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Nr. 31

JUGEND

1902

Der Cavalier

Man (Tcl)t ihn stcrs bei den Premieren,
Loncerren, Nennen, überall,

Auf's eleganteste gekleidet,

Als war' das Leben nur ein Ball,

Und übernächtig steht er aus,

Er kommt auch nie vor vier Uhr morgens,
Ja, oftmals mittags erst nach Haus,

Er spricht entsprechend, trägt Monocle,

Sein Blick sagt deutlich: „wir sind wir!"
Ein Tagedieb der bejs'ren ‘Steife,

Auf Hochdeutsch nennt inan's „Lavalierl"

Die Arbeit kennt er nur vom Sehen,

Und das genügt, daß er sie haßt,

Er würde lieber betteln gehen,

Als daß er trüg' der Arbeit Last;

Und lieber will er kärglich essen,

So lang ein Dritter es nicht steht,

Und's Glück beim Kartenspiel verbessern,
wenn er der Arbeit nur entflieht.

Sie könnt' den Fingernägeln schaden,

Die allzeit seine schönste Zier,

Auch ist die Arbeit für Plebejer,

Und er ist doch ein Lavalierl

wenn er dann älter wird, natürlich,

Sieht er nach einer Frau sich um,

Und falls er Glüek hat, nimmt ihn Eine,

Die häßlich, reich und gleichfalls dumm.

Und da er meist nichts hat wie Schulden,
wenn ihn die alte Schachtel nimmt,
wird Gütertrennung in der Ehe
Don beiden Seiten zugestimmt.

Man thur dies aus gewichr'gem Grunde,
Denn kommt 'mal der Gerichtsvollzieh'r,

So schreibt der nichts wie: „Pfändung fruchtlos,
wohnt nur möblirt, Stand — Lavalierl"

H. O. «leber

Die notDtaufe des rotben Gentleman

Aus Karl mays Selbstbiographie*)

„eine begeisterte Leserin von Karl May's Jch-
Romcm „Winnetou, der rothe Gentleman",
fragte den Antor brieflich au, warum er diesem edlen
Indianer in der Slerbestnnde nicht, wie es ein guter
.Katholik soll, die Nothtaufe gegeben habe. Karl May,
der bekanntlich niemals über Deutschlands Grenzen
hinansgekonunen ist, erwiderte tu dollem Ernst, er
habe Winnetou thatsachlich die Nothtaufe gegeben, habe
es aber im Roman nicht erwähnen wollen, um nicht
Angriffe dou protestantischer Seite zu erfahren."

(Franks. Ltg.)

„Ich fühl' es, Bleichgesicht, es geht mit mir zu
Ende. Ich werde heute noch zum großen Geiste
fahren", stöhnte Winnetou und schlug die brechenden
Augen ge» Himmel. Aber ivas war das? Sein

*) Durch einen glücklichen stufall — einer unserer Aus-
geber hatte eben einBiertel Pfund.Käseäekanft - ist elnBlalt
des Manuskriptes dou Kari Mah's Selbstoiographie, die
erst nach seinem Tode veröffentlicht werden soll, schon
heute in unsere Hände gelangt. Die Leser ersehen daraus,
das) Karl Mah den Indianer Winnetou wirklich getauft hat.

kupfernes Gesicht verzerrte sich in hilfloser Angst,
die rechte Hand tastete sich wie deutend an dem
Stamme des Urivaldriesen, unter dem wir beide
saßen, empor. Mein Blick folgte der Bewegung,
und siehe da! Eine mächtige Brillenschlange ringelte
sich am Stamm hernieder und leckte eben mit der
spitzen Zunge die Reiherseder im Kopsschmucke des
Häuptlings. „Sei ruhig, kupfernes Känguruh!"
flüsterte ich meinem Gefährten zu, indem ich in aller
Gemiithsruhe aus meiner Reisetasche ein ledernes
Etui hervorholte, es öffnete imb ihm eilte blitzblanke
Zange entnahm. „Wozu war ich 0 Monate Zahn-
arzt in Philadelphia? Jetzt kann ich meine Kunst
zeigen." Jndeß hatte die Schlange meinen sterben-
den Freund, der regungslos wie eine Bronzestatue
dasaß, bereits ganz umwickelt und war eben daran,
shm den tödtlichen Biß in die Nase zu versetzen.
Da packte ich sie schnell mit der linken Hand an
der Gurgel, drehte den Kopf mit dem weitgeöfsneten
Rachen mir zu und feiet! krack! tritt! krack! hatte
ich ihr mit der Zange alle Gistzähne ausgebrochen.
Das Thier sah mich wehmüthig an, ließ meinen
Freund los ilnd legte sich zu meinen Füßen nieder.
„So, jetzt unll ich Dich taufen!" sagte ich, meiner
religiösen Verpflichtungen wie immer bewußt. Aber
woher Wasser nehmen? Es war August. Alles
ausgedörrt. Ich hätte zwar ans meinem Steppengaul
mit Leichtigkeit an den atlantischen Oeean sprengen
können. Aber 24 Stunden hatte es doch gedauert,
bis ich lvieder zurück war. Und unterdessen wäre
mein Freund elendiglich gestorben. Da siel mein
Blick ans die Schlange, tlnd ich athmete tief auf,
als ob ein Alp von meiner Seele genommen würde.
Die Schlange weinte. In Hellen Tropfen rann es
von ihren braunen Augen in'S Gras hernieder.
Ich holte flugs mein Trinkgeschirr heraus, sing die
Schlangenthränen darin aus, guckte zuerst hinter
allen Büschen nach, ob kein Protestant in der Nähe
sei, und taufte dann meinen armen Freund. Es
war die höchste Zeit. Kaum war eö geschehen, war
er hinüber.

Streiflichter der „Jugend"

„Ä)ir brauchen keinen neuen Goethe,"
ries Hermann Eßwein jüngst im „Akademisch-Drama-
tischen Verein" zu München.

Das ist ja ganz richtig: Goethe war ein Vollen-
der und zu was sollte er heute sein „monumentales
Amen" sagen? Aber lvoher kommt denn eigentlich
jener eklatante Mangel an „zeitcharatteristischer Prosa-
kllnst," den Eßwein so bitter beklagt? Er kommt da-
her, weil wir den Geist unserer Zeit noch
nicht begriffen haben, lveil diese Zeit sich un-
serm Geist noch als Verwirrung darslelltl Wir
Menschen einer jungen, anssteigenden Kulturepvche
stehen geistig noch nicht über der uns rings uiudräug-
enden Mannigfaltigkeit neuer Erscheinungen, neuer
Eindrücke und Symptome, sondern im Gegentheil:
wir unterliegen ihr, lassen uns verwirren, erschüttern,
bezwingen und von dem tosenden Hurryburry halb
willenlos fortreißen. Wir sind wie unmündige Kin-
der; wir sehen viel, aber bringen keinen Sinn hinein
und begreifen die Schönheit nicht. Künstlerthnm ist
.Herrschaft, Poetisches Vollbringen ist Befreiung, ist
Macht. Gewiß: einen neuen Goethe brauchen wir

nicht, wir können ihn gar nicht brauchen; denn
Blumen, die auf den Höhen der Berge gedeihen,
gehen im Thal zu Grunde. Aber wir brauchen desto
mehr den alten Goethe, den goethischen Geist, der
sich von den Erscheinungen nicht verwirren läßt,
sondern mit großem, klarem Auge in die Welt blickt
und sie bezwingt. Den brauchen wir! e. m.

* « *

llub wenn Lombrosv wirklich Recht hätte, in
einer viel allgemeinern Weise, als er selbst denkt,
würde diese Thatsache an sich allein die Rechtspflege
von Grund aus ändern können? Gesetzt» es wären
alle Verbrechen nur Symptome ererbter, ja er-
worbener Krankheiten, wer untersuchte dann diese
Symptome, der Arzt oder der Jurist? Wer wäre
fähig, im einzelnen Fall zu urtheilen über den Ver-
brecher, ob er ihn nun als Kranken betrachtet oder
nicht, der Gerichtshof oder die psychiatrische Lehr-
kanzel? Der Weg zum Schnldspruch wird sich nicht
ändern, ob nun der Angeklagte schuldig des Ver-
brechens gesprochen wird oder schuldig des Symp-
toms. Aendern wird sich ein Wort: Staatsgesängniß
in Staats-Irrenanstalt; die ererbte» Krankheiten,
deren Symptome Verbrechen sind, werden auch in
dieser unheilbar bleiben. Auch die Strafen werden
sich ändern; auf manchem leichten Vergehen kann
ewiger Kerker stehen. Und die ganze Lehre von der
Heredität ist ja nichts als eine Objektivirung der
absoluten Prädestination, die metaphysisch längst
beiviesen ist, in der Welt als Vorstellung. Mag sie
Naturwissenschaft und Philosophie als Wahrheit
nehmen, immer fremd werden ihr gegenüber stehen
NationalökonomieundStaatswissenschast; die mensch-
liche Vielheit muß sie ignoriren, wie es der einzelne
Mensch ignorirt, daß sein Schicksal und sein Tod
unabwendbar und bestimmt sind. iir. o. i\

's arme Gritli1)

(In Schweizer Mundart, zur Zeichnung von
Richard Schaupp)

De Summer gumpeta) über s Feld
mit sine grüne Socke.

Es glitzeret di ganz! Welt
Do wiße Blüetheflocke.

Es riechet wie Lavendelsalb
Der Tanne neui Noble,

Und oben uf der Gräflisalp,

Do hör' i Eine jodle.

Als wärfch es Du, t»i liebes Lhindl
lind bisch doch lang begrabe,

Und nur der laue Summerwind
Vvaiht") Blüemli us Di abeU)

Und der Di Datter sötti°) si,

Der isch scho lang verschwunde,

Und d'Ehr' isch hi und d'Juged hi —
c!) läg' i bi Dir untel

_ 6dgar Steiger

>) Gretchen s) liüpft "> weht 4) herab &) sollte,
„lind der Dein Vater sein sollte."

5-2
Index
E. M.: Streiflichter der "Jugend"
Dr. O. P.: Streiflichter der "Jugend"
Alexander Otto Weber: Der Cavalier
Edgar Steiger: 's arme Gritli
Joseph Wackerle: Zierleiste
[nicht signierter Beitrag]: Die Nothtaufe des rothen Gentleman
 
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