1901
JUGEND
Nr. 52
Pseudopbllosopbiscbe Uerblödung
Sie ist wirklich ganz spezifisch deutsch, auf
das Innigste verguickt nicht nur mit unserer Kultur-
entwickelung , sondern auch mit unserem Volks-
charakter, mit dem verdammten Hang zum knirp-
sigen Größenwahn, zur gekränkten Leberwurst und
anderen noch viel giftigeren Würsten. Jawohl,
von Nietzsche zum Eisenacher Studenten Fischer,
der am Fuße der romantischen Wartburg seinen
„süßen blonden Schatz" schimpflich und meuchlings
abgemurkst hat, ist nur ein Schritt — so behauptete
der Herr Präsident des Gothaer Schwurgerichts.
Und der muß cs wissen, denn nach ihm ist ja
Nietzsche, der leidenschaftlichste B e j a h e r des Lebens,
ein gefährlicher, im Wahnsinn erlegener Verkünder
des PessimismusII Und wie spiegeln sich die
unverdauten Schriften Nietzsche'? und Schopen-
hauer's nun gar in dem Hirne des Studenten,
des geborenen Wasserkopfs und „mehrfach" erb-
lich Belasteten I Allen Respekt vor den wunder-
baren Geistesblitzen eines Schopenhauer, aber als
Philosoph der Gesundheit und Jugendbildner ist
mir der Münchner Bierwirth Schottenhammel noch
lieber. Und was haben an dem armen Mord-
buben nicht nur seine Mitschüler, sondern auch
seine Lehrer in leichtsinniger H e r z e n s r o h h e i t
gesündigt, indem sie ihn wegen seines viereckigen
Kopfes verhöhnten I Er bildet sich ein, häßlich
und von den verhaßten Weibern geinieden zu
sein, trotzdem wird er mit Erfolg zum Schürzen-
jäger, ist seinem Eisenacher platonischen Schätz-
chen maßlos untreu, und als ihm ein anonymer
Brief von der sehr erklärlichen Vorliebe der Hol-
den für die forschen Forsteleven Kunde bringt,
schnürt er sein — Revolvcrchen, fährt von Berlin
in die sagenreiche Heimath und geht mit dem
Schätzchen spazieren, um zuerst das dumme süße
Mädel und dann sich selbst niederzuknallen. Das
heißt: so war sein Wille als Vorstellung.
Irre ich nicht, so ging das Spazieren in der Richt-
ung des vörsel-, vulgo Venusbergs, wo die be-
rühmte Pforte sich befindet, welche Tannhäuser
seligen Angedenkens zu überschreiten verhindert
ward, nachdem er von seiner vergeblichen Romfahrt
heimgekehrt war. Auch der Student Fischer konnte,
als er die Geliebte aus Herzenswnnden bluten
sah, etwas nicht wiederfinden, nämlich den Muth,
sich selber zu erschießen; er war so ehrlich, vor
Gericht die nackte Wahrheit zu sagen: „aus
Feigheit."
Doch was sollen wir die ganze Jämmerlichkeit
dieser Tragikomödie hier wiederholen I Wichtiger
scheint mir, offen auszusprechen, daß die herrliche
Vorderseite unserer deutschen Bildringsmedaille
eine ganz ekelhafte Kehrseite hat. Hier
führen Gemüthsverrohnng, rechtsphilosophischer
Dilettantismus und forensische Sentimentalität
einen Cancan aus, der aus gesunde Nerven als
Brechreiz wirkt. Es ist wahrlich von Nöthen, in
den Schulen, Hörsälen und Gerichtsstubcn, in den
Vereinen und Besserungsanstalten Kurse über
die Religion des Herzens aufzunchmen;
den jungen Leuten es tief einzuprägen, daß
es nur eine vernünftige Philosophie gibt, näm-
lich die Philosophie der Gesundheit und
die heilige Achtung vor Leben und Ehre
der M i t m e n s ch e n, daß der P e s s i m i s in u s
als philosophisch destiIlirtes Lebens-
el exi r eine Verirrung ist, die der Einzelne für sich
behalten mag, die ihm aber nicht das Recht ver-
leiht, sein feiges Müthchen an seinen Mitmenschen
abzukühlen; daß es ein Unsinn ist, die von keinem
Verständigen bezweifelte „verminderte Zu-
rechnungsfähigkeit" dazu zu mißbrauchen,
um notorischen Schädlingen die Freiheit zu vef
schaffen und sie aufs Neue gegen die Gesellschaft
loszulassen. Als rückhaltloser Bekenner des De-
terminismus habe ich mit jedem Verbrecher das
größte Mitleid; ich betrachte jede menschliche Ver-
irrung als Folge angeborener oder anerlebter
Eigenschaften; aber noch größer ist mein Mitleid
mit den Gesunden, weil in ihnen die Hoffnung
auf allmähliche erbliche Entlastung der Menschheit
liegt. Sie zu schützen ist die größere Pflicht.
Ich bebaute den Studiosus Fischer, daß er von
so maßlosem Egoismus und Größenwahn befallen
war, um in seiner hirnrissigen, ungerechten Eifer-
sucht dem Töchterlein der Eisenacher Todtenfran
den Lebensfaden abschneiden zu können. Wenn
er nur eine Spur von der christlichen Nächsten-
liebe dieser einfachen Frau gehaht hätte, die dem
Mörder ihres Kindes verziehen hat, „weil er es
aus übergroßer Liebe gethan," so hätte er sein
Revolvcrchen gar nicht gekauft. Wir verzeihen
ihm, da ihm die Mutter der Getödteten verzeiht.
Aber ich möchte nicht, daß er nach zehn Jahren
zum zweiten Male solche Exekution an einem
hlüh nden, geistig und körperlich gesunden Mäv l
ausführe; darum hätte ich als Geschworener für
Mord, also für seine Vernichtung oder mindestens
für lebenslängliche Gefangenschaft gestimmt. Man
vergesse auch nicht, daß jede unterlassene Ab-
schreckung eine Ermunterung zum Ver-
brechest bedeutet! Solange wir neben den Zucht-
häusern nicht Schutzhäuser für verbrecher-
ische Entgleiste haben, halte ich die übertrie-
bene Geltendmachung der „verminderten Zurech-
nungsfähigkeit" für eine ziel- und steuerlose Senti-
mentalität, die sich an unserem gesammten ethischen
Leben noch furchtbar rächen wird. Es ist ein all-
mähliches Versinken in der pseudophilosophijchen
Verblödung. Georg virtb
München, 7. Dezember 1901.
19 0 1
Es ist erstaunlich und sonderbar,
was alles gesch h'n kann in einem Jahr:
Der Prinz von Wales — mir Respekt zu melden —
wird "König von England. — Die Burenhcldcn
Beugen sich trotzdem nicht in Transvaal. —
Als ausgezeichnetes Brennmaterial
Erweist sich i» Thina der Asbest. —
In Marseille und Neapel spukt die Pest. -
Bcstätigunskrisen in Berlin. —
Versuch des Grafen Zeppelin,
Lenkbar die Lüfte zu durchschiffen. —
Der Räuber Kncißl wird ergriffen. —
Die Briten morden lustig weiter. —
Graf Bülow, immer rosig und heiter,
will uns vcrrhcucrn das tägliche Brod. —
Den Li-Hung Tschang erlöst der Tod. —
waldcrsee kehrt nach Deutschland zurück. —
Ein Muscnrcmpcl mit wagncrmusik
wird von poffart auf freiem Feld
In der Nähe von München aufgestcllr. —
Der deutsche Kronprinz geht »ach Bonn. —
Der Zar kriegt abermals keinen Sohn. —
Der Fürst von Rcuß nimmt in seinem Land
Die Kindcrcrzichung in die Hand.
Der Emir stirbt von Afghanistan. —
In's Leben tritt Professor Spahn. —
Mit Bürgermeistern gcht's nicht so leicht. —
Virchow sein achtzigstes Jahr erreicht,
Belobt und belohnt, wie sich's gebührt. —
Miß Ellen Stonc wird von Räubern entführt,
Ob einer sic auslöst, ist ungewiß. —
Der Kaiser entwirft ein Tafclscrvice
Für den biedern Onkel zum Wiegenfest. -
Stürmischer Thamderlain-Protcst. —
Der gallische Hahn stiegt zornig aus
Und kehrt als getunktes Huhn »ach Haus.
Der Sultan will sich zu zahlen bequemen,
Doch muß er erst was zu leihen nehme». -r-
Dcr Schillcrprcis, als gänzlich veraltet,
wird zur Kriecher-Medaille umgcstaltct. !—
Gleich wie Jehovah aus dräuender Wolke
Spricht der greise Mommscn zum Fürsten
und Volke. —
In London bläst das Nebelhorn. —
In Berlin rauscht noch immer kein
Märchenborn,
Doch es schwayer wieder das Parlament —
Und drüber geht das Jahr zu End. a. m».
nstirde Ihnen raihen, meine Kcrrcn Professoren, die Sache nicht auf die Spitze z» treiben. Ein Fürst kann ohne Wissenschaft bestehen,
- aber ein Professor nicht ohne Fürsten."
L/Z
JUGEND
Nr. 52
Pseudopbllosopbiscbe Uerblödung
Sie ist wirklich ganz spezifisch deutsch, auf
das Innigste verguickt nicht nur mit unserer Kultur-
entwickelung , sondern auch mit unserem Volks-
charakter, mit dem verdammten Hang zum knirp-
sigen Größenwahn, zur gekränkten Leberwurst und
anderen noch viel giftigeren Würsten. Jawohl,
von Nietzsche zum Eisenacher Studenten Fischer,
der am Fuße der romantischen Wartburg seinen
„süßen blonden Schatz" schimpflich und meuchlings
abgemurkst hat, ist nur ein Schritt — so behauptete
der Herr Präsident des Gothaer Schwurgerichts.
Und der muß cs wissen, denn nach ihm ist ja
Nietzsche, der leidenschaftlichste B e j a h e r des Lebens,
ein gefährlicher, im Wahnsinn erlegener Verkünder
des PessimismusII Und wie spiegeln sich die
unverdauten Schriften Nietzsche'? und Schopen-
hauer's nun gar in dem Hirne des Studenten,
des geborenen Wasserkopfs und „mehrfach" erb-
lich Belasteten I Allen Respekt vor den wunder-
baren Geistesblitzen eines Schopenhauer, aber als
Philosoph der Gesundheit und Jugendbildner ist
mir der Münchner Bierwirth Schottenhammel noch
lieber. Und was haben an dem armen Mord-
buben nicht nur seine Mitschüler, sondern auch
seine Lehrer in leichtsinniger H e r z e n s r o h h e i t
gesündigt, indem sie ihn wegen seines viereckigen
Kopfes verhöhnten I Er bildet sich ein, häßlich
und von den verhaßten Weibern geinieden zu
sein, trotzdem wird er mit Erfolg zum Schürzen-
jäger, ist seinem Eisenacher platonischen Schätz-
chen maßlos untreu, und als ihm ein anonymer
Brief von der sehr erklärlichen Vorliebe der Hol-
den für die forschen Forsteleven Kunde bringt,
schnürt er sein — Revolvcrchen, fährt von Berlin
in die sagenreiche Heimath und geht mit dem
Schätzchen spazieren, um zuerst das dumme süße
Mädel und dann sich selbst niederzuknallen. Das
heißt: so war sein Wille als Vorstellung.
Irre ich nicht, so ging das Spazieren in der Richt-
ung des vörsel-, vulgo Venusbergs, wo die be-
rühmte Pforte sich befindet, welche Tannhäuser
seligen Angedenkens zu überschreiten verhindert
ward, nachdem er von seiner vergeblichen Romfahrt
heimgekehrt war. Auch der Student Fischer konnte,
als er die Geliebte aus Herzenswnnden bluten
sah, etwas nicht wiederfinden, nämlich den Muth,
sich selber zu erschießen; er war so ehrlich, vor
Gericht die nackte Wahrheit zu sagen: „aus
Feigheit."
Doch was sollen wir die ganze Jämmerlichkeit
dieser Tragikomödie hier wiederholen I Wichtiger
scheint mir, offen auszusprechen, daß die herrliche
Vorderseite unserer deutschen Bildringsmedaille
eine ganz ekelhafte Kehrseite hat. Hier
führen Gemüthsverrohnng, rechtsphilosophischer
Dilettantismus und forensische Sentimentalität
einen Cancan aus, der aus gesunde Nerven als
Brechreiz wirkt. Es ist wahrlich von Nöthen, in
den Schulen, Hörsälen und Gerichtsstubcn, in den
Vereinen und Besserungsanstalten Kurse über
die Religion des Herzens aufzunchmen;
den jungen Leuten es tief einzuprägen, daß
es nur eine vernünftige Philosophie gibt, näm-
lich die Philosophie der Gesundheit und
die heilige Achtung vor Leben und Ehre
der M i t m e n s ch e n, daß der P e s s i m i s in u s
als philosophisch destiIlirtes Lebens-
el exi r eine Verirrung ist, die der Einzelne für sich
behalten mag, die ihm aber nicht das Recht ver-
leiht, sein feiges Müthchen an seinen Mitmenschen
abzukühlen; daß es ein Unsinn ist, die von keinem
Verständigen bezweifelte „verminderte Zu-
rechnungsfähigkeit" dazu zu mißbrauchen,
um notorischen Schädlingen die Freiheit zu vef
schaffen und sie aufs Neue gegen die Gesellschaft
loszulassen. Als rückhaltloser Bekenner des De-
terminismus habe ich mit jedem Verbrecher das
größte Mitleid; ich betrachte jede menschliche Ver-
irrung als Folge angeborener oder anerlebter
Eigenschaften; aber noch größer ist mein Mitleid
mit den Gesunden, weil in ihnen die Hoffnung
auf allmähliche erbliche Entlastung der Menschheit
liegt. Sie zu schützen ist die größere Pflicht.
Ich bebaute den Studiosus Fischer, daß er von
so maßlosem Egoismus und Größenwahn befallen
war, um in seiner hirnrissigen, ungerechten Eifer-
sucht dem Töchterlein der Eisenacher Todtenfran
den Lebensfaden abschneiden zu können. Wenn
er nur eine Spur von der christlichen Nächsten-
liebe dieser einfachen Frau gehaht hätte, die dem
Mörder ihres Kindes verziehen hat, „weil er es
aus übergroßer Liebe gethan," so hätte er sein
Revolvcrchen gar nicht gekauft. Wir verzeihen
ihm, da ihm die Mutter der Getödteten verzeiht.
Aber ich möchte nicht, daß er nach zehn Jahren
zum zweiten Male solche Exekution an einem
hlüh nden, geistig und körperlich gesunden Mäv l
ausführe; darum hätte ich als Geschworener für
Mord, also für seine Vernichtung oder mindestens
für lebenslängliche Gefangenschaft gestimmt. Man
vergesse auch nicht, daß jede unterlassene Ab-
schreckung eine Ermunterung zum Ver-
brechest bedeutet! Solange wir neben den Zucht-
häusern nicht Schutzhäuser für verbrecher-
ische Entgleiste haben, halte ich die übertrie-
bene Geltendmachung der „verminderten Zurech-
nungsfähigkeit" für eine ziel- und steuerlose Senti-
mentalität, die sich an unserem gesammten ethischen
Leben noch furchtbar rächen wird. Es ist ein all-
mähliches Versinken in der pseudophilosophijchen
Verblödung. Georg virtb
München, 7. Dezember 1901.
19 0 1
Es ist erstaunlich und sonderbar,
was alles gesch h'n kann in einem Jahr:
Der Prinz von Wales — mir Respekt zu melden —
wird "König von England. — Die Burenhcldcn
Beugen sich trotzdem nicht in Transvaal. —
Als ausgezeichnetes Brennmaterial
Erweist sich i» Thina der Asbest. —
In Marseille und Neapel spukt die Pest. -
Bcstätigunskrisen in Berlin. —
Versuch des Grafen Zeppelin,
Lenkbar die Lüfte zu durchschiffen. —
Der Räuber Kncißl wird ergriffen. —
Die Briten morden lustig weiter. —
Graf Bülow, immer rosig und heiter,
will uns vcrrhcucrn das tägliche Brod. —
Den Li-Hung Tschang erlöst der Tod. —
waldcrsee kehrt nach Deutschland zurück. —
Ein Muscnrcmpcl mit wagncrmusik
wird von poffart auf freiem Feld
In der Nähe von München aufgestcllr. —
Der deutsche Kronprinz geht »ach Bonn. —
Der Zar kriegt abermals keinen Sohn. —
Der Fürst von Rcuß nimmt in seinem Land
Die Kindcrcrzichung in die Hand.
Der Emir stirbt von Afghanistan. —
In's Leben tritt Professor Spahn. —
Mit Bürgermeistern gcht's nicht so leicht. —
Virchow sein achtzigstes Jahr erreicht,
Belobt und belohnt, wie sich's gebührt. —
Miß Ellen Stonc wird von Räubern entführt,
Ob einer sic auslöst, ist ungewiß. —
Der Kaiser entwirft ein Tafclscrvice
Für den biedern Onkel zum Wiegenfest. -
Stürmischer Thamderlain-Protcst. —
Der gallische Hahn stiegt zornig aus
Und kehrt als getunktes Huhn »ach Haus.
Der Sultan will sich zu zahlen bequemen,
Doch muß er erst was zu leihen nehme». -r-
Dcr Schillcrprcis, als gänzlich veraltet,
wird zur Kriecher-Medaille umgcstaltct. !—
Gleich wie Jehovah aus dräuender Wolke
Spricht der greise Mommscn zum Fürsten
und Volke. —
In London bläst das Nebelhorn. —
In Berlin rauscht noch immer kein
Märchenborn,
Doch es schwayer wieder das Parlament —
Und drüber geht das Jahr zu End. a. m».
nstirde Ihnen raihen, meine Kcrrcn Professoren, die Sache nicht auf die Spitze z» treiben. Ein Fürst kann ohne Wissenschaft bestehen,
- aber ein Professor nicht ohne Fürsten."
L/Z