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Nr. 27

. JUGEND •

1Ö01

6$ lebe die Ittyffik!

Unter dem 14. Juni erhalten wir
aus Wien folgende Zuschrift:

Sehr geehrte Redaktion!

In Nr. 24 der „Jugend" macht sich
Paul v. Schönthan über einige Verse
Hugo v. Hosmannsthals lustig. Offen-
bar hält er sie für baaren Unsinn und
hat keine Ahnung von der schwin-
delnden Weltmeertiefe dieses blaublu-
migen Empsindungsgestammels, das,
weit unter der Schwelle des Bewußt-
seins, absichtlich jedem Gedanken aus
dem Wege geht, um das Unsagbare —
nicht etwa zu sagen oder zu gestalten
(aus einen solchen Unsinn konnte nur
ein rothbackiger, lungenkrüftiger Wirk-
lichkeitsanbeter verfallen), nein, ledig-
lich zu tönen oder, wenn Sie lieber
wollen, zu färben.

Ich bin nun zwar der stolzbeschei-
denen Ansicht, daß es für uns moderne
Mystiker und Symbolisten ganzgleich-
giltig ist, ob uns irgend jemand
versteht oder nicht Ja, ich glaube,
das; gerade die Dichtungen die tiefsten,
wahrsten und schönsten sind, bei denen
auch den intimste Freund des Dichters
nichts mehr — nicht etwa denken oder
sich vorstellen (das wäre ja krasser
naturalistischer Unfug), nein, auch
nur fühlen oder ahnen kann. Denn
nur dann hat der Poet den Beweis
erbracht, das; er eine durchaus eigen-
artige Persönlichkeit ist, ein Einziger,
ein Unvergleichlicher, der mit seinen
Nebenmenschen so wenig Berührungs-
punkte hat, wie der Sirius mit dem
Bandwurm eines Bvpsinger Reps-
bauern. Aber trotzallcdem Halle ich
cs von Zeit zu Zeit für nothwendig,
vor aller Welt die Berechtigung, ja
die ausschließliche Berechtigung de;
modernen Symbolistik und Mystik
darzuthun, damit die Millionen, die
sie nicht verstehn (zu den Esoterischen
zähle ich außer mir nur Hosmanns-
thal selbst und in einigen erleuchteten
Augenblicken allenfalls noch Hermann
Bahr), damit also die Millionen, die
nichts davon verstehn, wenigstens
ehrfurchtsvoll verstummen lernen.
Doch nun zu meinem Kommentar!
Der Deutlichkeit halber — welch'
albernes Wort! Sagen wir lieber: der
Undeutlichkeit halber! — setze ich die
in Frage kommenden Berse noch ei»
mal hierher:

Das Salböl in den Händen
Der lobten alten Frau
Den Erben laß verschwenden
An Adler, Lamm und Pfau!

Die Tobten, die da gleiten,

Die Wipfel in den Weiten,

Ihn; sind sie wie das Schreiten
Der Tänzerinnen werth.

Tie alte, tobte Frau ist selbstver-
ständlich die Vergangenheit, das Salb-
öl, das sie in den Händen hat, die
gesummte Cultnrerrungenschaft oder,
wenn man lieber will, die Traditio».
Da nun die alte tobte Frau offenbar
sehr große Hände hat, so gibt cs
Ueberfluß an Salböl, so kann ihr
Erbe, der Gegenwartsmensch — Hoj-
mannsthal oder meinetwegen auch
ich — mit der ererbten Cultur sehr
verschwenderisch umgehen. Aber wen
sollen wir damit salben oder einseisen?
Etwa Alltagsmenschen? O nein, ledig-
lich unsere Geistesverwandten, die
junge Generation, die Nietzsches Na-

Wilke

Chancen

„Teufel nochmal, wer jetzt in Serbien war' und Glück hält', könnt sich ein
schönes Stück Geld verdienen!“

men im Munde führt, die entkörperte
Verkörperung der drei Thiere Zara-
thustras, des Adlers, der die Kraft,
des Lamms, das die Geduld, und des
Pfauen, der Schönheit und Stolz be-
deutet.

Und ebenso klar, wie diese Kinder-
reime, sind die folgenden vier Verse.
„Die Tobten, die entgleiten" sind, wie
sofort jedes Kind erräth, die vorüber-
huschenden Augenblicke, die, kaum ge-
boren, schon gestorben sind, oder, noch
deutlicher und pöbelhafter ausgcdrückt,
die Zeit, und „die Wipfel in den
Weiten" symbolisiren im Gegensatz
dazu in wundersamer Perspektive den
Raum. Daß aber Raum und Zeit
beständig an uns vorüber- und mit
uns davontanzen, daß sie uns also
nicht mehr und nicht weniger werth
sein können als „das Schreiten der
Tänzerinnen," versteht sich wieder von
selbst. Inwiefern bei dem Worte „Tän-
zerinnen" dem Dichter selbst noch ge-
wisse leibhaftige Balleteusen des Burg-
theaters vorgcschwebt haben mögen,
'wage ich nicht zu entscheiden. Doch
bernese diese innige Verquickung gc-
heiinnißvollster Mystik und brutalster
Wirklichkeit gerade am deutlichsten,
daß wir es hier mit einer Ewigkeits-
dichtung zu thun haben, die an Klar-
heit und Einfachheit, Tiefe und Be-
ziehungsreichthum, namentlich aber
durch die völlige Verdampfung des
Gedankens in Gefühl und die absolute
Verdunstung des Inhalts in Form
alle Poesie der Vergangenheit über-
wunden hat.

In vorzüglicher Hochachtung

Wien, 14. Juni 1901

flnatole Cöneton

z Z. Nervenheilanstalt (der Name
ist mir leider cntsallen!)

Srgrmstt vktt $rb

Der Prager Bürgermeister vr.
Srb weigerte sich, bei der Hoftafel
im Hradfchin im Frack zu erscheinen
und bestand darauf, mit seinen vize-
bürgermeiftern bei dieser Gelegenheit
die „nationale" Lzamara anzulegen.
Man ließ sie gewähren.

„Niemals schmückt mit deutschem
Fracke

Ach ein Böhma seine Brust:

Die verschnürte Tschechen Jacke
Ist sein Stolz und seine Lust!

Knopfbesät und ohne Kragen,

Trägt man sie bei uns, fürwahr,
Schon seit grauer Vorzeit Tagen,
Schon an volle vierzig Jahr'!

Diese Tracht, die wunderbare,

Ja, sie ist, bei meinem Schwur,

Kelter noch um dreißig Jahre
Als die tschechische Kultur!"

Tiefbesorgt, daß er an seiner
würde ja nicht was vrdrb,

Sagte so der Prager feiner
Brgrmstr Dktr Srb.

Und der Kaiser rief mit Lachen:
„Laßt ihn ein in seinem Flaus,
Geist und Herz und Sitte machen,
Nicht der Nock, denUienschcn aus!

Fügt er sich nicht unsrer Regel,

Mag er kommen nach Geschmack —
was er ist: ein — Vollbluttscheche,
war' der Doktor auch im Frack!"

Hermann

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Register
Edgar Steiger: Es lebe die Mystik!
Hermann, Herrmann [Ostini]: Brgrmstr Dktr Srb
Erich Wilke: Chancen
[nicht signierter Beitrag]: Es lebe die Mystik!
 
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