. Der Iaphet hatte
einen erbsengelben Regenmantel an mit einer
runden Scheibe Über dem Herzen, ans der Dollars
zn lesen stand. Unter dem Regenmantel hatte er
Nichts an. Bb es wirklich regnete, oder ob die
Sonne schien, Iaphet trug seinen gelben Regen-
mantel. Ham war in einen dunkelblauen Anzug
gekleidet für 2 Dollars. Sem war der feinste.
Er prangte in einem schwarzen Frack mit dem
vermerk 7 Dollars. Dazu trug er ein weißes
Hemd und einen weißen Kragen mit schwarzer
Cravatte. Im Knopfloch steckte eine blutrothe
Rose aus Papier. Sie duftete nicht, aber sie welkte
dafür auch nicht. Sem war Aaron Minzesheimer's
Liebling, denn er war der schönste von den Dreien.
Sein Haar war sänvarz, mit denn Scheitel in der
llkitte, und glänzte wie ein paar neue Gummi-
schuhe. Ferner hatte er schwarze Augen, wunder-
hübsche knall-rothe Nacken, als ob er soeben ein
paar fürchterliche Ohrfeigen bekommen hätte, und
zwischen den üppigen rothen Lippen und der kühnen
orientalischen Nase prangte ein niedliches schwarzes
Schnurrbärtchen. Arme und Hände hatte Sem
nicht. Uebrigens hatten auch Ham und Iaphet
auf diese Gliedmassen verzichtet. Aber auch ohne
Arme war Sem über die Massen bezaubernd.
Seni war auch unstreitig der intelligenteste von
dem Kleeblatt. Ham und Iaphet stierten gott-
sträflich dumm in's Blaue hinein. Auf Sems
von Gesundheit strotzendem Angesicht dagegen lag
ein merkwürdiger Ausdruck einer stilleit, etwas
sarkastischen Freude. Er hatte etwas von einem
gewerbsmäßigen Humoristen an sich und sann
offenbar über irgend etwas Spaßhaftes nach, das
er im Schilde führte, einen Witz oder sonst etwas
Komisches, wer ihn ansah, mußte sich unwill-
kürlich sagen: „Das ist ein ganz geriebener Schlin-
gel, der hat's hinter den Ohren, vor dem muß
man sich in Acht nehmen!"

Ach, aber die Herrlichkeit der drei jüdischen
Jüngelchen nahm eines schönen Tages ein jähes
Ende, ^laron Minzesheimer machte Bankerott,
zweifellos weil die Leute in der Gegend nicht
Ehrgeiz genug besaßen, wie vanderbilt gekleidet
zn gehen. Alles wurde versteigert, Alles: die
grauen Anzüge, die braunen, die blauen, die Regen-
mäntel, die Vanderbilt-Fracks. Ja und zuletzt
kamen sogar die drei jüdischen Jüngelchen an die
Reihe mitsammt den Kleidern, die sie an hatten.
Als letzter wurde der schöne Sem vorgenommen.
Man trug ihn auf die Tribüne aus alten Kisten,
die weiter hinten in dem muffigen dunklen Kleider-
ladcn errichtet war. Dort saß der Auktionator
unter dem Licht zweier schäbiger Gasflammen an
seinem Tisch. Sem wurde neben dem Mann mit
dem Hammer aufgepflanzt. Da stand er nun und
lächelte verschmitzt und boshaft auf die Leute
herab. Minzesheimer gab es einen Stich in's

Herz. „Auch Du, Sein!" seufzte er.

„Hier," rief der Auktionator, „kommt
der schönste Mann von Ncw-Hork,
ein idealer Bräutigam für die Tochter
irgend eines unter Ihnen, meine
Herren, wie viel bieten Sie?" Auk-
tionatoren sind immer humorvoll,
lvcr lacht, kauft leichter, als der
verstimmte. „Nun — will Nie-
mand bieten?" wiederholte der
Mann. Und von irgend woher
antwortete eine piepsende kleine
Stimme, wie von einer Maus:

„Zwanzig Cents!" Die Wirkung
dieser Stimme war eine außer-
ordentliche. Einer starrte den Andern
an, als wollte er sich vergewissern,
daß Der es auch gehört hätte. Der
Auktionator beugte sich weit über
den Tisch und suchte auf dem Boden
herum, denn die Stimme schien vom
Boden her gekommen zu sein. Nun
kamen die klebrigen zn sich und such-
ten ebenfalls. „Hier ist er!" rief
einer der Anwesenden, ein großer,
fetter Mann. Er bückte sich und
hielt gleich daraus einen Knirps in
seinen Armen. Der Knirps hatte ein
blasses, schmutziges Gesicht. Auf
dem Kopf saß ihm eine kleine ver-
wegene Radfahrerkappe ans grauem
verschossenem Stoff. Dazu kamen
braune, fleckige Kniehosen und alte
krumme Schuhe von gelblich brauner
Farbe. Der große, fette Mann trug
ihn auf die Tribüne und stellte ihn
neben den Tisch. Sofort richteten
sich die Blicke des Knirpses auf
Sem und blieben mit einem Aus-
druck der höchsten Bewunderung
auf ihm haften. „Hast Du denn
Geld genug, den jungen Herrn zu
ernähren, mein Sohn?" fragte der
Auktionator und über sein hageres,
glattes Fuchsgesicht glitt ein freund-
liches Lächeln, welch' eine Ge-
legenheit für ihn, auf eines andern
Kosten witzig zn sein. Auch Min-
zesheimer lachte.

„Er ißt nischt," meinte der
Knirps, „er is bloß eine Puppe."

„So? was für ein Schlaukopf
Du bist. Du wirst es noch mal zum
Auktionator bringen. Aber was
willst Du mit dem jungen Herrn
anfangen? Ihn verheirathen?"

Neues Gelächter.

„Nein — ich will damit spielen."

„Nun, wie Du willst, Johnny
— heißt Du Johnny?"

„Nein, ich heiße Charlie Wurm."

„Schön, Charlie, wir wollen
also sehen."

Er griff zum Hammer und fragte,
ob einer der Herren für das jüdische
Jüngelchen mehr als zwanzig Cents
bieten wolle. Niemand rührte sich.

Selbst Minzesheimer nicht. Es war
eine allgemeine, stillschweigende Ab-
machung, daß Charlie seinen Sem
haben sollte. Spaßes halber. Denn
in Wahrheit war der Werth der Puppe in dem
schäbigen Frack, den Sturm und Sonnenschein noch
schäbiger gemacht hatten, gleich Null. „Zwanzig
Cents zum ersten, zum zweiten und zum dr-r-ritten i"
Der Hammer fiel. „Hier hast Du Deinen Sem,
Charlie!" Unter erneutem Gelächter zahlte Charlie
seine zwanzig Cents, die er schon in der Hand
hatte, lauter einzelne Kupfercents. Man half
ihm, seinen Sem von der Tribüne herunter zn
bekommen. Alsdann legte er seinen Arm um
Sem's Hals und so schleifte er ihn unter dem
Halloh der Leute auf die Straße — mitsammt

I.

Hier das Produkt des neusten Hanges:

Die Chansonette ersten Hanges.

Sie hat den Stich in’s Künstlerische,

Cancan und Lyrik im Gemische,
Sezessionistische Marotte,

Halb Werthers Lotte, halb Kokotte.

Sie bringt die Verse junger Dichter
Vor stimmungsvolle Rampenlichter,

Das literarische Gequietsche,

Den ins Couplet gebrachten Nietzsche,

Kurz, sie vertritt die neue Note,

Die sozialistisch bittre Zote.

Mit einem Wort — auch sagt’s der Zettel —
Sie ist das Genre „Ueberbrettel“.

dem Muster-Frack und der papiernen Rose im
Knopfloch. Sem schien das ungeheuer Spaß zu
madjen. Sein Gesicht sah noch pfiffiger und ge-
riebener aus als gewöhnlich. Ja, das war etwas
für ihn! Nun begann'sicher ein wonniges Leben!
Und er schlenkerte ein paar Mal vergnügt mit
den leeren Kenneln, als ob er Minzesheimer Lebe-
wohl zuwinkte.

Als es auf der Straße bekannt wurde, daß
Charlie Wurm den Sem vom Aaron Minzesheimer
gekauft hatte, war die Aufregung unter den Bengeln
groß. Sie hatten die dunkle Ahnung, daß in

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Servus: Chansonetten (I-III)
Henry F. Urban: Sem
Alexander (Sandor) v. Kubinyi: Chansonette
 
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