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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 6.1901, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 42
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1901

JUGEND

Nr. 42

gibt es Uolkscharakter in der
bildenden Kunst?

Bon Georg Hirth

Die Fragestellung ist wichtig. Es ist nämlich
eine sehr eigenartige nationale Kunst denk-
bar, in welcher gleichwohl von dein eigentlichen
Charakter des Volkes sehr wenig zum Aus-
drucke kommt. Bei manchen Völkerir stammen
die primitiven, hauptsächlich durch religiösen Kultus
bestimmten Kunstleistungen nicht nur aus fernen
Zeiten, sondern auch aus fremdem Wesen. So
z. B. kommt die russische Volksseele eigentlich
erst in der modernen russischen Kunst zur Gel-
tung, die als „nationale" viel weniger anerkannt
ist, als die archaistische Kunst byzantinischen llr-
sprungs, welcher letzteren nur der Unwissende eine
spezifisch russische Originalität zuerkeunt. Dieses
Beispiel zeigt uns auch, daß die eigentliche psy-
chische Wesenheit eines Volkes erst mit der Be-
freiung von Ueberliefernngcn aller Art zu Tage
tritt, sagen wir gleich: nur in der höheren
Kunst starker und freier Talente, welche
rücksichtslos ihre Ideale verfolgen können, doch
aber das Handwerksmäßige so gut wie das Leben
ihres Volkes und die Natur beherrschen.

Mit diesen Einschränkungen, welche gleichzeitig
eine riesige Erweiterung des Horizontes, ja den
höchsten Ausblick bedeuten, möchte ich die in der
Ueberschrift gestellte Frage unbedingt bejahen.
Man kann den Volkscharakter in der bildenden
Kunst, sozusagen als völkerpsychologisches
Postulat, schon a priori voraussetzen. Denn es
ist nicht abzusehcn, warum die geistige Eigenart
eines Volkes, wie sic uns namentlich in den stärksten
Individuen entgegeutritt, ohne Einfluß ans die
bildenden Künste bleiben sollte, welche doch nicht
bloS von der Schärfe der Sinne und den elemen-
taren Bewegungsinnervationen, sondern auch von
dem Temperament und der Gemüthsverfassuug ab-
hängen, und in deren Werken so sehr die Lebens-
anschauungen, die Lebenskraft und -Erwartung der
Urheber zum greifbaren Ausdruck kommen.

Aber mau muß sich davor hüten, den Schlüssel
dazu vorwiegend in künstlerischen Techniken oder
im Geschmacke der Vortragsweise oder in der

Vorliebe für diese oder jene Gegenständlichkeit,
überhaupt in dem zu suchen, was sich mit den
Worten Legende, Stil und Mode deckt. Ins-
besondere ist es bedenklich, sich durch die bloße
Wahl patriotischer und volksthümlicher oder religi-
öser Vorwürfe zu der Meinung verleiten zu
lassen, daß damit schon etwas Wesentliches vom
Volkscharakter in der Kunst gegeben sei; im
Gegentheil sehen wir oft, wie die besten derartigen
Vorwürfe durch Mangel an künstlerischem Charak-
ter entstellt sind, und wie umgekehrt die Hetzjagd
nach nationaler Romantik zur Kunstentartung führt.

Die stilistischen und legendarischen Merkmale
nationaler Kunst entspringen — auch da, wo es
sich nur um Abweichungen von übernommenen
fremden Formen handelt, — oft ganz anderen
Gründen als solchen des Volkscharakters: Klima,
Wohlstand, soziale Verhältnisse, Religion, Politik,
Schulung, internationaler Verkehr, verwendbares
Material u. dgl. spielen eine große Rolle. So
können z- B. manche an sich sehr erfreuliche Unter-
schiede der deutschen Frührcnaissance von
der italienischen (die gemüthlichcre Wohnlichkeit,
die kraflvollcre Gedrungenheit, der Erker re.) znm
Theile auch aus rein praktischen Rücksichten er-
klärt werden. Den Triumph der einheitlichen Licht-
quelle, des einzigen großen Zimmerfensters, gegen-
über der romanischen Uniformirung der Fayade,
überhaupt das Prinzip des Bauens von Innen
nach Außen möchte ich wohl gern als Ausfluß
urdeutscher Empfindung in Anspruch nehmen, wenn
dabei nicht noch andere Erwägungen konkurrirten.
Gewiß sprechen auch schon die stilistischen Merkmale
und die Technik vielfach ejne nationale Sprache, aber
es wäre weder korrekt, noch würde dem Volkscharak-
ter selbst große Ehre erwiesen, wollten wir auf solche
Aeußerlichkeiten allzu großes Gewicht legen.

Wollen wir dem idealen An theile des Volks-
charakters an der bildenden Kunst ans die Spur,
kommen, so müssen wir uns nicht sowohl an das
Handwerksmäßige und Traditionelle, an die große
Masse der Rachempfinder und Nachtreter, sondern
au die kleine Zahl ei gen artig er Künstler halten,
in deucir die künstlerischen Triebe des Volkes zur
Leidenschaft geworden sind. Wie auf allen an-
deren Kulturgebieten, so sind es auch hier nicht die
mittleren, sondern die Maximaltemperaturen, die

uns den Charakter der künstlerischen Leidenschaf-
ten zeigen: erst aus ihrer Höhe schließen wir auf
das potentielle Vermögen, welches in der großen
Masse steckt, und das vielleicht ohne besondere
Erweckung vollkommen latent bleibt, weil die gegen-
strömmden äußeren Einflüsse zusammen stärker sind
als die inneren Triebe. Wobei wir uns imnrer ver-
gegenwärtigen müssen, daß die höheren kulturellen
Triebe komplizirte, sekundäre sind und sich von
den elementaren (des Geschlechtes, der Ernährung,
Bewegung, Besitzergreifung und Vertheidigung) da-
durch unterscheiden, daß sie in der Regel nur unter ge-
wissen günstigen Bedingungen sich entfalten können.

Das „Völkische" liegt in den bildenden Künsten,
ebenso wie in der Musik, viel tiefer und ver-
borgener als in der Literatur. Denn die Mutter-
sprache ist eigentlich das spezifisch geistige
Gepräge des Volkes selbst, wogegen die
sicht- und greifbaren Kunstgebilde nur intuitiv
aus dem Geiste heraus gefühlt werden
können, wie er in der Sprache zum klar nachweis-
baren Ausdruck gekommen ist. Man kann viel-
leicht sagen: Das Völkische au und in der bilden-
den Kunst läßt sich nur von Demjenigen ahnen,
der auch dem geheimnißvollen Scelenzauber der
Muttersprache desselben Volkes zugänglich ist,
womit gar nicht gesagt sein soll, daß er auch zu
ihren Sprachkünstlern gehören oder die betreffende
Sprache auch nur genau kennen müsse. Ich meine
so: wer kein Talent besitzt, in den Geist der
italienischen oder der deutschen Sprache eiuzn-
dringcn, dem fehlt wohl auch das Zeug, jemals
das Nationale in der italienischen oder deut-
schen bildenden Kunst herauszufühlen. Aber es
wäre falsch, umgekehrt anzunehmen, daß die Durch-
dringung mit dem Geiste einer Sprache oder das
Talent für deren tieferes Gefühlsverständniß allein
die Möglichkeit sicher gewähren, das Besondere in
der bildenden Kunst desselben Volksthums zu er-
fassen. Denn hierzu gehört erstens eine äußerst
glückliche Begabung im Gebiete des Gesichtssinnes,
und zweitens eine eigenartige Verknüpfung dieses
Sinnes nicht nur mit dem Sprachzentrum, son-
dern auch mit anderen Sinnes-, Gefühls- und
Vorstellungsprovinzen, und endlich gehört dazu
ein tieferes, ernsthaftes Eindringen in Wesen und
Bedingungen der bildenden Künste selbst.

Julius Die:

Zrau Kunst in (München, die war

ihr sehr

Befreundet seit vielen Fahren,

Sie sagte bewegt, als sie das Geschick
Der theuern Zreundin erfahren:

„Der alte Stil is aus der (Mod',
Der kann uns nir mehr nützen —
C>b d'Leut wohl auf die ncuchen

Stühl

Recht viel commoder fitzen?"
Register
Georg Hirth: Gibt es Volkscharakter in der bildenden Kunst?
Julius Diez: Die neuen Stühl
 
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