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Nr. 27

. JUGEND -

1902

©ewittersturm

Fidus ''Berlin)

rioUelleripkantasieen

Wter selige Gounod hat sie am Bändel. Ein
OhrenschmausI sagt mein Nachbar und macht
eine schlürfende Bewegung mit den Lippen, wie
einer, der schwedischen Punsch kostet. Wie ist der
Gute oberflächlich! Sein Trommelfell scheint das
Letzte zu sein, was schwingt. Bei mir aber klettern
diese süßen Canaillen von Noten über den Hör-
nerven, fressen sich behaglich durch den Schläfen-
lappen und kriechen vergnügt hinunter — wo in
purpurner Finsternis; bergetief die seligen Geheim-
nisse des Spinalen einen kichernden Neigen tanzen.
Und — der Himmel oder ein erlesener Hirnnnatom
offenbare mir den Klingelzug, der von dort unten
mein Hinterhaupt ans dem Schlummer schellt: meine
Augen werden aufgethan — ich sehe plötzlich. Die
Wellen des Schmnckwalzers verplätschern ins Un-
bewußte — ich sehe nur noch. Eine Dame —
natürlich...

.. Eine sehr distinguierte Dame, Sic kehrt
mir den Rücken. Ihr Gatte liest die Zeitung:
der Schmuckwalzcr stört seine Nerven nicht mehr auf,
die Kobolde stehen vor zugefrorenen Bahnen; Aer--
kalkung ncnnt's sein Hausarzt — Gott ja, der
Burgunder, die Importen, die Jngenderinncrun-
gen. . . Also darf ich die Daine betrachten. Ein
schlichtes graublaues Kleid; der Kragen reicht hinter
den Oehrchen bis in die dunkelblonden Haarwellen
hinein, und wird, wo er den Nacken umschließt,
von ihrem mächtigen, losen Knoten bedeckt. Die
Schleppe ruht auf dem warmen Kies des Schloß-
gartens. Ein Stück Ohrläppchen, ein winziges,
ist das einzige Lebendige, was ich sehe. Enttäuscht
will ich mich abwcnden — da hustet mein Nach-
bar ins seligste Pianissimo hinein: er ist nnschuldig
daran, das ist so die Tücke der Nervenbahnen,
Und die distinguierte Dame thnt, was jede Dame

zwischen fünfzehn und fünfzig in solchen Augen-
blicken thun muß, wohlverstanden: sie faßt an
ihren Haarknoten, Eine schninle, aber weiche, eine
weiße, aber warme — man sieht das — eine
völlig unberingte Hand umschließt für eine Sekunde
die dunkelblonde Pracht. Das nackte Weiß bleicht
sich noch um einen leisen Schinimer, verstohlen
spielen die Sehnen unter der weichen Hülle —
dann sinkt die Hand leise in den Schoß zurück.
Das Programm ist zu Ende; die Leute klatschen;
an den Bewegungen der distinguierten Dame sehe
ich, daß sie Handschuhe überstreift. Er zahlt, man
geht. Sie ist häßlich von Gesicht. Sie ist häßlich,
knurrt vergnügt mein Nachbar, der einen Trauring
trägt. So werden die Ehemänner , . . Ja, aber —
falle ich ein und stocke dann: Genüsse, wie die
feine Freude an einer schönen Hand soll man im
Busen hübsch bewahren — aber sie hat schönes
Haar, sage ich verlegen. Das kann falsch sein,
mte il)ve Zähne, brummt der Nachbar; aber —
und wieder schlürft er schwedischen Punsch im Geiste
— sie hat eine wunderbare Hand; eine seltene
Hand. Ich bin starr: so demokratisch also ist diese
Aesthetik? Darauf habe ich nicht geachtet, lügeich
und empfehle mich; er grüßt überlegen, eitel —
er wiegt sich inr Träume, ein Genußkünstler, ein
raffinierter, zu sein-

Woher dieser Händekultus in unseren Tagen?
Von den Praerasacliten? Von den Graphologen?
Von den Antidarwinisten? Von unserer Ner-
vosität, von unserer Entartung — Fetischismus?
Ach, nichts von alledem, und das Wahre liegt so
nah', einzig von unserer lieben Frauen Toilette.

Alle Schönhcitssehnsncht, soweit sie auf den
menschlichen Leib geht, wurzelt in zweien unserer
Sinne: im Schauen und im Betasten, Das ver-
knüpft sich beides, keiner weiß, wo, aber es ist so:
im Anschaucn schon fühlen wir, und darum lieben

wir den Marmor, und in gebührlicher Distanz allen-
falls noch die Terracotta, als die einzigen Stoffe,
um Leiber zu bilden: weil sie allein uns Illu-
sionen des Betastcns schaffen, die der lebendigen
Berührung ähneln. Alle Schönheitssehnsucht aber
geht, im Schauen und Betasten, auf den nackten
Leib, und alle Toilettenkunst geht darauf aus, das
Sehnen nach dem Nackten in uns zu steigern:
darum wieder verabscheuen wir Alles, was dieser
Nacktheit ähnlich zu sein sich müht, ob cs die nackte
Form herausarbeite oder die nackte Oberfläche vor-
täusche: das ist die Barbarei des Trikots, ein
Surrogat des Nackten nach Forin und Farbe und
Fühlung zu sein; das ist die unendlich überlegene
Schönheit des Linnens und der Seide, ihre Un-
vergleichbarkeit mit dem Nackten, ihr Knittern und
Knistern, ihr Rieseln und Rauschen — all dieser
Kontrast zur nackten Wirklichkeit, an dem die Schön-
heitssehnsucht sich hinaufrankt, der auch für alle
Zeit das griechische Gewand als Ideal des Kleides
sichert — in nnsern Tagen, faute de mieux, als
Ideale das Matroscnjäckchen, das Morgenklcid und
den Abendmantel... '

Unser Klima, dies Klima der Schwindsucht und
des Rheumatismus, nöthigt Kleidung vom Kopf
bis znm Fuß uns auf; unsere Mode deckt, mit
steigender Consequenz, zu, was das Klima nackt
zu zeigen verstatten würde, und die Dame im
Straßenanzug trägt nur ihr Gesicht noch ohne
Hülle. Vor dem aber muß alles ästhetische Sehneu
seinen Sturmlanf bremsen. Unserer Frauen Ge-
sichter hören täglich mehr auf, typisch zu sein;
das Charakteristische meißelt und feilt an ihnen,
Ausdruck ist unsere Forderung, die immer gering-
schätziger au den süßen Lärvchen vorbeigeht. Dieser
seltsamen Entwickelung Fäden verlieren sich, suchen
wir sic auf, im großen Gewebe unserer ganzen
Persönlichkeitskultur. Aber auch in der härtesten

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Ernst Gystrow: Toilettenphantasien
Fidus: Gewittersturm
 
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