Nr. 3
■*
geheuere Arbeit brachte er es dahin, von der wie
eine Offenbarung auf ihn zuströmenden neuen
Lichtfülle nicht betäubt und überwältigt zu werden,
sie vielmehr wie eine disciplinirte Masse in sich
aufzunehmen und, ohne den Totaleindruck je zu
verlieren, dennoch in ihre Theile zu zerlegen. Jeder-
mann kennt heute Segantinis Malweise, dieses
unglaublich sorgsame Nebeneinandersetzen pris-
matisch reiner Farbenstriche, die wie Mosaikstiste,
nur feiner noch und zarter, sich aneinanderreihen
und in ihrer Totalität einen Eindruck von bisher
unerhörter Lichtkraft erzeugen. Es ist zweifellos,
daß die eigenthümlichen Luftverhältnisse der En-
gadiner Gegend hier dem Künstler entscheidende
Anregungen gegeben haben, und daß es ihm auf
diese Weise gelungen ist, die durch frühere Ent-
wickelungen herabgeminderte Geltung der Hoch-
gebirgs-Malerei in ein künstlerisch völlig neues
und zukunftsreiches Stadium hinüberzuführen.
Als ein heimathloser Mann kam Segantini
nach dem Engadin, und äußerlich heimathlos ist
er stets dort geblieben. Aber innerlich — das
ist kein Zweifel — ist ihm eine Heimath dort er-
wachsen. Er fand hier den Erdensteck, wo er mit
seinem Weltgefühl Wurzel schlug und wo er als
Künstler sich in die Höhe schwang Das hat der
Engadin ihm gegeben, und darum hat er ihm in
seiner Arbeit dankbar gehuldigt Doch — „Maler
des Engadin" ? Nein, das ist zu eng und zu be-
schränkt l Stets galt diesem Künstler das einzelne
Motiv als ein Symbol des Weltganzen. Die Frei-
heit, die Reinheit, die Mütterlichkeit hat er malen
wollen, indem er jene GebirgSwelt farbig festhielt.
Und in allem diesem sah er stets das große Eine:
die Natur in ihrer Segensfülle und Dämonie.
Die 3cihre der Kindheit
Autobiographisches vo>. Siovamii Segantini
Äas vor meiner Geburt geschah, weiß ich nicht.
Ich weiß, daß ich einen Vater und eine
Mutter hatte, und daß es ihnen gefiel, zu Arco
im Tridentinischen auf dem rechten Ufer der Sarca
sich ein Nest zu bauen, und dort legten sie ihre
Eier hinein. Ich bin der Zweit- und Letztgeborene.
Der erste kam um, ein Opfer der Flammen; und
ich verursachte durch meine Geburt meiner Mutter
eine Schwäche, durch die sie fünf Jahre später
dahingerafft wurde. Um sich von dieser Schwäche
zu erholen, begab sie sich im vierten Jahre nach
Trient; aber die Kuren schlugen nicht an.
Ich trage sie im Gedächtniß, meine Mutter;
und wenn es möglich wäre, daß sie jetzt, in diesem
Moment, vor meinen Augen erschiene, so würde
ich sie nach einunddreißig Jahren noch recht wohl
erkennen. Ich sehe sie wieder im Auge des Geistes,
diese hohe Gestalt, wie sie müde einherschritt. Sie
war schön, nicht wie die Morgenröthe oder der
Mittag, aber wie ein Sonnenuntergang im Früh-
ling. Als sie starb, war sie noch nicht neunund-
zwanzig Jahre alt. Sie gehörte jenem mittelalter-
lichen Landadel an, aus dem ehemals die krieger-
ischen Glücksritter hervorgingen, gleich wie heute
die guten Ackerbauern daraus hervorgehen. Mein
Vater hingegen gehörte dem Kleinbürgerstande
an: er war etwa zwanzig Jahre älter als meine
Mutter, die sein drittes Eheweib war.
Nach dem Tode der Mutter gedachte mein
Vater sich mit mir in Mailand niederzulassen, wo
er einen Sohn und eine Tochter aus erster Ehe
hatte. Der Sohn fristete mit einer Parfümerie-
fabrik kümmerlich sein Dasein und die Schwester
führte ihm den Haushalt. Aber wir trafen's
schlecht; das Geschäft ging herunter, in kürzester
Zeit mußte die Fabrik geschlossen und ein großer
Theil der Möbel verkauft werden. Vater und
Sohn wunderten gemeinschaftlich aus, indem sie
mich der Obhut der Schwester überließen. Und
hier beginnt nun mein persönliches Leben, das ganz
mir gehört, abwechselnd freudvoll und leidvoll, aber
niemals eintönig, weil auch Schmerz und Trauer
mich nicht ganz unglücklich machen konnten.
Ich war damals sechs Jahre alt und lebte mit
meiner Schwester in einer Dachkammer in der
Simeonstraße. Die Schwester ging jeden Morgen
frühzeitig fort, ließ mir etwas zu essen da und
kehrte nicht vor der Dämmerstunde heim: auch
von den übrigen Insassen unseres Stockwerks sah
ich den Tag über niemanden.
Die beiden Stübchen, die wir bewohnten, hatten
zwei kleine Fenster, ganz oben hoch, so daß ich,
selbst mit den Füßen auf dem Tische stehend,
nicht mehr als den Himmel sehen konnte. Darum
blieb ich nicht gern allein; oft überkamen mich
Schauer von unbeschreiblicher Angst; und dann
entwich ich durch einen schmalen Gang, der auf
den Treppenflur mündete, wo ich durch ein vier-
eckiges Fenster eine lange Reihe von Dächern und
Kirchthürmen erblicken konnte und, ganz unten
einen tiefen eingeschlossenen Hof, der mir wie ein
Brunnen vorkam. An diesem Fenster stand ich
durch viele Monate lange Tage; und eine Zeit
lang wartete ich immer auf den Vater, der mir
gesagt hatte, er werde bald zurückkehren: doch habe
ich ihn niemals wiedergesehen. An regnerischen
Tagen und an sonnenhellen Tagen war meine
Seele gleich traurig und verzagt: ich wußte nicht
zu sagen, ob dieses Dasein lang währen könnte,
vielleicht ewig, oder ob es plötzlich enden würde.
Eines Tages — ich weiß nicht wie — befand
ich mich im Besitze einer größeren Menge Papier, ich
glaube es war ein Buch; ich spielte etwas damit:
dann begann ich, cs in Stücke zu zerreißen, in immer
kleinere, gleich als ob es Schneeflocken wären.
Und es kam mir ein Einfall. Ich kletterte
ans Flurfenster und begann, meinen Vorrath hinab
in den Hof zu werfen. Dieses Spiel gefiel mir.
Die weißen Dingerchen tanzten und wirbelten
durch die Luft, senkten sich weich auf die Fenster-
vorsprünge, flatterten langsam und taumlig immer
tiefer hinab bis auf das Hofpflaster, gleich als
wären sie lebendig und fürchteten sich wehzuthun.
Ich hatte mich so schon eine Zeitlang belustigt,
als ich von dort unten die schreckliche Stimme
eines wüthenden Menschen vernahm. Ich begriff
nicht, was er eigentlich sagte, weil ich den Dialekt
nicht verstand; aber ich schloß doch aus dem Ton,
daß ihm vielleicht mein Spiel nicht behagte. Und
als er den Mund hielt, und es mir vorkam, als
sei er gegangen, beeilte ich mich, in einem ein-
zigen Stoß die ganze Masse Papierschnitzel — und
die war nicht klein — hinabzubefördern. Ein
Wunder geschah: der Schneefall vertheilte sich
durch die Luft und in einem einzigen Augenblick
bedeckte er den ganzen Hof. Ich beugte mich weiter
hinaus auf die Fensterbrüstung, um das Schauspiel
zu genießen, und beobachtete so die tanzende Schnee-
wolke bis zum Ende ihrer Reise. Da erblickte ich
einen Mann mit einem Besen in der Hand, der
eifrig von dort unten zu mir emporspähte.
Das mußte er gewesen sein, der kurz zuvor
gescholten hatte. Aber da er nun nichts mehr
sagte und überdies sich zum Fortgehen wendete,
so schloß ich, daß nicht ich der Anlaß seiner Wuth
gewesen sei. Inzwischen öffnete sich auf der Hof-
seite ein Fenster, ein Kopf streckte sich zum Gucken
hervor und ich empfand eine gewisse Gcuugthuung,
der Urheber dieser Ausregung zu sein.
;6
JU*
EN
ßflügen in €(ngadln
Auf einmal fühle ich mich von einer eisernen
Faust rauh beim Gürtel gepackt, hochgehoben, um'
gedreht und mit dem Kopf, wie in einen Schraub-
stock, zwischen zwei Beine gesteckt, und ich fühle,
wie in regelmäßigen, aber durchaus nicht etwa
langen Zeitabständen feste Hiebe auf meine ge-
spannten Hosen niedersausen. Darauf, als ich
wieder auf die Erde gestellt war und die normale
Körperhaltung zurückbekommen hatte, angefüllt
mit Thränen, die nicht fließen wollten, und mit
Gransgefühlen, die das Brennen der Schläge noch
überstiegen, erblickte ich vor mir einen Menschen, ihn,
den Mann mit dem Besen, wie er, zwei schreckliche
Augen auf mich gerichtet, die Hand erhob, seine
sonore Züchtigung in eine letzte gedrängte Ermahn-
ung zusammenfassend, worauf er dann kurz den
Rücken drehte, und, mir krummem Buckel vor sich
hinbrummend, wieder abschob. Später erfuhr ich,
daß dieses Scheusal der Hausbesorger war.
Hernach, am Abend, gab mir die Schwester
den Rest, indem sie mich wissen ließ, daß ich
nicht mehr auf den Treppeuflur gehen durfte.
Und thatsächlich schloß sie mich am folgenden
Morgen in die Kammer ein und steckte den Schlüssel
in die Tasche.
Ich weinte ein bischen; darauf wurde meine
Aufmerksamkeit von einem großen Koffer an-
gezogen, der in einer Ecke des Zimmers stand.
Ich öffnete ihn: er war voll tausenderlei ver-
Giovannl Segantini
schiedener Sachen: Frauenkleider, Bänder, ge-
brauchte Handschuhe, Halbmasken, tausenderlei
Flitterkram und ganz unten eine Menge Zimmet-
rohr, von dem ich noch nicht wußte, was es war,
aber das ich beiseite legte, zugleich mit der Maske,
um damit zu spielen.
Die Maske war mein Ideal: schon seit ich in
Arco war, wünschte ich eine zu besitzen, aber groß
mußte sie sein, ganz farbig, „lebendig", wie ich
eine gesehen hatte, die mir damals böses Gruseln
erregte. Trotzdem gab ich mich zufrieden mit
meiner Halbmaske. Ich nahm sie her, aber sie
war zu groß und ich konnte nicht gut hindurch-
gucken. Ich näherte mich einem Spiegel: oh, aber
der Schrecken! Rasch riß ich die Maske herunter
und betrachtete sie. Besser ich hätte sie niemals
gesehen! Ich warf sie wieder in den Koffer
zurück, versuchte, nicht daran zu denken, und setzte
mich hin und spielte mit den Zimmetstangen.
Aber bald wurde mir dies leid, und da ich
keinerlei Zerstreuung mehr hatte, begann ich eine
seltsame Furcht zu empfinden. Eine Ratte trappelte
durch das Zimmer und meine Schauer verdoppelten
sich: ich erhob mich und nahm die Stangen, um
sie au ihren Platz zurückzuthun. Ich öffne den
Koffer, aber malt euch meinen Schrecken aus: die
Maske starrte mich an, mit einem lebendigen
Auge und fixierte mich damit. Ich ließ den Deckel
niederfallen. Ich schrie nicht, aber mein kleines
Herz klopfte mit großer Heftigkeit. Ich lief zun, Aus-
gang. Nur zu gut war der verschlossen. Ich rückte
einen Stuhl an den Tisch und flüchtete mich hinauf.
Dort stand ich langgestreckt, lugte zum Hinrmel
empor und fing aus Leibeskräften zu singen au.
Als ich mit Singen aufhörte, fühlte ich mich
schauerlich allein. Auch hatte ich großen Durst.
Ich machte eine Anstrengung und kehrte mich dem
Milcheimer zu. Aber die Kammer schien mir so
finster, so mit Schatten bevölkert! Ich drehte noch-
mals den Kopf hin, indem ich zu singen versuchte:
aber nun hatte ich weder die Energie noch die
Kraft, dies zu thun. So verharrte ich eine geraume
Weile, unter den Oualen des Durstes und der
Furcht und unter Gedanken an jene Zeit, da mich
mein Vater mit in die Stadt spazieren nahm, in
die öffentlichen Gärten, und mir Obst kaufte.
Diese Erinnerungen brachten mich zum Weinen
und ich weinte lange Zeit. Es dunkelte: ich be-
trachtete nicht länger den Himmel, sondern hielt
schlaftrunken den Kopf wider die Mauer gelehnt.
Nun meldeten sich Geräusche bei mir, fein und
deutlich gingen sie durch das Zimmer. Ich stand
mäuschenstill, regungslos, die Augen fest ge-
schlossen: aber ein Geräusch, stärker als die übrigen,
ließ mich unwillkürlich den Kopf wenden, und
nun sah ich, daß es ein paar Mäuse waren, die
mit den Zimmetstangen spielten. Ich schloß wieder
die Augen und als meine Schwester heimkehrte,
war ich auf dem Tisch eingeschlafen. Sie weckte
mich: im ersten Augenblick erschrak ich, dann
begriff ich, erkannte sie, schlang ihr die Arme um
den Hals und weinte und bat, mich nicht wieder
im Zimmer einzuschließen.
Als das Licht angezündet war, gewahrte sie
die Unordnung, schalt mich aus und öffnete den
Koffer, um das Kleiderzeug, das umherlag, hinein
zu räumen: sofort erblickte ich die Maske, die
noch dalag mit ihrem lebenden Auge.
Meine Schwester nahm sie und warf sie aufs
Bett, um Ordnung im Koffer zu schaffen. Nun
konnte ich erkennen, daß der Blick der Maske, der
mir solchen Schreck eingejagt hatte, nichts war als
eine stählerne Gürtelschnalle, die durch den Schlitz
des einen Auges gefunkelt hatte.
Tags darauf war der Ausgang offen, mit der
Weisung nicht hinauszugehen, was ich zwar ver-
sprach, aber nicht zu halten vermochte. Wenige
Tage später richtete ich mich bereits wieder auf
dem Treppenflur ein, ganz wie früher; aber ich
warf nichts mehr zum Fenster hinaus. Die Tage
folgten einander, einer wie der andere, ewig das
Gleiche. Da, eines Morgens, bei der Heimkehr
von einem Besorgungsgang für unsere bescheidene
Mahlzeit, fast immer Milch und Brot (weil mich
doch meine Schwester nicht ohne Mühe dazu ab-
gerichtet hatte, diese kleinen Dienste zu erfüllen),
da erblickte ich auf dem Treppenabsatz und im
37
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geheuere Arbeit brachte er es dahin, von der wie
eine Offenbarung auf ihn zuströmenden neuen
Lichtfülle nicht betäubt und überwältigt zu werden,
sie vielmehr wie eine disciplinirte Masse in sich
aufzunehmen und, ohne den Totaleindruck je zu
verlieren, dennoch in ihre Theile zu zerlegen. Jeder-
mann kennt heute Segantinis Malweise, dieses
unglaublich sorgsame Nebeneinandersetzen pris-
matisch reiner Farbenstriche, die wie Mosaikstiste,
nur feiner noch und zarter, sich aneinanderreihen
und in ihrer Totalität einen Eindruck von bisher
unerhörter Lichtkraft erzeugen. Es ist zweifellos,
daß die eigenthümlichen Luftverhältnisse der En-
gadiner Gegend hier dem Künstler entscheidende
Anregungen gegeben haben, und daß es ihm auf
diese Weise gelungen ist, die durch frühere Ent-
wickelungen herabgeminderte Geltung der Hoch-
gebirgs-Malerei in ein künstlerisch völlig neues
und zukunftsreiches Stadium hinüberzuführen.
Als ein heimathloser Mann kam Segantini
nach dem Engadin, und äußerlich heimathlos ist
er stets dort geblieben. Aber innerlich — das
ist kein Zweifel — ist ihm eine Heimath dort er-
wachsen. Er fand hier den Erdensteck, wo er mit
seinem Weltgefühl Wurzel schlug und wo er als
Künstler sich in die Höhe schwang Das hat der
Engadin ihm gegeben, und darum hat er ihm in
seiner Arbeit dankbar gehuldigt Doch — „Maler
des Engadin" ? Nein, das ist zu eng und zu be-
schränkt l Stets galt diesem Künstler das einzelne
Motiv als ein Symbol des Weltganzen. Die Frei-
heit, die Reinheit, die Mütterlichkeit hat er malen
wollen, indem er jene GebirgSwelt farbig festhielt.
Und in allem diesem sah er stets das große Eine:
die Natur in ihrer Segensfülle und Dämonie.
Die 3cihre der Kindheit
Autobiographisches vo>. Siovamii Segantini
Äas vor meiner Geburt geschah, weiß ich nicht.
Ich weiß, daß ich einen Vater und eine
Mutter hatte, und daß es ihnen gefiel, zu Arco
im Tridentinischen auf dem rechten Ufer der Sarca
sich ein Nest zu bauen, und dort legten sie ihre
Eier hinein. Ich bin der Zweit- und Letztgeborene.
Der erste kam um, ein Opfer der Flammen; und
ich verursachte durch meine Geburt meiner Mutter
eine Schwäche, durch die sie fünf Jahre später
dahingerafft wurde. Um sich von dieser Schwäche
zu erholen, begab sie sich im vierten Jahre nach
Trient; aber die Kuren schlugen nicht an.
Ich trage sie im Gedächtniß, meine Mutter;
und wenn es möglich wäre, daß sie jetzt, in diesem
Moment, vor meinen Augen erschiene, so würde
ich sie nach einunddreißig Jahren noch recht wohl
erkennen. Ich sehe sie wieder im Auge des Geistes,
diese hohe Gestalt, wie sie müde einherschritt. Sie
war schön, nicht wie die Morgenröthe oder der
Mittag, aber wie ein Sonnenuntergang im Früh-
ling. Als sie starb, war sie noch nicht neunund-
zwanzig Jahre alt. Sie gehörte jenem mittelalter-
lichen Landadel an, aus dem ehemals die krieger-
ischen Glücksritter hervorgingen, gleich wie heute
die guten Ackerbauern daraus hervorgehen. Mein
Vater hingegen gehörte dem Kleinbürgerstande
an: er war etwa zwanzig Jahre älter als meine
Mutter, die sein drittes Eheweib war.
Nach dem Tode der Mutter gedachte mein
Vater sich mit mir in Mailand niederzulassen, wo
er einen Sohn und eine Tochter aus erster Ehe
hatte. Der Sohn fristete mit einer Parfümerie-
fabrik kümmerlich sein Dasein und die Schwester
führte ihm den Haushalt. Aber wir trafen's
schlecht; das Geschäft ging herunter, in kürzester
Zeit mußte die Fabrik geschlossen und ein großer
Theil der Möbel verkauft werden. Vater und
Sohn wunderten gemeinschaftlich aus, indem sie
mich der Obhut der Schwester überließen. Und
hier beginnt nun mein persönliches Leben, das ganz
mir gehört, abwechselnd freudvoll und leidvoll, aber
niemals eintönig, weil auch Schmerz und Trauer
mich nicht ganz unglücklich machen konnten.
Ich war damals sechs Jahre alt und lebte mit
meiner Schwester in einer Dachkammer in der
Simeonstraße. Die Schwester ging jeden Morgen
frühzeitig fort, ließ mir etwas zu essen da und
kehrte nicht vor der Dämmerstunde heim: auch
von den übrigen Insassen unseres Stockwerks sah
ich den Tag über niemanden.
Die beiden Stübchen, die wir bewohnten, hatten
zwei kleine Fenster, ganz oben hoch, so daß ich,
selbst mit den Füßen auf dem Tische stehend,
nicht mehr als den Himmel sehen konnte. Darum
blieb ich nicht gern allein; oft überkamen mich
Schauer von unbeschreiblicher Angst; und dann
entwich ich durch einen schmalen Gang, der auf
den Treppenflur mündete, wo ich durch ein vier-
eckiges Fenster eine lange Reihe von Dächern und
Kirchthürmen erblicken konnte und, ganz unten
einen tiefen eingeschlossenen Hof, der mir wie ein
Brunnen vorkam. An diesem Fenster stand ich
durch viele Monate lange Tage; und eine Zeit
lang wartete ich immer auf den Vater, der mir
gesagt hatte, er werde bald zurückkehren: doch habe
ich ihn niemals wiedergesehen. An regnerischen
Tagen und an sonnenhellen Tagen war meine
Seele gleich traurig und verzagt: ich wußte nicht
zu sagen, ob dieses Dasein lang währen könnte,
vielleicht ewig, oder ob es plötzlich enden würde.
Eines Tages — ich weiß nicht wie — befand
ich mich im Besitze einer größeren Menge Papier, ich
glaube es war ein Buch; ich spielte etwas damit:
dann begann ich, cs in Stücke zu zerreißen, in immer
kleinere, gleich als ob es Schneeflocken wären.
Und es kam mir ein Einfall. Ich kletterte
ans Flurfenster und begann, meinen Vorrath hinab
in den Hof zu werfen. Dieses Spiel gefiel mir.
Die weißen Dingerchen tanzten und wirbelten
durch die Luft, senkten sich weich auf die Fenster-
vorsprünge, flatterten langsam und taumlig immer
tiefer hinab bis auf das Hofpflaster, gleich als
wären sie lebendig und fürchteten sich wehzuthun.
Ich hatte mich so schon eine Zeitlang belustigt,
als ich von dort unten die schreckliche Stimme
eines wüthenden Menschen vernahm. Ich begriff
nicht, was er eigentlich sagte, weil ich den Dialekt
nicht verstand; aber ich schloß doch aus dem Ton,
daß ihm vielleicht mein Spiel nicht behagte. Und
als er den Mund hielt, und es mir vorkam, als
sei er gegangen, beeilte ich mich, in einem ein-
zigen Stoß die ganze Masse Papierschnitzel — und
die war nicht klein — hinabzubefördern. Ein
Wunder geschah: der Schneefall vertheilte sich
durch die Luft und in einem einzigen Augenblick
bedeckte er den ganzen Hof. Ich beugte mich weiter
hinaus auf die Fensterbrüstung, um das Schauspiel
zu genießen, und beobachtete so die tanzende Schnee-
wolke bis zum Ende ihrer Reise. Da erblickte ich
einen Mann mit einem Besen in der Hand, der
eifrig von dort unten zu mir emporspähte.
Das mußte er gewesen sein, der kurz zuvor
gescholten hatte. Aber da er nun nichts mehr
sagte und überdies sich zum Fortgehen wendete,
so schloß ich, daß nicht ich der Anlaß seiner Wuth
gewesen sei. Inzwischen öffnete sich auf der Hof-
seite ein Fenster, ein Kopf streckte sich zum Gucken
hervor und ich empfand eine gewisse Gcuugthuung,
der Urheber dieser Ausregung zu sein.
;6
JU*
EN
ßflügen in €(ngadln
Auf einmal fühle ich mich von einer eisernen
Faust rauh beim Gürtel gepackt, hochgehoben, um'
gedreht und mit dem Kopf, wie in einen Schraub-
stock, zwischen zwei Beine gesteckt, und ich fühle,
wie in regelmäßigen, aber durchaus nicht etwa
langen Zeitabständen feste Hiebe auf meine ge-
spannten Hosen niedersausen. Darauf, als ich
wieder auf die Erde gestellt war und die normale
Körperhaltung zurückbekommen hatte, angefüllt
mit Thränen, die nicht fließen wollten, und mit
Gransgefühlen, die das Brennen der Schläge noch
überstiegen, erblickte ich vor mir einen Menschen, ihn,
den Mann mit dem Besen, wie er, zwei schreckliche
Augen auf mich gerichtet, die Hand erhob, seine
sonore Züchtigung in eine letzte gedrängte Ermahn-
ung zusammenfassend, worauf er dann kurz den
Rücken drehte, und, mir krummem Buckel vor sich
hinbrummend, wieder abschob. Später erfuhr ich,
daß dieses Scheusal der Hausbesorger war.
Hernach, am Abend, gab mir die Schwester
den Rest, indem sie mich wissen ließ, daß ich
nicht mehr auf den Treppeuflur gehen durfte.
Und thatsächlich schloß sie mich am folgenden
Morgen in die Kammer ein und steckte den Schlüssel
in die Tasche.
Ich weinte ein bischen; darauf wurde meine
Aufmerksamkeit von einem großen Koffer an-
gezogen, der in einer Ecke des Zimmers stand.
Ich öffnete ihn: er war voll tausenderlei ver-
Giovannl Segantini
schiedener Sachen: Frauenkleider, Bänder, ge-
brauchte Handschuhe, Halbmasken, tausenderlei
Flitterkram und ganz unten eine Menge Zimmet-
rohr, von dem ich noch nicht wußte, was es war,
aber das ich beiseite legte, zugleich mit der Maske,
um damit zu spielen.
Die Maske war mein Ideal: schon seit ich in
Arco war, wünschte ich eine zu besitzen, aber groß
mußte sie sein, ganz farbig, „lebendig", wie ich
eine gesehen hatte, die mir damals böses Gruseln
erregte. Trotzdem gab ich mich zufrieden mit
meiner Halbmaske. Ich nahm sie her, aber sie
war zu groß und ich konnte nicht gut hindurch-
gucken. Ich näherte mich einem Spiegel: oh, aber
der Schrecken! Rasch riß ich die Maske herunter
und betrachtete sie. Besser ich hätte sie niemals
gesehen! Ich warf sie wieder in den Koffer
zurück, versuchte, nicht daran zu denken, und setzte
mich hin und spielte mit den Zimmetstangen.
Aber bald wurde mir dies leid, und da ich
keinerlei Zerstreuung mehr hatte, begann ich eine
seltsame Furcht zu empfinden. Eine Ratte trappelte
durch das Zimmer und meine Schauer verdoppelten
sich: ich erhob mich und nahm die Stangen, um
sie au ihren Platz zurückzuthun. Ich öffne den
Koffer, aber malt euch meinen Schrecken aus: die
Maske starrte mich an, mit einem lebendigen
Auge und fixierte mich damit. Ich ließ den Deckel
niederfallen. Ich schrie nicht, aber mein kleines
Herz klopfte mit großer Heftigkeit. Ich lief zun, Aus-
gang. Nur zu gut war der verschlossen. Ich rückte
einen Stuhl an den Tisch und flüchtete mich hinauf.
Dort stand ich langgestreckt, lugte zum Hinrmel
empor und fing aus Leibeskräften zu singen au.
Als ich mit Singen aufhörte, fühlte ich mich
schauerlich allein. Auch hatte ich großen Durst.
Ich machte eine Anstrengung und kehrte mich dem
Milcheimer zu. Aber die Kammer schien mir so
finster, so mit Schatten bevölkert! Ich drehte noch-
mals den Kopf hin, indem ich zu singen versuchte:
aber nun hatte ich weder die Energie noch die
Kraft, dies zu thun. So verharrte ich eine geraume
Weile, unter den Oualen des Durstes und der
Furcht und unter Gedanken an jene Zeit, da mich
mein Vater mit in die Stadt spazieren nahm, in
die öffentlichen Gärten, und mir Obst kaufte.
Diese Erinnerungen brachten mich zum Weinen
und ich weinte lange Zeit. Es dunkelte: ich be-
trachtete nicht länger den Himmel, sondern hielt
schlaftrunken den Kopf wider die Mauer gelehnt.
Nun meldeten sich Geräusche bei mir, fein und
deutlich gingen sie durch das Zimmer. Ich stand
mäuschenstill, regungslos, die Augen fest ge-
schlossen: aber ein Geräusch, stärker als die übrigen,
ließ mich unwillkürlich den Kopf wenden, und
nun sah ich, daß es ein paar Mäuse waren, die
mit den Zimmetstangen spielten. Ich schloß wieder
die Augen und als meine Schwester heimkehrte,
war ich auf dem Tisch eingeschlafen. Sie weckte
mich: im ersten Augenblick erschrak ich, dann
begriff ich, erkannte sie, schlang ihr die Arme um
den Hals und weinte und bat, mich nicht wieder
im Zimmer einzuschließen.
Als das Licht angezündet war, gewahrte sie
die Unordnung, schalt mich aus und öffnete den
Koffer, um das Kleiderzeug, das umherlag, hinein
zu räumen: sofort erblickte ich die Maske, die
noch dalag mit ihrem lebenden Auge.
Meine Schwester nahm sie und warf sie aufs
Bett, um Ordnung im Koffer zu schaffen. Nun
konnte ich erkennen, daß der Blick der Maske, der
mir solchen Schreck eingejagt hatte, nichts war als
eine stählerne Gürtelschnalle, die durch den Schlitz
des einen Auges gefunkelt hatte.
Tags darauf war der Ausgang offen, mit der
Weisung nicht hinauszugehen, was ich zwar ver-
sprach, aber nicht zu halten vermochte. Wenige
Tage später richtete ich mich bereits wieder auf
dem Treppenflur ein, ganz wie früher; aber ich
warf nichts mehr zum Fenster hinaus. Die Tage
folgten einander, einer wie der andere, ewig das
Gleiche. Da, eines Morgens, bei der Heimkehr
von einem Besorgungsgang für unsere bescheidene
Mahlzeit, fast immer Milch und Brot (weil mich
doch meine Schwester nicht ohne Mühe dazu ab-
gerichtet hatte, diese kleinen Dienste zu erfüllen),
da erblickte ich auf dem Treppenabsatz und im
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