Nr. 2
JUGEND
1903
Mutterglück
Hans Thoma (Karlsruhe)
Das begrabene Kind
Bei Heiligenstedten, der Stördeich wars,
Der Deich wollte nicht halten..
Da war ein Loch, man flickt cs nicht zu.
Die Fluth weiß zu spülen, zu spalten.
So viel man auch stopft mit Erde und Stein,
Das Meer stoßt ein Loch hinein.
Da war Noth. Weicht der Damm,
Das Land muß ersaufen.
Eine alte Frau wußte da Rath,
Man könnt' cs dem Teufel abkaufen:
Freiwillig muß ein Kind da hinab,
Das hilft, freiwillig hinein da in's Grab.
Ein Kind! Einer Mutter Kind!
Hält jede ihrö fester am Herzen.
Und wenn die ganze Marsch ersäuft,
Kann eine ihr Kind verschmerzen?
Da war Noth. Das Loch muß zu.
„He, Tatcrsch! Hör mal! Bettelst Du?
Hier, tausend Thalcr! Klimpcrts nicht gut?"
Der Zigeunerin gieren die Augen.
„Tausend Thaler! Da, nehmt den Balg!
Kann doch nur zum Betteln mir taugen.
So Schilling für Schilling erscharrt ssch's schlecht.
Gebt her! Bin nicht mehr des Hungers Knecht."
Sie legen ein Brett über das Loch
Und ein weißes Drod in die Mitte.
Der hungrige Knabe hastet daher,
Kleine, schwankende Schritte.
Jetzt langt nach dem Drod er, da, das Brett
Schlägt über und wirft ihn in's nasse Bett.
Kein Schrei! Alles stiert
Stumm auf's Quirlen und Quellen.
Da taucht cs auf, ein blaß Gesicht,
Ans den lehmigen, gurgelnden Wellen,
Taucht auf und spricht ein Wörtchen blos:
„Ist nichts so weich als Muttcrs Schooß."
Und taucht zum zweiten auf und spricht:
„Ist nichts so süß, als Muttcrs Liebe."
Wie das Wort sic packt und brennt.
Wenn doch das Kind nur unten bliebe!
Doch kommt es zum dritten und spricht auf's neu:
„Ist nichts so fest als Muttcrs Treu."
Dann sinkt es weg. — Sie athmen auf.
Nun muß das Werk gerathen!
Die Gäule keuchen, die Karren knarr'n.
Es ächzen und knirschen die Spaten.
Erde und Stein hinein in das Loch.
Ein theurer Deich. Aber er hält jetzt doch.
Gustav sall-e
JUGEND
1903
Mutterglück
Hans Thoma (Karlsruhe)
Das begrabene Kind
Bei Heiligenstedten, der Stördeich wars,
Der Deich wollte nicht halten..
Da war ein Loch, man flickt cs nicht zu.
Die Fluth weiß zu spülen, zu spalten.
So viel man auch stopft mit Erde und Stein,
Das Meer stoßt ein Loch hinein.
Da war Noth. Weicht der Damm,
Das Land muß ersaufen.
Eine alte Frau wußte da Rath,
Man könnt' cs dem Teufel abkaufen:
Freiwillig muß ein Kind da hinab,
Das hilft, freiwillig hinein da in's Grab.
Ein Kind! Einer Mutter Kind!
Hält jede ihrö fester am Herzen.
Und wenn die ganze Marsch ersäuft,
Kann eine ihr Kind verschmerzen?
Da war Noth. Das Loch muß zu.
„He, Tatcrsch! Hör mal! Bettelst Du?
Hier, tausend Thalcr! Klimpcrts nicht gut?"
Der Zigeunerin gieren die Augen.
„Tausend Thaler! Da, nehmt den Balg!
Kann doch nur zum Betteln mir taugen.
So Schilling für Schilling erscharrt ssch's schlecht.
Gebt her! Bin nicht mehr des Hungers Knecht."
Sie legen ein Brett über das Loch
Und ein weißes Drod in die Mitte.
Der hungrige Knabe hastet daher,
Kleine, schwankende Schritte.
Jetzt langt nach dem Drod er, da, das Brett
Schlägt über und wirft ihn in's nasse Bett.
Kein Schrei! Alles stiert
Stumm auf's Quirlen und Quellen.
Da taucht cs auf, ein blaß Gesicht,
Ans den lehmigen, gurgelnden Wellen,
Taucht auf und spricht ein Wörtchen blos:
„Ist nichts so weich als Muttcrs Schooß."
Und taucht zum zweiten auf und spricht:
„Ist nichts so süß, als Muttcrs Liebe."
Wie das Wort sic packt und brennt.
Wenn doch das Kind nur unten bliebe!
Doch kommt es zum dritten und spricht auf's neu:
„Ist nichts so fest als Muttcrs Treu."
Dann sinkt es weg. — Sie athmen auf.
Nun muß das Werk gerathen!
Die Gäule keuchen, die Karren knarr'n.
Es ächzen und knirschen die Spaten.
Erde und Stein hinein in das Loch.
Ein theurer Deich. Aber er hält jetzt doch.
Gustav sall-e