Nr. 27
JUGEND
1902
rrcomentbilder sub specie aeternitatis
Relativität
„Das Schicksal erfüllt uns bisweilen unsere
wünsche, aber auf seine Weise."
Aus einer Unterhaltung heraus hörte ich: „Der glücklichste
Mensch ist doch ein Dnmmkoxf, der sich für klug hält; nur muß
er ans Gunst des Schicksals oder trog seiner Ungunst an diesem
Glauben nicht irre werden. Dann aber hat er und er allein alles
Glück der Duinmheit und das der Klugheit dazu."
„Das ist ganz richtig", sagte der andere, „wer bloß der
Klügste ist, ist noch lange nicht der Klügste."
Der erste machte ein etwas geärgertes Gesicht, weil er fühlte,
für wie klug sich der zweite hielt, indem er die Klugheit so herab-
setztc. „weißt Du", sagte er, „ich habe mal eine hübsche Ge-
schichte von jemandem gehört, der sich dem Teufel dafür ver-
schrieb, daß er ihn zum Klügsten aller Menschen machte. Der
Teufel aber verstand sein Geschäft. Als der Ehrgeizige am näch-
sten Morgen erwachte, ging sogleich der ganze kfaushalt schief
und krumm, den intelligente Dienstboten sonst mit ruhiger Selbst-
verständlichkeit besorgt hatten. Sein Junge kam weinend aus
der Schule zurück; er hatte gar nichts verstanden und alles falsch
gemacht, und der Lehrer hatte ihn sehr gestraft, weil das nur
Faulheit wäre; denn so plötzlich würde kein Mensch dumm, der
gestern noch alles ordentlich begriffen hätte. Als er am Abend
seiner Fra», mit der er sein geistiges Leben völlig theilte, von
der Förderung seiner Arbeiten erzählte, merkte er eine peinliche
Anstrengung in ihren Zügen, daun ein Ermatten, eine schmerz-
liche, verzichtende Müdigkeit — offenbar hatte sie ihn nicht ver-
standen, obgleich er genau wußte, daß er nichts Schwierigeres
gesagt hatte, als tausendmal zwischen ihnen besprochen war.
Nun aber hatte sich ein Abgrund des Geistes zwischen ihnen
aufgethan, von dem er mit Schrecken fühlte, daß er noch andere
werthe ihrer Gemeinsamkeit, als die geistigen begraben könnte.
Denn wohl kann ganz jenseits von aller Verständigung des Ver-
standes die tiefste Einheit der Seelen zwischen zwei Menschen anf-
wachsen; ist aber von vornherein die Gemeinsamkeit des Geistes
in die des Gemüthes hincingcwachscn, so kann sie nicht aus dem
Ganzen heransgcriffen werden, ohne daß er sich verblutet. Nun
verlor er mit den Ferneren die Verständigung nicht weniger als
mit den Nächsten. Er, der sich stets gerühmt hatte, sowohl mit
klugen Vorgesetzten, wie mit klugen Untergebenen auszukommen,
fand zu beiden keine Brücke mehr. Die einen mißtrauten ihm,
die andern vertrauten ihm nun so blindlings, daß er sich davor
nicht zu retten wußte. Und bei alle dem das unheimliche Ge-
fühl, daß er sich gar nicht verändert hätte, kein Trost in tieferer
Weisheit, kein Glück in weiterem geistigem Umfassen der Dinge!
Da wurde es ihm eines Tages klar, wie der Teufel Wort ge-
halten hatte: er hatte ihn freilich zum klügsten Menschen ge-
macht, aber nicht dadurch, daß er klüger wurde, sondern so, daß
alle anderen dümmer wurden!"
„Sehr gut", sagte der andere ganz ernsthaft. „Nun ver-
stehe ich erst die Feindseligkeit gewisser Parteien gegen die Volks-
schule und die Aufklärung der Massen. Ls liegt den Herren
gar nichts daran, daß die andern alle dumm sind, Gott bewahre!
Nur sic wollen klug sein, was doch ein völlig legitimer Wunsch
ist, und da Klugheit und Dummheit relativ sind, wie mich Dein
Geschichtchcn gelehrt hat, ist es ja völlig gleich, ob sie sich steigern
oder die andern herunterdrückcn. Ls ist also eine schnöde Ver-
leumdung, sic Anwälte der Verdummung zn nennen, im Gegen«
thcil: das ganze Verfahren ist nur eine Huldigung an das Prinzip
der Intelligenz."-—
Reinheit
In Indien ist es von jeher Sitte, de» heiligen Büßern
Blumen darzubringen. Aber die Gabe verliert ihren Werth,
wenn man vorher selbst daran gerochen hat.
Davon können wir noch etwas lernen, wir, die wir uns so
viel ans die Subtilität unseres Lmpfiudcns einbilden und dabei,
wenn wir den Göttern ein Dpferfeuer anzünden, erst noch Kote-
letts daran braten! wir glauben wirklich, unser ganzes Ich
einem geliebten Menschen hinzugeben, als ob cs ungeschehen zu
machen wäre, daß wir mit diesem Ich schon ungezählte kciden-
schaftcu genossen und es zu hundert. räuberischen Phantasieen
ansgcspannt haben. wir schaffen Kunst und Lrkcnntniß, und
glauben an die absolute Reinheit, mit der wir dem Ideal dienen,
wenn das Innere des Werkes keine Beeinflussung durch den
willen zum Gclde zeigt, der an seinem Anfänge und Lude
steht. Gewiß, das Werk ist rein — aber unsere Seele? wenn
wir an Plato und Franziskus denken, an Fra Augelico und
Spinoza — geht uns da nicht auf, daß unsere Seele, die wir
der Idee darbringen, ihre Heiligkeit verloren hat, wenn sie auf
dem Wege zur Gpferstättc ihrem thierischen Doppelgänger, dem
Ich des Egoismus begegnet ist, wenn sie am Gelde vorbeigestrcift
hat, das keinen berührt, ohne abzufärben? Und auch darauf sind
wir stolz, daß wir Versuchungen überwunden haben, rein aus
ihnen hervorgegangen sind, wirklich rein? wir können kein
Gericht „versuchen", ohne ein Stückchen davon zu genieße»,
und so kann uns das Böse nicht versuchen, ohne ein Stückchen
von uns zu nehmen. Und wie wir uns auch zurückgewinnen
mögen — cs bleibt immer der Schatten au uns, daß wir das
verbotene in der Ahnung seines Reizes berührt haben. So
sehr hat uns vielfältige Menschen der Gegenwart das Leben in
seine wirrniß, seine vorwegnahmcn, seine heimliche Gier hinein-
gezogen, daß w i r keinem Heiligen mehr eine Blume darbriugen
können, ohne daran gerochen zu haben.
Nur Alles
Ich habe als Knabe die berühmte Geschichte von den beiden
Brüdern, die sich um ein Landgut stritten, nie recht verstanden.
Dem einen, der das Ganze beanspruchte, wurde die Hälfte zu-
gcsprochen, aber die beste und eigentlich allein ertragreiche,
worauf er ausgerufen habe: der Richter wisse nicht, daß die
Hälfte mehr sei als das Ganze. Ich dachte mir, selbst wenn
die andere Hälfte gar nichts gegolten habe, so wäre die eine
doch höchstens ebenso viel werth gewesen wie das Ganze; dieses
könne nicht -weniger sein, als die Theile, da cs sie doch in jedem
Fall einschlösse! Das war die rechte kindliche Logik, die an
Kepfd» und lateinischen Vokabeln gewachsen ist, wo denn aller-
dings das viele nichts anderes ist als eben vieles wenige, und
wo, was der liebe Gott kann, dasselbe ist, wie was der Vater
kann, nur etwa fünf- oder zehnmal so viel. Und erst, als
ich nach dieser naiven Logik auch noch die rabiate Studenten-
logik überwunden hatte, die nicht mit sich handeln läßt, lernte
ich die Dinge fühlen, die vieles sind und doch nicht das wenige
eiuschließen. Allmählich erwuchs mir der Zorn über die Leute,
die von Gott verlangen, daß er ihnen alle kleinen wünsche er-
fülle, da er doch nur den einen größten gewähren kann, nach
dem Heil der Seele, von dem Sinn des Daseins fordern sie, daß
er ihnen jeden Augenblick verständlich mache, da er doch nicht
für die Stunde gilt, auch nicht für das Jahr, sondern nur für
das Leben. Die Liebe schätzen sie danach, daß sic ihnen jeden
Augenblick fühlbar und lieblich mache, und wissen nicht, daß
das Ganze der Liebe nicht aus vielem Einzelnen besteht, daß
sie nicht das einzelne Gefühl, nicht den einzelnen Gedanken,
sondern die Seele zu erfüllen hat. Sie ahnen nicht den Stolz
der großen Dinge, die es verschmähen, ihr Ganzes aus Theilen
zusammenzubettelu, von denen jeder weniger wäre als das Ganze.
Und das Satyrspiel zu dieser großen Dramatik der Dinge: hat
sich nicht mancher Millionär beklagt, daß er sich die bescheidenen
Freuden überhaupt nicht mehr beschaffen könne, die der tau-
sendste Thcil seines Reichthums dem Acrmcrcn gewährt?
Ein altes deutsches Tanzlied hat das schön gelehrt. Ls
war einmal ein Ritter, der unglaublich geizig war und doch
eine schöne, junge Frau hatte. Lines Tages ging er auf eine
Reise, und kaum war er fort, so klopfte ein Vagant an die
Thür und bat um ein Essen, denn er hätte laugen Hunger.
Die Frau jammerte das, und sie ging, ihm Fleisch und wein
z» holen — aber siehe da, der Ritter hatte alles fest verschlossen,
che er ging. Keine Krume war im Hause zu finden. Da
wäre manche Frau recht beschämt und verzweifelt gewesen. Diese
aber war es nicht, sondern sie faßte den Vaganten um den
Hals und gab ihm einen Kuß — da sie nicht weniges geben
konnte, so gab sie alles. Der Vagant aber ging selig von dannen,
viel weniger als satt, aber viel mehr als satt.
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G. S.
JUGEND
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rrcomentbilder sub specie aeternitatis
Relativität
„Das Schicksal erfüllt uns bisweilen unsere
wünsche, aber auf seine Weise."
Aus einer Unterhaltung heraus hörte ich: „Der glücklichste
Mensch ist doch ein Dnmmkoxf, der sich für klug hält; nur muß
er ans Gunst des Schicksals oder trog seiner Ungunst an diesem
Glauben nicht irre werden. Dann aber hat er und er allein alles
Glück der Duinmheit und das der Klugheit dazu."
„Das ist ganz richtig", sagte der andere, „wer bloß der
Klügste ist, ist noch lange nicht der Klügste."
Der erste machte ein etwas geärgertes Gesicht, weil er fühlte,
für wie klug sich der zweite hielt, indem er die Klugheit so herab-
setztc. „weißt Du", sagte er, „ich habe mal eine hübsche Ge-
schichte von jemandem gehört, der sich dem Teufel dafür ver-
schrieb, daß er ihn zum Klügsten aller Menschen machte. Der
Teufel aber verstand sein Geschäft. Als der Ehrgeizige am näch-
sten Morgen erwachte, ging sogleich der ganze kfaushalt schief
und krumm, den intelligente Dienstboten sonst mit ruhiger Selbst-
verständlichkeit besorgt hatten. Sein Junge kam weinend aus
der Schule zurück; er hatte gar nichts verstanden und alles falsch
gemacht, und der Lehrer hatte ihn sehr gestraft, weil das nur
Faulheit wäre; denn so plötzlich würde kein Mensch dumm, der
gestern noch alles ordentlich begriffen hätte. Als er am Abend
seiner Fra», mit der er sein geistiges Leben völlig theilte, von
der Förderung seiner Arbeiten erzählte, merkte er eine peinliche
Anstrengung in ihren Zügen, daun ein Ermatten, eine schmerz-
liche, verzichtende Müdigkeit — offenbar hatte sie ihn nicht ver-
standen, obgleich er genau wußte, daß er nichts Schwierigeres
gesagt hatte, als tausendmal zwischen ihnen besprochen war.
Nun aber hatte sich ein Abgrund des Geistes zwischen ihnen
aufgethan, von dem er mit Schrecken fühlte, daß er noch andere
werthe ihrer Gemeinsamkeit, als die geistigen begraben könnte.
Denn wohl kann ganz jenseits von aller Verständigung des Ver-
standes die tiefste Einheit der Seelen zwischen zwei Menschen anf-
wachsen; ist aber von vornherein die Gemeinsamkeit des Geistes
in die des Gemüthes hincingcwachscn, so kann sie nicht aus dem
Ganzen heransgcriffen werden, ohne daß er sich verblutet. Nun
verlor er mit den Ferneren die Verständigung nicht weniger als
mit den Nächsten. Er, der sich stets gerühmt hatte, sowohl mit
klugen Vorgesetzten, wie mit klugen Untergebenen auszukommen,
fand zu beiden keine Brücke mehr. Die einen mißtrauten ihm,
die andern vertrauten ihm nun so blindlings, daß er sich davor
nicht zu retten wußte. Und bei alle dem das unheimliche Ge-
fühl, daß er sich gar nicht verändert hätte, kein Trost in tieferer
Weisheit, kein Glück in weiterem geistigem Umfassen der Dinge!
Da wurde es ihm eines Tages klar, wie der Teufel Wort ge-
halten hatte: er hatte ihn freilich zum klügsten Menschen ge-
macht, aber nicht dadurch, daß er klüger wurde, sondern so, daß
alle anderen dümmer wurden!"
„Sehr gut", sagte der andere ganz ernsthaft. „Nun ver-
stehe ich erst die Feindseligkeit gewisser Parteien gegen die Volks-
schule und die Aufklärung der Massen. Ls liegt den Herren
gar nichts daran, daß die andern alle dumm sind, Gott bewahre!
Nur sic wollen klug sein, was doch ein völlig legitimer Wunsch
ist, und da Klugheit und Dummheit relativ sind, wie mich Dein
Geschichtchcn gelehrt hat, ist es ja völlig gleich, ob sie sich steigern
oder die andern herunterdrückcn. Ls ist also eine schnöde Ver-
leumdung, sic Anwälte der Verdummung zn nennen, im Gegen«
thcil: das ganze Verfahren ist nur eine Huldigung an das Prinzip
der Intelligenz."-—
Reinheit
In Indien ist es von jeher Sitte, de» heiligen Büßern
Blumen darzubringen. Aber die Gabe verliert ihren Werth,
wenn man vorher selbst daran gerochen hat.
Davon können wir noch etwas lernen, wir, die wir uns so
viel ans die Subtilität unseres Lmpfiudcns einbilden und dabei,
wenn wir den Göttern ein Dpferfeuer anzünden, erst noch Kote-
letts daran braten! wir glauben wirklich, unser ganzes Ich
einem geliebten Menschen hinzugeben, als ob cs ungeschehen zu
machen wäre, daß wir mit diesem Ich schon ungezählte kciden-
schaftcu genossen und es zu hundert. räuberischen Phantasieen
ansgcspannt haben. wir schaffen Kunst und Lrkcnntniß, und
glauben an die absolute Reinheit, mit der wir dem Ideal dienen,
wenn das Innere des Werkes keine Beeinflussung durch den
willen zum Gclde zeigt, der an seinem Anfänge und Lude
steht. Gewiß, das Werk ist rein — aber unsere Seele? wenn
wir an Plato und Franziskus denken, an Fra Augelico und
Spinoza — geht uns da nicht auf, daß unsere Seele, die wir
der Idee darbringen, ihre Heiligkeit verloren hat, wenn sie auf
dem Wege zur Gpferstättc ihrem thierischen Doppelgänger, dem
Ich des Egoismus begegnet ist, wenn sie am Gelde vorbeigestrcift
hat, das keinen berührt, ohne abzufärben? Und auch darauf sind
wir stolz, daß wir Versuchungen überwunden haben, rein aus
ihnen hervorgegangen sind, wirklich rein? wir können kein
Gericht „versuchen", ohne ein Stückchen davon zu genieße»,
und so kann uns das Böse nicht versuchen, ohne ein Stückchen
von uns zu nehmen. Und wie wir uns auch zurückgewinnen
mögen — cs bleibt immer der Schatten au uns, daß wir das
verbotene in der Ahnung seines Reizes berührt haben. So
sehr hat uns vielfältige Menschen der Gegenwart das Leben in
seine wirrniß, seine vorwegnahmcn, seine heimliche Gier hinein-
gezogen, daß w i r keinem Heiligen mehr eine Blume darbriugen
können, ohne daran gerochen zu haben.
Nur Alles
Ich habe als Knabe die berühmte Geschichte von den beiden
Brüdern, die sich um ein Landgut stritten, nie recht verstanden.
Dem einen, der das Ganze beanspruchte, wurde die Hälfte zu-
gcsprochen, aber die beste und eigentlich allein ertragreiche,
worauf er ausgerufen habe: der Richter wisse nicht, daß die
Hälfte mehr sei als das Ganze. Ich dachte mir, selbst wenn
die andere Hälfte gar nichts gegolten habe, so wäre die eine
doch höchstens ebenso viel werth gewesen wie das Ganze; dieses
könne nicht -weniger sein, als die Theile, da cs sie doch in jedem
Fall einschlösse! Das war die rechte kindliche Logik, die an
Kepfd» und lateinischen Vokabeln gewachsen ist, wo denn aller-
dings das viele nichts anderes ist als eben vieles wenige, und
wo, was der liebe Gott kann, dasselbe ist, wie was der Vater
kann, nur etwa fünf- oder zehnmal so viel. Und erst, als
ich nach dieser naiven Logik auch noch die rabiate Studenten-
logik überwunden hatte, die nicht mit sich handeln läßt, lernte
ich die Dinge fühlen, die vieles sind und doch nicht das wenige
eiuschließen. Allmählich erwuchs mir der Zorn über die Leute,
die von Gott verlangen, daß er ihnen alle kleinen wünsche er-
fülle, da er doch nur den einen größten gewähren kann, nach
dem Heil der Seele, von dem Sinn des Daseins fordern sie, daß
er ihnen jeden Augenblick verständlich mache, da er doch nicht
für die Stunde gilt, auch nicht für das Jahr, sondern nur für
das Leben. Die Liebe schätzen sie danach, daß sic ihnen jeden
Augenblick fühlbar und lieblich mache, und wissen nicht, daß
das Ganze der Liebe nicht aus vielem Einzelnen besteht, daß
sie nicht das einzelne Gefühl, nicht den einzelnen Gedanken,
sondern die Seele zu erfüllen hat. Sie ahnen nicht den Stolz
der großen Dinge, die es verschmähen, ihr Ganzes aus Theilen
zusammenzubettelu, von denen jeder weniger wäre als das Ganze.
Und das Satyrspiel zu dieser großen Dramatik der Dinge: hat
sich nicht mancher Millionär beklagt, daß er sich die bescheidenen
Freuden überhaupt nicht mehr beschaffen könne, die der tau-
sendste Thcil seines Reichthums dem Acrmcrcn gewährt?
Ein altes deutsches Tanzlied hat das schön gelehrt. Ls
war einmal ein Ritter, der unglaublich geizig war und doch
eine schöne, junge Frau hatte. Lines Tages ging er auf eine
Reise, und kaum war er fort, so klopfte ein Vagant an die
Thür und bat um ein Essen, denn er hätte laugen Hunger.
Die Frau jammerte das, und sie ging, ihm Fleisch und wein
z» holen — aber siehe da, der Ritter hatte alles fest verschlossen,
che er ging. Keine Krume war im Hause zu finden. Da
wäre manche Frau recht beschämt und verzweifelt gewesen. Diese
aber war es nicht, sondern sie faßte den Vaganten um den
Hals und gab ihm einen Kuß — da sie nicht weniges geben
konnte, so gab sie alles. Der Vagant aber ging selig von dannen,
viel weniger als satt, aber viel mehr als satt.
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G. S.