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Nr. 22

JUGEND

1903

nur wegen der boshaften Laune des verzogenen,
verwöhnten Glückskindes. Bon Viertelstunde zn
Viertelstunde wuchs in ihr die Empörung. Sic
hatte nur mehr den tollen, glühenden, überwältigen-
den Wunsch, sich zu rächen, ihr iveh zu thun, ihrem
Hochmuth einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

Als sie dann endlich das Brautkleid in die Schach-
tel legte, die das verschlafene Lehrmädchen heute
noch zu Westheimer's tragen mußte, da schob sie in die
seidene Rocktasche ein kleines Blatt Papier — Ottmar's
Abschicdsbries.

Man sah Thekla am nächsten Morgen an, das;
sie nicht geschlafen hatte. Sie war sehr blas; und
hatte dunkle Ringe um die Augen. Sv oft es
klingelte, schrak sie heftig zusammen. In der Nacht
nmr sic mitten in ihren: süßem Racherausch von der
wilden Angst ersaht worden: Wenn die Heiratb im
letzten Moment zurückginge! Dann hätte sie Ottmar's
Existenz ruinirt, und Westheimer's würden kommen
und sie bei Frau Willibald anklagen und es mußte
furchtbare Semen geben und sie verlor ihre Steile
und war dem Haß der beleidigten Familie preis-
gegeben.

Sie konnte nicht bereuen, was sie acthan. Aber
todesbang war es ihr zu Muthe. Doch der Bor-
mittag verging, ohne daß sie in den Salon gerufen
wurde und als sie Mittags nach Hause ging, fuhren
die eleganten Hochzeits-Wagen an ihr vorüber. Nun
mußte sic die Trauung sehen: sie konnte gar nicht
anders. Das war ein Funkeln von Juwelen^ ein
Glitzern von Pailletten, ei» Rauschen von L-eide
und Sammt, ein Aufwand orientalischer Pracht in
der schlichten protestantischen Kirche! Und doch machte
die Fcstversammluug cineir freudlosen Eindruck.
Der Bräutigam trat mit einem düster» Kopf an
den Altar. Die Braut hatte ihre selbstbewußte, über-
müthigc Miene verloren und beugte sich unter dem
Mhrthenkranz wie unter einer Last. Ihr „Ja" klang
gepreßt, wie von Thränen erstickt. Ihre Hand glitt
mit einem trampshaften Zucken herab nach der Tasche
ihres Kleides.

Aber nur Eine, die mit kreideweißem Gesicht und
großen, starren Augen hinter einer Säule stand,
irntßte diese Bewegung zu deuten.

Vorschläge für clen Transport
von betrunkenen

Auf dem „Alkoholiker-Longreß", der kürz-
lich in Süfflingen stattfand und über den wir in
unserer Ar. 1S berichteten, gelangte die nachfolgende
Resolution zur Annahme:

Mit den Fortschritten der modernen Verkehrs-
und Beförderungsmittel hat der Transport der
Betrunkenen leider nicht gleichen Schritt gehalten,
im Gegeutheil, er ist gänzlich hinter den An-
forderungen, welche die trinkende Menschheit zn
stellen berechtigt ist, zurückgeblieben. Noch immer
empfindet der Betrunkene auch die kleinste Fort-
bewegung, welche ihm seitens der Polizeiorgane
zu theil wird, nicht nur als keine Annehmlich-
keit, nein, als eine (Qual, ja als eine Marter!

Vas soll und inuß anders werden! Wir
unterbreiten daher den zuständigen Behörden
einige diesbezügliche Vorschläge: Es gibt drei
Arten von Betrunkenen, z. Der „Ange-
trunkene". 2. Der „volle" oder „Normal-
betrunkene" z. Der „Totale" oder „knüppel-
dick Besoffene".

Da der einfach „Angetrunkene" der Aufforderung
des Schutzmannes, ihn zn begleiten (wenn diese
Aufforderung in geschickter Form erfolgt), ohne

weiteres Widerstreben Folge leisten wird, so haben
wir uns nur mit den beiden letzten Kategorien
zu beschäftigen.

Selbst der „volle" wird sich in vielen Fällen
ohne bedeutende Schwierigkeiten von der Stelle
bewegen lassen. Die bewegende Kraft — also
in diesem Falle der Schutzmann — wirkt am
besten von „rückwärts". Im Interesse der Er-
haltung des Schwerpunktes scheint es geboten,
daß beide Figuren im Winkel von $5 Graden zu

mäßig schnell zurückgelegt werden.

Unsichere Dienste leistet der sogenannte „Vor-
spann". Abgesehen von den häufig vorhandenen

antipcristaltischen Neigungen des „vollen", ist
diese Beförderung nur dann zn empfehlen, wenn
der Transportirte „Schritt" zu halten vermag,
also ein sogenannter „Paßgang" ermöglicht wird.

Vft erscheint der „volle" bereits gänzlich
hilflos, und doch liegt nur eine „partielle"
Lähmung vor. Dieses zu eruiren, ist Sache des
Schutzmannes. Sind die Arme z. B. noch aktions-
fähig, so wendet man die „Schubkarre" an, welche
beiden Thcilen die denkbar größte Bcguemlichkeit

biclet. Hierzu gehört allerdings, daß beim „vol-
len" noch ein gewisser Grad von Einsicht und
gutein Wille» vorhanden ist.

Bei dein Transport der „Totalen" wird
leider noch hier und da das sogenannte „Schlcif-
system" angewendet, welches absolut zn verwerfen
ist. Ein bemerkenswerther Fortschritt dagegen
ist der in einigen süddeutschen Universitätsstädten

eingeführte „Polizei-Esel", welcher mit Leichtig-
keit einen „Totalen" oder zwei „Volle" zu -be-
fördern vermag.

Auf die Dauer wird aber die Einführung
eines für diese Zwecke besonders eingerichteten
„Automobils" nicht mehr zu umgehen sein und
dürfte in den „Bierstädten" eine dringende Pflicht
der Humanität werden.

Zeichnungen von A. Schmidhammer)

-Zied etneo 21Tond)fo

von Oscar Eevertin

Urlheilc nicht nach dieser Kutte, -
Nach langem, leerem Zeitvertreib:
Freiwillig wühlt' ich nicht im Schutte,

In Büchern, Pcrgamentgcschreib'!

Nie wählt' ich mir statt Weltenweite
Die Zelle hier zum Lebensziel —

Nur weil mein Arni zn schwach zum Streite,
Griff zögernd ich zum Federkiel.

Nicht meine Schriften sollst du fragen,

Der Studien kleingeschäft'gen Wust:

Dach der Gedanken kühnes Wagen,

Der Träume wilde Thatenlust!

Die herrschende Gewalt bemerke,

Die drängend mir das Blut erregt,

Des heißen Taktes Hcldcnstärke,

Der all mein Sinnen treibt und trägt!

Denn jede That in Sag' und Sange
Durchflammte mich mit Fcucrlust,

Und jedem tollen Ucberschwange

Hab' froh ich mich verwandt gewußt!
Kein Roß zum Kampfe sah ich springen,
Das nicht von mir ein Wünschen trug,
Und alle blanken Schwerterklingen
Verlockten mich zu Griff und Zug!

Da draußen wogt das bunte Leben
So wild und süß — kann ich verstehn,
Warum cs nicht auch mir gegeben,
Glückselig drinnen zu vergehn:

Zu sprossen wie die jungen Zweige
Am Baum des Seins in frischer Kraft,
Zu leeren bis zur letzten Neige
Des vollen Bechers schweren Saft?

Der Abend dämmert wehmuthshelle:
Vollendet wieder klingt im Ohr
Ein Lied vom Leben — doch die Zelle
Hält mich gefangen wie zuvor.

Ich dichte Hymnen und Legenden,

Drin meine Sehnsucht überguillt:

Doch wird mir erst aus Todes Händen
Der Trank, der mein Begehren stillt.

(Aus dem Schwedischen
von Hanns v. Gumppenbergl

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[nicht signierter Beitrag]: Vorschläge für den Transport Betrunkener
Monogrammist Frosch: Illustrationen zum Text "Vorschläge für den Transport von Betrunkenen"
Oscar Levertin: Lied eines Mönchs
 
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