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Nr. 2 -JUGEND*

Winterst i f(e

1903

Stapfen im Schnee

von Carl Busse

IPer Vorsteher gibt das Zeichen zur Abfahrt. Unwillig
, schnaufend zieht die Maschine an, und langsam setzt
sich der Zug in Bewegung.

Der Zug, der mich hierher brachte!

Nur wenige Personen stiegen gleich mir aus. Sie
blickten inich verwundert an — nun gehn sie hastig oder
gemächlich zum Dorf. Der Bahnsteig ist nicht gesperrt;
jeder kann hinauf oder hinunter. In der kalten Klarheit
des Tages leuchtet das Ziegelrotst der Häuser herüber.
Der Rauch steigt aus den Schornsteinen. Man hört klirrende
Schläge; sie kommen gewiß aus der Schmiede. Sie machen
die Stille noch fühlbarer.

Die Pelzmütze auf dem Kopf stolpert jetzt ein Bengel
mit frechem Näschen aus der Thür des Stationsgebäudes.
Lr sieht mich groß an und geht zur Pumpe. Blanke
Zapfen hängen daran; der Becher an der eisernen Kette
ist vereist, und der Schwengel quietscht, Wasser gibt es
nicht; der Frost zur Nacht war zu groß. Der Schnee,
den man tritt, singt ordentlich.

lvarum bin ich hier? Auf einer Station, die ich nicht
kenne, vor einem Dorf, dessen Name ich kaum jemals hörte?

weil ich die „weiße Sehnsucht" Hab', die mich alljähr-
lich überfällt, die Sehnsucht nach Schnee und Winter. Sie
kommt plötzlich, wenn die Flocken am Fenster vorbei-
tanzen, tanzt das Herz. wir haben als Kinder den
ersten Schnee angesungen, wir haben die Hände aus-
gestreckt und die Mützen hingehalten, wie das Kind im
Märchenbuch, das die Sternthaler fing.

Und nun kann es noch so dicht vom Himmel kommen
— ich such' vergeblich nach dem reinen weiß. In der
Riesenstadt ist der Schnee nichts Gutes, Hier schützt er
keine Saaten, hier hindert er nur und verwandelt sich
in zähen Schmutz. Aber die Kinder der einsamen Ebenen
können die langen Winter ihrer Frühzeit nicht vergessen.
Und jählings kommt die „weiße Sehnsucht" über sie —
die Sehnsucht, über weite weiße Felder zu gehn, an Bäumen
zu rütteln, die sich unter der Schneedecke beugen.

Nur deßhalb Hab' ich mich in den Zug gesetzt und
bin eine Stunde lang gefahren — über stille Vororte hin-
aus zu Vrten, die noch stiller sind. Nun wandre ich die
Lhauffee entlang und mein Herz wird weit wie die Ebene.
Den Wagenspuren folge ich; mit dem Stock feg' ich die
weißen Kappen von den Meilensteinen. Die Sperlinge
suchen nach Futter; Goldammern sitzen träge, mit fettem
Bäuchlein, auf den Zweigen. Und als dunkle Flecken
spazieren die Krähen, bald würdig ausschreitend, bald
stolpernd, über die endlose weiße Fläche, die sich rings-
um breitet.

Das Dorf blieb zurück. Ich greif' in den Schnee und
ball' ihn zur Kugel. Schlachten, die ich als Knabe ge-
schlagen, stehn vor mir, die Bälle stiegen, schneller noch
stiegen die jauchzenden Rufe, immer von Neuem fassen
die rothblauen nassen Hände ins unberührte weiß. Da
schreit jemand auf und blutet. Irgend einer hat einen
Stein in die Schneekugel geballt. Das kann nur Koch's
Emil sein. Auf ihn, Iungens! von Freund und Feind
wird er gepackt. Er stößt mit den Füßen, er kratzt —
nützt nichts. Und bald liegt er da, und von ein paar
Dutzend Händen wird fein Gesicht „gewaschen". Lr
brüllt, obwohl er dabei Schnee schlucken muß. Zwischen
Hals und Kragen wird ihm dann noch eine gehörige
Portion hineingestopft. Dann mag der verräther laufen.

Ah, es war schön! wie gut ich werfen könnt'! Und
heut? Db ich den Baum dort drüben noch treffe? Nein
— da fällt die Kugel jenseits des Grabens nieder! Ich
versuch' ein zweites, ein drittes Mal — klatsch, die dritte
saß! vergnügt geh' ich weiter.

Drüben liegt eine kleine Schonung. Dann kommt der
Wald. Und ich frag' mich, weshalb ich hier auf dem Aller-
weltsweg laufe, anstatt durch den jungfräulichen Schnee
der Felder zu gehn, wie das fein ist, die ersten Spuren
durch die himmlische Decke zu zieh»! Man scheut sich fast..

Hier läßt sich noch waten. Mitten in den Aeckern
bin ich, Niemand stört mich, nur die Krähen schelten
und wünschen mir Unheil, weil ich sie aufschreck'. Be-
wegt sich dort nichts? Ich ruf' uns schwing' den Stock.
Aha — Meister Lampe! Schade, daß er ausreißt! Ich
hätt' ihm sein Futter gegönnt, wollt' er den Schnee
scharren, um ein Hälmchen zu finden? Er muß jetzt
hungrig sein und klapperdürr — alle Rinden sind angenagt.
Und die Lieb' ist seine einzige Freude, Has' und Häsin
haben heißes Blut im kalten Januarius.
Register
Carl Busse: Stapfen im Schnee
Reinhold Max Eichler: Winterstille
 
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