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1Q01

JUGEND

Nr. 32



Taustrecbt oder - ßretebenreebt?

tiibson aus *Life

Sie doppelsinnige Antithese wurde irgendwo von
dem Prager Hygieniker H u e p p e aufgestellt.
Sie fiel mir wieder ein. als ich in Zeitungen an
demselben Tage las 1) die Ankündigung einer
Sammlung von verurtheilenden Aussprüchen über
die Frauen, welche ein russischer Weiberfeind
ans den Literaturen aller Zeiten und Völker zu-
sammengebracht, 2) die Anzeige eines Buches unter
dem Titel: „Der physiologische Schwachsinn des
Weibes", welche? billigerweise einen deutschen
Professor zum Verfasser hat, und 3) den letzten
Brief eines Selbstmörders, der im Kaukasus
eine durch verschiedene Hände gegangene, offenbar
psychologisch sehr merkwürdige Norwegerin »m-
gebracht hatte. Namentlich die dritte Pieee ist
charakteristisch: der Mörder sagte darin, als ob es
sich von selbst verstände, er habe „triftige Gründe"
gehabt, denen man nicht nachforschen möge. Aber
wohl bemerkt: nicht einmal seine Frau war sie
gewesen!

Das alte Lied: das Raubthier „Mann" tobtet,
wenn ihm die Verläumdung oder die schimpsiiche
Mißhandlung nicht mehr die erforderliche Befriedi-
gung gewähren. Jawohl, von der Beschimpfung
zum Mord ist nicht weit weg, beide fließen aus
derselben Quelle, nämlich aus der Anmaßung.
Diese aber bildet eine Art geistigen Defekts. Man
kann daher sagen: wirklich hochbegabte und ge-
rechte Männer werden Frauen weder beschimpfen
noch morden, sie werden sie nur wägen. Dann
aber werden sie es auch unterlassen, ihren Aus-
einandersetzungen den Beigeschmack der Be-
schimpfung zu geben, wie er in dem Titel jenes
mit wissenschaftlichen Allüren auftretenden Buches
vom „physiologischen Schwachsinn" enthalten ist.
Wissenschaftlich ist das ganz und gar nicht; mag
auch der Prozentsatz der Schwachsinnigen bei den
Frauen etwas größer sein als bei den Männern
— große Esel und Schafsköpfe gibt es hier minde-
stens ebensoviele, wie dort dumme Gänse. Wenn
hier auf der Konfiguration gewisser Windungen
der Großhirnrinde bei einigen niedrigstehenden In-

dividuen ein ganzes-misogynes Lehrgebäude
errichtet wird, so muß ich das unwissenschaftlich
nennen, erstens weil die Bedeutung der Rinden-
ausbreitnng für die Intelligenz noch sehr im Dun-
keln ist, und zweitens, weil der Begriff des
„Schwachsinns" nicht blos mit dem Maßstabe der
freien Intelligenz, sondern vor Allem auch mit
demjenigen der gebundenen Seelenkräfte, der
Gleichgewichtszustände und Hemmungen gemessen
werden muß. Die Frau ist konservativer, nor
maler, natürlicher, menschlicher als der Mann;
wo sie schlecht und unmenschlich wird — cherchez
l'hommel Das Geschlecht, das uns Männern
in puncto Geduld und Beständigkeit, im Ertragen
von Schmerzen und im unentwegten Hoffen, über-
haupt in der psychischen Entropie so sehr
überlegen ist, haben wir kein Recht schwach-
sinnigzu nennen! Ich möchte einmal die weiber-
feindlichen Professoren im Wochcnbette sehen, —
schwachsinnige Wöchner!

Man könnte sogar den Spieß umkehren. Da
nämlich alle Abweichungen von der Richt-
schnur der Vernunft und Menschlichkeit,
so das Stehlen und Morden, das Raufen und
Stechen, das Saufen und Hazardspielen, das Louis-
thum und das Defraudiren, der Größenwahn der
Cäsaren und Anarchisten u. s. w. auf geistigen
Defekten, auf mindestens partiellem Schwach-
sinn beruhen, so erscheint das mit dem Ver-
brecherthum geradezu erblich belastete männliche
Geschlecht entschieden im Nachtheil. Aber nehmen
wir immerhin an, daß diese Minusposten durch
die Tugenden unserer Richter und Dichter, unserer
Krieger und Forscher ausgeglichen werden, so hätte
doch der Mann keinen Grund, auf diese Tugenden
in unbescheidener Weise zu pochen.

Es ist zweifellos, daß Erziehung und Beispiel
bei der Werthschätzung des Weibes eine große
Nolle spielen, und nicht minder die persönlichen
Erlebnisse. Ein Mann, der so glücklich war, nur
Angenehmes und Erfreuliches mit und durch
Frauen zu erleben, oder der gerecht genug ist,

die etwa erlebten Unannehmlichkeiten soweit billig
auch auf sein Konto zu buchen, wird schwerlich
auf die Idee kommen, ein ganzes Buch gegen
die Frauen zu schreiben. Wenn Einer anmaßende
Urtheile über Frauen im Allgemeinen füllt, so liegt
stets die Vermuthnng nahe, daß er entweder viel
Mißbrauch mit Frauen getrieben hat, oder daß
er überhaupt nicht das Zeug besitzt, richtigen Ge-
brauch von Frauen zu machen.

Ich bitte letzteres Wort nicht „mißbräuchlich"
zu verstehen; von dem anderen Geschlechte de»
rechten Gebrauch machen heiße ich das eigene
harmonisch ergänzen, nicht etwa blos sexuell,
sondern in Bezug auf die gelammte Lebenshaltung.
Aber dazu gehören freilich zwei ganze Hjilf-
ten — ein ganzer Mann und eine ganze Frau,
— geradeso wie zu vollendetem Sehen zwei ge-
sunde Augen erforderlich sind. Es mag sein, daß
in Folge unserer verschrobenen, niammonistischen
Gesellschaftsordnung in siebzig von hundert Fälle»
eine leidlich gute männliche Hälfte nicht die zu-
gehörige gute weibliche findet; das ist ein Mal-
heur, welches uns jedoch kein Recht giebt, „die
weiblichen Hälften" als solche schlechtweg
für minderwertbig und unfähig zur Ergänzung
unserer edlen, hochnäsigen Männlichkeit anszugeben.

Wenn wir die Bosheiten und Nichtswürdig-
keiten, die seit Erschaffung der Welt vom söge
nannten „starken" gegen das angeblich „schwache"
Geschlecht ausgeübt worden sind, auf einen Haufen
thun könnten, so würde ein Berg entstehen, dessen
Spitze das Firmament berührte. Wohin wir
greifen — überall dieser abscheuliche männliche
Egoismus, diese elende Undankbarkeit — denn
was wären wir ohne unser Mütterlein! Aber
es wäre falsch, diese Ueberlegenheit des männ-
lichen über das weibliche Geschlecht ohne Weiteres
für das Gegentheil von Schwachsinn
auszugeben. Der Mann ist ganz zweifellos das
größere Rcmbthier; überall, als Familienoberhaupt

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Index
Charles Dana Gibson: Am Strand
Georg Hirth: Faustrecht oder - Gretchenrecht?
 
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