Nr. 22
nächsten Jahre selbst Hochzeit macht. Die Aeltcren hatten daS zu oft
ohne Erfolg versucht, um noch an den Zauber zu glauben.
„Fräulein Thekla!'' rief Frau Willibald am Tage vor der Hochzeit.
„Sie müssen heute Nachmittag zu Westheimers zur letzten Anprobe. Die
Damen können nicht mehr Herkommen."
Die Arbeiterinnen schauten alle erschrocken und gespannt auf Thekla.
Im ersten Moment war sie allerdings entschlossen zu der trotzigen Er-
klärung: „Das thu' ich nicht! Das können Sie nicht von mir ver-
langen!" Frau Willibald hätte in Anbetracht der Verhältnisse, die ihr
gewiß nicht ganz unbekannt waren, die Weigerung gelten lassen müssen.
Aber eine krankhafte Neugier, ein selbstquälerisches Verlangen dieses
Haus zu betreten, Ottmar vielleicht noch einmal zu begegnen, ver-
drängte Thekla's erste Regung des Widerwillens. So stieg sie denn,
mit dem Lehrmädchen hinter sich, das die große Schachtel trug, die teppich-
belegte Treppe zu der Westhcimer'schen Wohnung empor. Ein licht-
strahlender Vorraum, ein von Gold und Seide strotzender kleiner
Salon. Man ließ sie warten. Zuweilen wurde eine Thür geöffnet;
dann hörte man Teller und Tassen klappern, schwatzende Stimmen.
Sie dachte an alle die Arbeit, die heute noch zu erledigen war,
an Frau Willibald's Verzweiflung, wenn sie so lange ausblieb und
die Ohren wurden ihr glühend heiß vor Aufregung und Ungeduld.
Endlich nach einer Stunde ries sie nach einem Dienstmädchen, das hin-
und herlief und ließ fragen: ob man ihre Anwesenheit vergessen habe.
Es dauerte wieder geraume Zeit; dann trat endlich die junge
Dnnic ei», erwiderte sehr von oben herab ihren Gruß und warf in be-
leidigendem Tone hin:
„Eine solche Last, dieses einige Probier»! In Gottes Namen!
Kommen Sie!"
Durch eine Flucht von Zimmern folgten Thekla und das Lehr-
mädchen mit der Schachtel der widerwillig Voranschreitenden in ein ent-
zückendes Roccocco-Boudoir. Hier ließ sie sich gnädigst das Pracht-
gewand Überwerfen, die Taille einhaken und stellte sich dann prüfend
vor den großen, hellbcleuchteten Spiegel. Das kleine Persönchen ver-
schwand säst in dem üppigen Gcwoge der langen Schleppe; ihr fahles
Gesicht wirkte noch grünlicher und reizloser über dem weißen Perl-
mutter-Glanz des schimmernden Gewebes, die plumpe Gestalt war mit
all den kostbaren Spitzen und anmuthig eingestreuten Myrthenbüscheln
nicht zu verdecken. Sie schien sich selbst nicht zu gefallen und Thekla
mußte ihre Enttäuschung entgelten.
Unzufrieden und ärgerlich zupfte sic an der Taille herum. „Ich
finde, die Toilette hat gar keinen Chic! Im Journal sah das alles so viel
flotter und graziöser aus! Der Gürtel ist zu hoch! Diese Schleife iväre
viel hübscher auf dieser Seite. Und das sind auch nicht die Spitzen, die
ich ausgesucht habe! Nein, bitte, widersprechen Sie nicht! Ich weiß das
ganz genau! Und der Nock ist vorne zu lang! Trennen Sic einmal
hier die häßlichen Puffen an den Acrmcln ab. Und der Gürtel muß
weg!" Sic klingelte: „Rufen Sie Mama oder meinen Bräutigam!"
Thekla kniete gerade auf dem Boden und steckte den Rock um einen
halben Centimeter kürzer, als Ottmar eintrat. Langsam hob sie .die
Angen zn ihm empor. War er nicht zusammengezuckt, als er sie er-
kannte? Jedenfalls schaut» er über sie hinweg, als wäre sie Lust, als
sie sich daun zu ihrer stattlichen Höhe ausrichtete und, nicht ohne Absicht,
einen Moment in ihrer vornehmen stolzen Schlankheit neben der Un-
scheinbaren in dem leuchtenden gleißenden Gewände stand. Sie hätte
es ihm noch verziehen, daß er nicht den Muth hatte, ihrem Blick zu
begegnen. Aber als er mit seiner Braut dann französisch zu reden
ansing und die beiden sich über ihren Köpf weg miteinander unter-
hielte», wie in Gegenwart einer Magd; als er cs geniiithsruhig mit-
anhörte, wie Fräulein Sidonie aus Laune an dem Kleid herumkritisirte,
immer wieder neue Aenderunge» verlangte, zertrennen ließ, was sie
vorher nach langer Berathung selbst angeordnet hatte, ohne daß er in
seiner erbärmlichen Feigheit ein Wort der Begütigung dazwischenwarf,
ohne daß er nur einmal sagte: „Laß es jetzt gut sein!" — da be-
gann's in ihr zu kochen vor Zorn. Ihre Finger zitterten, während
sic die Nadeln in den Stoff steckte. Fieberheiße, rothe Flecke glühten auf
ihren Wangen. Sic warum Rande ihrer Geduld und Selbstbeherschung
und überließ es dem Stubenmädchen das Kleid auszuhaken und in die
Schachtel zu packen. Mit stummer Verbeugung verließ sie das Zimmer.
„Ein unangenehmes Frauenzimmer," hörte sie das Fräulein
Westheimer noch sagen. Nun sprach sie deutsch, um sicher verstanden
zu werden.
Es war schon ganz still in der Schneiderstuhc, als Thekla noch
ininier nähte und nähte, ohne auszublicken. Ihre Schläfen schmerzten
zum Zerspringen und während sic arbeitete, hörte sic immerfort das
wilde, zornige Klopsen ihres Herzens.
Sie war vernünftig gewesen. Sie hatte es ganz in der Ordnung
gesunden, daß die Andre ihm angehören würde vor aller Welt, daß
die Andere mit ihm. sortreiste nach.Italien, daß ihr alles Glück zu Theil
würde, von dem sie niemals hatte träumen dürfen; denn die Andere
war reich und sie war arm. Aber nun fühlte sie nur mehr die krasse Un-
gerechtigkeit, daß die Uebcrmüthigc sie auch noch quälen und schlecht be-
handeln durste, weil'sie reich war; daß sie dasitzcn mußte, bis tief in
die Nacht hinein, um alle die hundert mühsamen Stiche wieder zu machen,
. JUGEND
Albert von Keller (München)