Nr. 26
JUGEND
1901
als t>as stumpfsinnige poficitflclicti vor
Minzesheimcr's Kleiderladeu! Dann hoben
die Jungens Sem auf und brachten ihn
in das Haus, wo Charlie Wurm wohnte.
Dort trugen sie ihn in den Keller, schlangen
einen Strick um seinen Hals und hängtcn
ihn an einen Gasarm. Und Sem lächelte.
Vlent, es wurde immer großartiger! Wirk-
lich immer großartiger! Um zehn Uhr Nachts
kam der Hausmeister Krüger in den Keller,
wie das seine Gewohnheit war mtd zündete
eilt Streichholz an. Cr sah den Mann am
Gasarm, stieß eitlen Schrei aus und stürzte
Hals über Kopf nach oben. Dann trom-
ntelte er die itächsten UUcthcr zusammen,
Männer und Weiber, und erzählte ihnen
zitternd, was er gesehen hatte. Man sprach
vermnthungen ans, wer es sein könnte,
der da nuten am Gasarm hing.
„Jedenfalls der Süffel, der alte Wurm!"
meinte die Frau Krüger. Er habe sich den
ganzen Tag tiicht sehen lassett. Das wäre
das Veste, was der Lump thun könnte.
„Dann wäre die Frau den Hallnnken los, der
Alles versäuft und sie uitd dett klcinett Charlie
prügelt!" meinte die Frau Horn.
Inzwischen hatte es sich wie ein Lauffeuer
verbreitet, bis auf die Straße und ttt die Nach-
barschaft , daß sich im Keller No. Z05 Jemand
erhängt habe. Es sei der alte Wurm, so hieß
es, der Süffel, der Frauenprügler, der Lump.
Gott sei Dank, daß der Thunichtgut aus dem
Wege war. Der Frau war's zu gönnen. Litte
Menschenmettge sammelte sich vor dem Hause,
Nachbarn ntid Fremde, und besprach aufgeregt
das schreckliche Ereigniß. wie sie so schwatzten,
katn der alte Wurm daher, Charlies Vater, der
wieder irgendwo einen Rausch ausgeschlafen hatte.
Es war eilt ekliger Kerl, mit aufgedunsenem Ge-
sicht ntid wirrent rothem Bart, aber ein Mann
in den besten Jahren mit breiten Schultern und
starkenr Nacken, von Hanse war er ein geschickter
Diamantenschleifer.
- „was ist denn hier los ?" fragte er dett nächsten
Besten.
„Da drinnen in No. jos hat sich Jemand
erhängt," sagte der Fremde.
„So? wer denn?"
„Ja, ich ketine ihn nicht. Sein Name ist
Wurm, wie ich höre. Ein Saufaus, ein Lump
erster Güte, sagen die Leute. Alles scheiitt froh
zu sein, daß er weg ist. Man hat der Frau so-
gar gratnlirt. Der gemeine Schuft hat seine Frau
geprügelt."
„So, so — hm hm!" Er versatik in tiefes
Nachdenken und stand so eine ganze weile. Dann
schritt er langsam in's Haus hinein. Er katn
gerade in dem Augenblick, als im Keller ein
dröhnendes Gelächter der Beherzten erscholl, die
sich heruntergewagt hatten. Dann katn Sein die
Kellertreppe hinaufgestogen und fiel lächelnd zwi-
schen die schreienden Weiber. Das war wieder
ein Ulk erster Güte. Man mußte ihm das zu-
geben. Wurm blieb erschrocken stehen.
„was ist denn das?" fragte er die Frauen,
die bei seinem Anblick ein neues Entsetzen packte.
„Irgend Jemand hat sich einen faulen Witz
gemacht!" sagte Krüger, der mit den Andern die
Keller Treppe hinaufgekoinmen war. „Es ist eine
der Huppen, die vor Miitzesheitncr's Laden gc-
standett haben."
Fidus (Berlin)
„Ach wie schade!" kam eine gedehnte weibliche
Stimme aus dem Hintergründe. Wurm fuhr zu-
sammen. Er wußte, was das hieß. Doch ohne
etwas zu sagen, stieg er die Treppe hinauf in's
sechste Stockwerk, wo seine ärmliche Wohnung
lag. Er mußte mehrere Mal läuten, ehe Frau
wurin öffnete. Sie war.im Stuhl eingeschlafen,
denn sie hatte den ganzen Tag gewaschen, und
erwartete nun böse Worte von Wurm über ihre
Lässigkeit. Nichts dergleichen. Mit einem freund-
lichen „Guten Abend!" trat Wurm in die Küche
— dem ersten „Guten Abend!" seit langer Zeit.
Frau Wurm wußte nicht, was das zu bedeuten
hatte. Er war so wunderlich! Ja, er trat so-
gar an Charlie's Bett und lachte vor sich hin.
Der Charlie hatte aufbleiben wollen, um die Ent-
wickelung der Dinge im Keller abzuwarten. Aber
die Mutter hatte ihn zu Bett gebracht und er-
müdet von den anstrengenden Vergnügungen des
Tages war er eingeschlafen. Er träumte von
seinem Freund Sem. Der war zu ihm in die
Kammer gekommen, hatte übermüthig die leeren
Aermel geschlenkert und gesagt: „Charlie — was
treibet! wir jetzt?"
Als Wurm am nächsten Morgen in aller
Frühe das Haus verließ, gekämmt, gewaschen
und völlig sauber, um zum ersten Mal wieder
nach Arbeit auszuscbaucn, sah er etwas in der
Gosse liegen. Es war Sem, das jüdische Jüngelchen.
Ach, was war aus ihm geworden! Er sah zer-
fetzt aus, beschmutzt, ganz heruntergekommen. Die
Nasenspitze war pechschwarz. Lin Bein hatten
sie ihm ausgerissen. Aber immer noch stak die
papierne Rose iin Knopstoch. Uttd er blickte Wurm
gerade in's Gesicht und lächelte, noch feiner, noch
vielsagender, noch ironischer als sonst.
SdHilbumor
Lehrer: Nun, wie heißt das bekannte Ris-
marck'sche Ivort: — wir Deutschen — min?
Schüler: wir Deutschen trinken immer noch
eins.
ileberselzungskunst
Rota! omne — Alles radelt.
(Seneca Th.yest. III 643).
Hm ^lulk
mit ungestümer Schnelle
3m Bett, von Felsen schmal,
"Verläuft sich Mell' auf Melle,
Und Brausen füllt das Chal . . .
Die Hbcndnebel sanken,
3eh sab den Massern ju ;
Da kamen die Gedanken,
Die brausenden, zur Kuh'.
Kein Halten und kein Bleiben.
Und wer es recht versteht.
Der muss sieb lassen treiben,
Dieweil ’s im Strome gebt.
Besitzen und geniessen,
Sie hemmen nur den tauf.
3st Dir bestimmt, zu fliessen,
So hält kein Glück Dich auf.
Hus schwerer Molken Dunkel
Der mond sein Eicht ergoss,
mit silbernem Gefunkel
Das Masser weiter floss.
Ob auch in Glanz und milde
Sin liebes Huge lacht,
Ss drängt der Strom, der wilde,
Vorüber in die Dacht.
Paul Poldmann
G*S
Jemen
Taucht ein Zelter in den Flor der Ferne,
Trägt ein Mädchen weiß und wunderbar;
Und das greift in's Glanzgewühl der Sterne,
Nestelt sich den schönsten in das Haar.
Wendet sich und grüßt in das Gebreite,
Und die Wiesen leuchten goldengrün,
Und von Wölklein duftet ein Geleite:
Schalen, die von jungen Rosen glüh'n.
Aus den Glnthen thant ein Flöcklein milde.
Einem Schnitter streift's die Stirne sacht
Und er rastet. Selige Traningebilde
Grüßen, gleißen, sinken in die Nacht.
Und von Sehnsucht hauchen süße Lieder
Und die Aehren drängen reifeschwer —
Und der Schnitter greift zur Sense wieder
Hier ans Erden steh'n noch Scheuern leer.
Victor Hardung
4 iS
P. Haustein (München)
JUGEND
1901
als t>as stumpfsinnige poficitflclicti vor
Minzesheimcr's Kleiderladeu! Dann hoben
die Jungens Sem auf und brachten ihn
in das Haus, wo Charlie Wurm wohnte.
Dort trugen sie ihn in den Keller, schlangen
einen Strick um seinen Hals und hängtcn
ihn an einen Gasarm. Und Sem lächelte.
Vlent, es wurde immer großartiger! Wirk-
lich immer großartiger! Um zehn Uhr Nachts
kam der Hausmeister Krüger in den Keller,
wie das seine Gewohnheit war mtd zündete
eilt Streichholz an. Cr sah den Mann am
Gasarm, stieß eitlen Schrei aus und stürzte
Hals über Kopf nach oben. Dann trom-
ntelte er die itächsten UUcthcr zusammen,
Männer und Weiber, und erzählte ihnen
zitternd, was er gesehen hatte. Man sprach
vermnthungen ans, wer es sein könnte,
der da nuten am Gasarm hing.
„Jedenfalls der Süffel, der alte Wurm!"
meinte die Frau Krüger. Er habe sich den
ganzen Tag tiicht sehen lassett. Das wäre
das Veste, was der Lump thun könnte.
„Dann wäre die Frau den Hallnnken los, der
Alles versäuft und sie uitd dett klcinett Charlie
prügelt!" meinte die Frau Horn.
Inzwischen hatte es sich wie ein Lauffeuer
verbreitet, bis auf die Straße und ttt die Nach-
barschaft , daß sich im Keller No. Z05 Jemand
erhängt habe. Es sei der alte Wurm, so hieß
es, der Süffel, der Frauenprügler, der Lump.
Gott sei Dank, daß der Thunichtgut aus dem
Wege war. Der Frau war's zu gönnen. Litte
Menschenmettge sammelte sich vor dem Hause,
Nachbarn ntid Fremde, und besprach aufgeregt
das schreckliche Ereigniß. wie sie so schwatzten,
katn der alte Wurm daher, Charlies Vater, der
wieder irgendwo einen Rausch ausgeschlafen hatte.
Es war eilt ekliger Kerl, mit aufgedunsenem Ge-
sicht ntid wirrent rothem Bart, aber ein Mann
in den besten Jahren mit breiten Schultern und
starkenr Nacken, von Hanse war er ein geschickter
Diamantenschleifer.
- „was ist denn hier los ?" fragte er dett nächsten
Besten.
„Da drinnen in No. jos hat sich Jemand
erhängt," sagte der Fremde.
„So? wer denn?"
„Ja, ich ketine ihn nicht. Sein Name ist
Wurm, wie ich höre. Ein Saufaus, ein Lump
erster Güte, sagen die Leute. Alles scheiitt froh
zu sein, daß er weg ist. Man hat der Frau so-
gar gratnlirt. Der gemeine Schuft hat seine Frau
geprügelt."
„So, so — hm hm!" Er versatik in tiefes
Nachdenken und stand so eine ganze weile. Dann
schritt er langsam in's Haus hinein. Er katn
gerade in dem Augenblick, als im Keller ein
dröhnendes Gelächter der Beherzten erscholl, die
sich heruntergewagt hatten. Dann katn Sein die
Kellertreppe hinaufgestogen und fiel lächelnd zwi-
schen die schreienden Weiber. Das war wieder
ein Ulk erster Güte. Man mußte ihm das zu-
geben. Wurm blieb erschrocken stehen.
„was ist denn das?" fragte er die Frauen,
die bei seinem Anblick ein neues Entsetzen packte.
„Irgend Jemand hat sich einen faulen Witz
gemacht!" sagte Krüger, der mit den Andern die
Keller Treppe hinaufgekoinmen war. „Es ist eine
der Huppen, die vor Miitzesheitncr's Laden gc-
standett haben."
Fidus (Berlin)
„Ach wie schade!" kam eine gedehnte weibliche
Stimme aus dem Hintergründe. Wurm fuhr zu-
sammen. Er wußte, was das hieß. Doch ohne
etwas zu sagen, stieg er die Treppe hinauf in's
sechste Stockwerk, wo seine ärmliche Wohnung
lag. Er mußte mehrere Mal läuten, ehe Frau
wurin öffnete. Sie war.im Stuhl eingeschlafen,
denn sie hatte den ganzen Tag gewaschen, und
erwartete nun böse Worte von Wurm über ihre
Lässigkeit. Nichts dergleichen. Mit einem freund-
lichen „Guten Abend!" trat Wurm in die Küche
— dem ersten „Guten Abend!" seit langer Zeit.
Frau Wurm wußte nicht, was das zu bedeuten
hatte. Er war so wunderlich! Ja, er trat so-
gar an Charlie's Bett und lachte vor sich hin.
Der Charlie hatte aufbleiben wollen, um die Ent-
wickelung der Dinge im Keller abzuwarten. Aber
die Mutter hatte ihn zu Bett gebracht und er-
müdet von den anstrengenden Vergnügungen des
Tages war er eingeschlafen. Er träumte von
seinem Freund Sem. Der war zu ihm in die
Kammer gekommen, hatte übermüthig die leeren
Aermel geschlenkert und gesagt: „Charlie — was
treibet! wir jetzt?"
Als Wurm am nächsten Morgen in aller
Frühe das Haus verließ, gekämmt, gewaschen
und völlig sauber, um zum ersten Mal wieder
nach Arbeit auszuscbaucn, sah er etwas in der
Gosse liegen. Es war Sem, das jüdische Jüngelchen.
Ach, was war aus ihm geworden! Er sah zer-
fetzt aus, beschmutzt, ganz heruntergekommen. Die
Nasenspitze war pechschwarz. Lin Bein hatten
sie ihm ausgerissen. Aber immer noch stak die
papierne Rose iin Knopstoch. Uttd er blickte Wurm
gerade in's Gesicht und lächelte, noch feiner, noch
vielsagender, noch ironischer als sonst.
SdHilbumor
Lehrer: Nun, wie heißt das bekannte Ris-
marck'sche Ivort: — wir Deutschen — min?
Schüler: wir Deutschen trinken immer noch
eins.
ileberselzungskunst
Rota! omne — Alles radelt.
(Seneca Th.yest. III 643).
Hm ^lulk
mit ungestümer Schnelle
3m Bett, von Felsen schmal,
"Verläuft sich Mell' auf Melle,
Und Brausen füllt das Chal . . .
Die Hbcndnebel sanken,
3eh sab den Massern ju ;
Da kamen die Gedanken,
Die brausenden, zur Kuh'.
Kein Halten und kein Bleiben.
Und wer es recht versteht.
Der muss sieb lassen treiben,
Dieweil ’s im Strome gebt.
Besitzen und geniessen,
Sie hemmen nur den tauf.
3st Dir bestimmt, zu fliessen,
So hält kein Glück Dich auf.
Hus schwerer Molken Dunkel
Der mond sein Eicht ergoss,
mit silbernem Gefunkel
Das Masser weiter floss.
Ob auch in Glanz und milde
Sin liebes Huge lacht,
Ss drängt der Strom, der wilde,
Vorüber in die Dacht.
Paul Poldmann
G*S
Jemen
Taucht ein Zelter in den Flor der Ferne,
Trägt ein Mädchen weiß und wunderbar;
Und das greift in's Glanzgewühl der Sterne,
Nestelt sich den schönsten in das Haar.
Wendet sich und grüßt in das Gebreite,
Und die Wiesen leuchten goldengrün,
Und von Wölklein duftet ein Geleite:
Schalen, die von jungen Rosen glüh'n.
Aus den Glnthen thant ein Flöcklein milde.
Einem Schnitter streift's die Stirne sacht
Und er rastet. Selige Traningebilde
Grüßen, gleißen, sinken in die Nacht.
Und von Sehnsucht hauchen süße Lieder
Und die Aehren drängen reifeschwer —
Und der Schnitter greift zur Sense wieder
Hier ans Erden steh'n noch Scheuern leer.
Victor Hardung
4 iS
P. Haustein (München)