J UGHND
1903
Nr. 28
den Kerzen stand, saß die Bäuerin und hielt Toten-
wache.
In ihren runzligen Zügen bemerkte ich den Aus-
druck stumpfer Gelassenheit, wie man ihn bei den
meisten wahrnimmt, die einen Hoffnungslosen lange
gepflegt haben.
Sie erhob sich bei unserm Eintritts und sagte
auf die Frage des Arztes nach den letzte:: Stunden
)es Bauern: „Ganz stad is er glegn seit in der
Fruah, hat nix gredt und nix deut't, nur von dem
Kräuterwein hat er no verlangt, den der Herr Dotier
eahm gestert verschrieben hat."
Sie wies dabei mit der knochigen gelben Hand
auf ein Halbliterglas, auf dessen Boden der Rest
einer dunkelroten Flüssigkeit sichtbar war.
„Er wird ja doch net die ganz Halbe da . . .?"
staunte der Arzt.
„Na, na — er hat nur grad verkostet davo!" ent-
gegnete die Alte; „aber wiear er tot is gwen, han
i mer denkt, es waar do schad um den theuern Wein,
bal er umsteht und na Han i 'hn halt selm aus-
Lrunka."
Die Bauern fassen den Tod anders auf als wir,
und wer will entscheiden, ob nicht naturgemäßer,
vernünftiger?
Jluf der Straßenbahn
In Hitz und Frost, in Staub und Regen,
Jedwedem Wetter die Stirn entgegen,
Die Hand an der Kurbel, das Auge gespannt:
So steht der Führer ans seinem Stand,
So steht er von früh bis Abends spät.
Das schwatzt um ihn, das kommt und geht,
Das stößt und drängt sich, das scherzt
und lacht
Bis in die tiefe Mitternacht.
Starr blickt er hinab in der Straße Gewühl,
Er steht auf Posten, er kennt nur ein Ziel,
Wie 's um ihn auch hastet und wirrt
und flieht:
Daß nur kein Unglück, kein Ungliick geschieht!
Nur einmal, da draußen, da kann cs gescheht:,
Wo grün an der Straße die Bäume
noch stehn,
Da bricht ein Lächeln die starre Ruh,
Vom Wegrand nickt fröhlich sein Weib ihm zu,
Sein Junge springt flink an die Vorderthür
Und bringt ihm ein Brot und bringt ihm
ein Bier,
Fährt jubelnd mit zur Endstation.
— Das ist des Tages reichster Lohn.
Sei jeden:, wie und wo er auch fährt,
Solch eine Strecke Weges bescheert.
3. Lorwenberg
Srotih
von Gustav Wied
„Alle Galanterie ist Geschlechtstrieb", sagt Her-
bert Spencer — was indessen eine Uebertreibung
sein dürfte, sintemal ich einen: 40jährigen Zaun-
vkahl mit Schnurrbart und 200,000 Mitgift kräftig
den Hof mache.
11. Juli.
Gestern hielt ich an und sie antwortete, indem sie
in meinen Armen utnknickte. Also ist die Sache ab-
gemacht.
12. Juli.
Sie hat auch eine Mutter, eine ältere Mumie,
strick- und redewüthig.
20. Juli.
Wir sollen bald Hochzeit haben. Sie ist Die-
jenige, die es eilig hat. Gott mag wissen, wie die
Geschichte ablausen wird.
23. Juli.
Ich bin sür's Standesamt, die Weiber sind für die
Kirche. Nun werden wir sehen, wer der Stärkste ist.
28. Juli.
Die Weiber natürlich!-Kirchliche Trauung!
Nun bitt' ich Sie!
2. August.
Meine Schwiegermutter meint, ich müßte mir
einen Cylinder kaufen. Gut, so kaufe ich mir einen
Cylinder. Ich hasse Cylinder!
6. August.
Jetzt geht's los! Diner im Konzertpalast! Und
ich, der ich Hochzeitsdiners verachte und verabscheue!
Aber, was thut der Mensch nicht sür's Geld!
10. August.
Heut in drei Wochen soll das Gericht vollstreckt
werden. Heiliger Sebastian, bete für mich!
11. August.
Sie war heute beim Mittagessen deeolletirt. Ach
du lieber Augustin, Alles ist weg, weg, weg!
Abends.
Ich glaube wahrhaftig, ich nehme Reißaus, ja!
12. August.
200,000 aus Zinsen gibt 8000 jährlich. Assistent
in der zweiten Gehaltsstufe gibt 1200 jährlich.-
Ich bleibe und vertraue auf die Influenza!
13. August.
Sie ist jetzt rein verrückt ous's Küssen. Alle
guten Geister, wer doch ein bischen was Schlimmes
iu den Mundwinkeln hätte!
14 August.
Zwölf Gänge und sieben Sorten Wein. Ich
weiß schon, wer -einen kräftigen Rausch kriegt!
15. August.
Sollte ich mich nicht doch absentiren? — Könnte
ja einen Vertreter stellen.
16. August.
Jetzt will die Schwiegermutter, Gott steh mir bei,
auch küssen!
18. August.
Glaube, ich will versuchen, das Delirium vor
der Hochzeit zu bekommen.
21. August.
Ach ja, ach ja, ach ja! Wer weiß, wie nahe
Einem sein Ende!
22. August.
N-e-e-e!!!
23. August.
„Mein Alfons", sagte sie gestern Abend, als ich
sie verließ, „gute ruhige Nacht, mein Alfons!" Und
dann driickte sie eine struppige Zahnbürste gegen
meine Stirn .... Ptfeui!
24. August.
Ob man nicht doch Geld zu theuer kaufen kann?
In acht Tagen! — Heil Dir im Siegerkranz, in
acht Tagen!
25. August.
Alle meine Bekannten gratuliren mir aus die in-
famste Weise.
26. August.
Meine Schwiegermutter will bei uns wohnen!
Abends.
Sollte man nicht mit ein wenig Vernunft von
1200 jährlich ganz glücklich leben können?
Iler gewisrendaNe 6eHchlsvollrieher
„Aber Herr G'richtsvollzieder, was woll'n
S' denn? D'Henn' is ja eh schon 'pfänd.."
„Ganz recht, Bauer, aber sie hat gegackert!
Jetzt wart' ich gleich auf's Ei auch noch."
27. August.
Zwei ältere Verwandte mit Hängelocken sprachen
davon, sich bei der Familie oben über unserer neuen
Wohnung einzulogtren. — Nun weiß ich bald, was
ich thuei
28. August.
Ein alter Onkel mit Polypen in der Nase und
Epilepsie am ganzen Leibe hat sich die Parterre-
Wohnung angesehen!
29. August Morgens.
Habe Aufruhr versucht, wurde jedoch jämmerlich
unterdrückt.
Mittags.
Meine Schwiegermutter sagte vor einer Stunde,
daß sie das Ganze schon ordnen würde.
Abends 6 Uhr.
Dänemark, schönstes Land der Länder — jetzt
geh' ich nach Hamburg.
31. August.
* In dieser kräftigen Hansastadt angekommen, sandte
ich folgendes Telegramm:
Fräulein Elvire Kaspersen
Solitudenweg 101
Kopenhagen
Infolge veränderter Lebensanschauung bitte ich,
mich bei dem morgigen Fest zu entschuldigen.
Alfons.
(Deutsch von Ida Anders)
Meiter!
Wälder meiner erste» Liebe,
Ihr erwacht aus Traum und Schein,
Doch mein Wagen eilt vorüber,
Und schon schlaft ihr wieder ein.
Aber aus dem aufgeschlagnen
Stillverträumten langen Blick,
Glühte mir der fernsten Tage
Fastvergessnes Leid ni:d Glück. —
Längst nun haben Wind und Wolken
Eure ernste Spur verweht,
• Dort, wo ihr als treue Hüter
An nmblühten Gräbern steht.
Wo ihr Lieder, mir entschwunden
In des Lebei:s Kampf und Glnth,
Singt ^zur wundersamen Harfe,
Die in euren Armen ruht.
Und sie wiegen »euer Menschen
Ewig wandelndes Geschick —-
Und auch die zieh» einst vorüber,
Schauernd unter eurem Blick.
frar>r Langkernricd
ührcmen
Jk schall d: »ich mehr sehn,
Min Moder will dat so.
Uit wenn ik binnen ween, *)
Na buten **) feint ik froh.
Doch häw ik di mal sehn
Uit spräkst du uit mal an,
Uit fefttt ik dann allecn.
Dann ween ik, as ik kann.
Am besten weer, ik nieen,
Dat ennigt all de Not,
Jk wör di ni mehr sehn
Un läg all***) im weer dot.
Gustav fällte
*) innen weine. *'■') dranßen. ***) läge schon.
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Nr. 28
den Kerzen stand, saß die Bäuerin und hielt Toten-
wache.
In ihren runzligen Zügen bemerkte ich den Aus-
druck stumpfer Gelassenheit, wie man ihn bei den
meisten wahrnimmt, die einen Hoffnungslosen lange
gepflegt haben.
Sie erhob sich bei unserm Eintritts und sagte
auf die Frage des Arztes nach den letzte:: Stunden
)es Bauern: „Ganz stad is er glegn seit in der
Fruah, hat nix gredt und nix deut't, nur von dem
Kräuterwein hat er no verlangt, den der Herr Dotier
eahm gestert verschrieben hat."
Sie wies dabei mit der knochigen gelben Hand
auf ein Halbliterglas, auf dessen Boden der Rest
einer dunkelroten Flüssigkeit sichtbar war.
„Er wird ja doch net die ganz Halbe da . . .?"
staunte der Arzt.
„Na, na — er hat nur grad verkostet davo!" ent-
gegnete die Alte; „aber wiear er tot is gwen, han
i mer denkt, es waar do schad um den theuern Wein,
bal er umsteht und na Han i 'hn halt selm aus-
Lrunka."
Die Bauern fassen den Tod anders auf als wir,
und wer will entscheiden, ob nicht naturgemäßer,
vernünftiger?
Jluf der Straßenbahn
In Hitz und Frost, in Staub und Regen,
Jedwedem Wetter die Stirn entgegen,
Die Hand an der Kurbel, das Auge gespannt:
So steht der Führer ans seinem Stand,
So steht er von früh bis Abends spät.
Das schwatzt um ihn, das kommt und geht,
Das stößt und drängt sich, das scherzt
und lacht
Bis in die tiefe Mitternacht.
Starr blickt er hinab in der Straße Gewühl,
Er steht auf Posten, er kennt nur ein Ziel,
Wie 's um ihn auch hastet und wirrt
und flieht:
Daß nur kein Unglück, kein Ungliick geschieht!
Nur einmal, da draußen, da kann cs gescheht:,
Wo grün an der Straße die Bäume
noch stehn,
Da bricht ein Lächeln die starre Ruh,
Vom Wegrand nickt fröhlich sein Weib ihm zu,
Sein Junge springt flink an die Vorderthür
Und bringt ihm ein Brot und bringt ihm
ein Bier,
Fährt jubelnd mit zur Endstation.
— Das ist des Tages reichster Lohn.
Sei jeden:, wie und wo er auch fährt,
Solch eine Strecke Weges bescheert.
3. Lorwenberg
Srotih
von Gustav Wied
„Alle Galanterie ist Geschlechtstrieb", sagt Her-
bert Spencer — was indessen eine Uebertreibung
sein dürfte, sintemal ich einen: 40jährigen Zaun-
vkahl mit Schnurrbart und 200,000 Mitgift kräftig
den Hof mache.
11. Juli.
Gestern hielt ich an und sie antwortete, indem sie
in meinen Armen utnknickte. Also ist die Sache ab-
gemacht.
12. Juli.
Sie hat auch eine Mutter, eine ältere Mumie,
strick- und redewüthig.
20. Juli.
Wir sollen bald Hochzeit haben. Sie ist Die-
jenige, die es eilig hat. Gott mag wissen, wie die
Geschichte ablausen wird.
23. Juli.
Ich bin sür's Standesamt, die Weiber sind für die
Kirche. Nun werden wir sehen, wer der Stärkste ist.
28. Juli.
Die Weiber natürlich!-Kirchliche Trauung!
Nun bitt' ich Sie!
2. August.
Meine Schwiegermutter meint, ich müßte mir
einen Cylinder kaufen. Gut, so kaufe ich mir einen
Cylinder. Ich hasse Cylinder!
6. August.
Jetzt geht's los! Diner im Konzertpalast! Und
ich, der ich Hochzeitsdiners verachte und verabscheue!
Aber, was thut der Mensch nicht sür's Geld!
10. August.
Heut in drei Wochen soll das Gericht vollstreckt
werden. Heiliger Sebastian, bete für mich!
11. August.
Sie war heute beim Mittagessen deeolletirt. Ach
du lieber Augustin, Alles ist weg, weg, weg!
Abends.
Ich glaube wahrhaftig, ich nehme Reißaus, ja!
12. August.
200,000 aus Zinsen gibt 8000 jährlich. Assistent
in der zweiten Gehaltsstufe gibt 1200 jährlich.-
Ich bleibe und vertraue auf die Influenza!
13. August.
Sie ist jetzt rein verrückt ous's Küssen. Alle
guten Geister, wer doch ein bischen was Schlimmes
iu den Mundwinkeln hätte!
14 August.
Zwölf Gänge und sieben Sorten Wein. Ich
weiß schon, wer -einen kräftigen Rausch kriegt!
15. August.
Sollte ich mich nicht doch absentiren? — Könnte
ja einen Vertreter stellen.
16. August.
Jetzt will die Schwiegermutter, Gott steh mir bei,
auch küssen!
18. August.
Glaube, ich will versuchen, das Delirium vor
der Hochzeit zu bekommen.
21. August.
Ach ja, ach ja, ach ja! Wer weiß, wie nahe
Einem sein Ende!
22. August.
N-e-e-e!!!
23. August.
„Mein Alfons", sagte sie gestern Abend, als ich
sie verließ, „gute ruhige Nacht, mein Alfons!" Und
dann driickte sie eine struppige Zahnbürste gegen
meine Stirn .... Ptfeui!
24. August.
Ob man nicht doch Geld zu theuer kaufen kann?
In acht Tagen! — Heil Dir im Siegerkranz, in
acht Tagen!
25. August.
Alle meine Bekannten gratuliren mir aus die in-
famste Weise.
26. August.
Meine Schwiegermutter will bei uns wohnen!
Abends.
Sollte man nicht mit ein wenig Vernunft von
1200 jährlich ganz glücklich leben können?
Iler gewisrendaNe 6eHchlsvollrieher
„Aber Herr G'richtsvollzieder, was woll'n
S' denn? D'Henn' is ja eh schon 'pfänd.."
„Ganz recht, Bauer, aber sie hat gegackert!
Jetzt wart' ich gleich auf's Ei auch noch."
27. August.
Zwei ältere Verwandte mit Hängelocken sprachen
davon, sich bei der Familie oben über unserer neuen
Wohnung einzulogtren. — Nun weiß ich bald, was
ich thuei
28. August.
Ein alter Onkel mit Polypen in der Nase und
Epilepsie am ganzen Leibe hat sich die Parterre-
Wohnung angesehen!
29. August Morgens.
Habe Aufruhr versucht, wurde jedoch jämmerlich
unterdrückt.
Mittags.
Meine Schwiegermutter sagte vor einer Stunde,
daß sie das Ganze schon ordnen würde.
Abends 6 Uhr.
Dänemark, schönstes Land der Länder — jetzt
geh' ich nach Hamburg.
31. August.
* In dieser kräftigen Hansastadt angekommen, sandte
ich folgendes Telegramm:
Fräulein Elvire Kaspersen
Solitudenweg 101
Kopenhagen
Infolge veränderter Lebensanschauung bitte ich,
mich bei dem morgigen Fest zu entschuldigen.
Alfons.
(Deutsch von Ida Anders)
Meiter!
Wälder meiner erste» Liebe,
Ihr erwacht aus Traum und Schein,
Doch mein Wagen eilt vorüber,
Und schon schlaft ihr wieder ein.
Aber aus dem aufgeschlagnen
Stillverträumten langen Blick,
Glühte mir der fernsten Tage
Fastvergessnes Leid ni:d Glück. —
Längst nun haben Wind und Wolken
Eure ernste Spur verweht,
• Dort, wo ihr als treue Hüter
An nmblühten Gräbern steht.
Wo ihr Lieder, mir entschwunden
In des Lebei:s Kampf und Glnth,
Singt ^zur wundersamen Harfe,
Die in euren Armen ruht.
Und sie wiegen »euer Menschen
Ewig wandelndes Geschick —-
Und auch die zieh» einst vorüber,
Schauernd unter eurem Blick.
frar>r Langkernricd
ührcmen
Jk schall d: »ich mehr sehn,
Min Moder will dat so.
Uit wenn ik binnen ween, *)
Na buten **) feint ik froh.
Doch häw ik di mal sehn
Uit spräkst du uit mal an,
Uit fefttt ik dann allecn.
Dann ween ik, as ik kann.
Am besten weer, ik nieen,
Dat ennigt all de Not,
Jk wör di ni mehr sehn
Un läg all***) im weer dot.
Gustav fällte
*) innen weine. *'■') dranßen. ***) läge schon.
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