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Nr. 30

JUGEND

1902





fter Grundtrieb des Weibes gerade in gei-
stig und künstlerisch hervorragendenFrauen
lebt — das;, wie alles Instinktive sich durch das
Bewusstsein steigert, auch der mütterliche Instinkt
durch das klarere Bewusstsein, durch die größere
Empfindungswärme dieser Frauen eine intensive
Steigerung erführt — selbst da, wo durch die Ver-
hältnisse das natürliche Ausleben: die Hingabe an
das eigene Kind — versagt bleibt. Freilich ist es,
angesichts unserer komplizirten sozialen Zustande,
zu allerlei Verivirrnngeu gekommen. Der Ruf:
„Ein Kind und Arbeit!" scheint mir keine Lösung
zu bedeuten: er macht aus der Roth eine Tugend.
Mit dem geschärften Verantwortungsgefühl, das
»ns die Kultur übermittelt hat, sollten wir erkennen,
das; ein Kind, dem >vir das Leben geben, das Recht
ans seine beiden Eltern hat, ans ein harmonisches
Milieu, eine Ehe, in der Vater und Mutter ver-
eint das Kind zu einem höheren Menschen heran-
zubilden suchen. In dem Rus der Frauen: „Ein
Kind und Arbeit" steckt im Grunde deisclbc Egois-
mus, wie in dem rücksichtslosen „Ausleben" des
Mannes, das jetzt Hygieniker und Sozialpolitiker
als eine der grössten Gefahren für unsere Gesellschaft
erkennen und bekämpfen, von der seelisch verödenden
Wirkung dieses „Anslebcns" noch gar nicht zu reden.

Nein, damit kommen wir in Wahrheit nicht weiter.
Die Ehe, die innigste Lebensgemeinschast, die gemein
same Vernntivortung sür die beiden angehörenden
Kinder ausheben zu wollen, hieße thatsüchlich die
iverthvollsten Produkte einer jahrhundertelangen
menschlichen Entwicklung wieder vernichten. Auch der
Mann hat mit steigender Kultur eine steigende Ver-
pflichtung seinen Kindern gegenüber, eine gesteigerte
Freude an der Erziehung seiner Kinder erfahren.
Wenn irgend etwas das thörichte Gerede von Nietz-
iche's „Jmmoral" zum Schlvcigen bringen kann,
so ist cs seine Betonung des Bcrantwortlichkeits-
bewußtseins der kommenden Generation
gegenüber. Die ernste Frage: „Bist Du ein
Mensch, der ein Kind sich tvünschen darf?" gilt so-
tvohl für das Weib, lvie für den Mann. Das
stärkste Band zwischen Mann und Weib bildet die
gemeinsame Berantivortung, die „Ehrfurcht vor ein-
ander als vor den Wollenden eines solchen Willens":
über sich hinaus zu bauen. Ehe — in diesem höch-
sten Sinne gefasst — kan» es lvohl beanspruchen,
daß ihr Opfer gebracht werde» — und zweifellos
ist es die Frau gctvescn und wird cs auch in Zu-
kunft bleiben, von der dabei die grössten Opfer ge-
fordert tverden. Hat sic eS in vergangenen Jahr-
hunderten mehr unbewußt gethan, so wird sic cs
in Zukunft bewußt thu». Die Frage ist nur, wie
tveit dieses Opfer zu gehen hat, tvo cs anfängt, ein
Unrecht an ihrer Persönlichkeit zu werden. Diese
Frage wird sich naturgemäß nur sehr individuell
beantworten lassen. Zwei Frauen, Adele Gerhard
und Helene Simon, haben cs nnternommcn, die
verschiedenen individuellen Erfahrungen bedeutender
Frauen zu prüfen und die Ergebnisse ihrer psycho-
logischen und soziologischen Studie;; niedergelegt in
ihrem Buche: „Mutterschaft und geistige Arbeit"
(Verlag von G. Reiner, Berlin 1901). Es ist viel-
leicht das tiefste Buch, das die Probleme der Frauen
frage in dem letzten Jahrzehnt hervorgebracht haben.
Es erfüllt inmitten heftiger Tageskämpfc die noth-
wendige Ausgabe, mit kundiger Hand unter die an
der Oberfläche liegendci; Argumente Hinabzugreisen,
in das Dunkel innerster Seelenkämpfe hineinzuleuch-
ten — nicht zu richten und zu verdammen, sondern
einfach psychologisch verstehen zu lehren. Es steht mit
seiner seinen Analyse bedeutender Frauen auf der
Grenze, wo Wisserschaft und Kunst sich berühren.
Nicht in dem Gesammtcrgebniß der Enquete, die
von 400 geistig produktiven Frauen Antwort erbat,
wie sich geistiges Schassen und Muttcrberuf vereinten
— scheint mir der grösste Werth des Buches zu liegen.
Selbst ihr Resultat, daß an die geistige Arbeit der
Mutter der Maßstab des nuersetzlichcn Kulturwerkes
angelegt werden müsse, „um über ihre Existenz-
bercchtignng zu entscheiden," klingt mir noch zu dog-
matifch. Denn wer sollte Richter darüber sein? Wir
tverden cs wohl der Selbstverantwortung der ein-
zelnen Persönlichkeit überlassen müssen, in jedem

E. Neumann (München)

Filia hospitalis

„Unser Student fährt heim zu seiner Braut. Wb die wohl auch so gut mit ihm ist wie ich?"

Mutterschaft uns geistige Arbeit

von Dt. phil. Ifolenc Stocher

„Alles geben dir (Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz:

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichen, gailz."

LLUir Frauen müssen danil sicherlich die Lieblinge
der Götter sein — denn ivcr kostete liefet- alle
Schmerzen aus? lind wenn wir die leideilsfähigsten
Geschöpfe sind, so siild ivir damit ja mtcl) die srcude-
fnhigsten; tvenn wir uns selbst auch oft noch nicht
ailf diese Frendesähigkeit verstehen. Schon jede cin-
sache Frau, die den Kreislauf des Lebens dnrch-
lncssen, die Schmerzen und Freuden der Gattin und
Mutter durchkostet hat, gewinnt daniit einen Lebcns-
gehalt, der dem Manne sür immer verschlossen ist.
Wie viel reicher und intensiver gestaltet sich aber
noch das seelische Leben der Fra», die daneben noch
die Feinheit und Kühnheit des Denkens, die Freu-
digkeit des Handelns unter eigener Verantwortung,
die Roth und Seligkeit geistigen Eihassens in sich
durchleben darf! Ist das nicht säst zlt viel für einen
Menschen? Und dürfen wir uns beklagen, wenn
wir für dies unerhört reiche Leben mit heißen Con-
fliete» bezahlen müssen?

Wir müßten Utis schlecht auf das Leben verstehen
und träges, stnulpfcs Behagen für das höchste Wut
halten, wenn >vir diesen Preis nicht zahlen wollten.
Aber freilich, noch gibt es Männer llnd Frauen
genug, die solche Conflictc bereits als einen Ein-
ivand gegen eine höhere Entlvicklung ansehen, die
ihnen durch eine reinliche Scheidung von Frauen,
die nichts als Geschlechtswese» sind und solchen,
die nur geistige Arbeiterin sind, aus dem Wege
gehen möchten. Sie begreifen nicht, das; erst das
volle Durchleben aller Seite» des menschlichen
Daseins zu einem ganzen Menschen niacht, daß die
Dinge, »in die wir gekämpft und gelitten, uns dop-
pelt theuer werden. Eine Mittler, die um dcr
Kinder willen vielleicht einen Theil ihrer geistigen
Produktivität opfern musste, wird diese Kinder ge-
rade um so tiefer und inütterlicher lieben — tun
des Opfers willen, das sic sür sie gebracht hat.

In den Anfängen der Frauenbewegung, vor dreißig
Jahren, als man sich vor allem um eine Erschließung
neuer Berufe sür Franc» mühte, mochte sür Draußen-
stehende der Vorwurf berechtigt sein, ;nan vergesse
das Weib, die Mutter in der Frau. Heute dürste
man diesen Vorwurf nicht mehr erheben. Heute
tvissc» >vir, daß die Mülterlichkeit als tief
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Ernst Neumann-Neander: Filia hospitalis
Helene Stöcker: Mutterschaft und geistige Arbeit
 
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