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1903

JUGEND

Nr. 29


H

Milt.

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Sonntag

A. Weisgerber (München)

Bei den Eltern

Seber der Familie des Mberrevifors Endlicher
in Hall lag am Sylvestertage eine drückende
Stimmung, voll unbestimmter Erwartung und
Sorge, Neugierde und Spannung.

In der ganzen Wohnung war ein geschäftiges
Hin und Her, Arbeit, Stöbern in alten Schränken
und Truhen, Abstauben und Reinmachen in allen
Zimmern, und wenn zwei von den vier Töchtern
des Mberrevifors bei ihrem Herumarbeiten am
Gang oder in den Wohnzimmern zusammenkamen,
gabs ein bedeutsames Zunicken, ein verständniß-
inniges Sichansehen, das wie der Ausdruck einer
Sorge war, oder es fielen da und dort ein paar
Worte, die stets mit einem bangenden „bleute
Abend" endeten.

Frau Dberrevisor Anna Endlicher, eine be-
scheidene Frau von beiläufig 56 Jahren, ging ganz
stille in der Wohnung umher und hielt dabei den
Kopf, an dem das stark ergraute Haar in glattem
Scheitel über beide Schläfen gestrichen war, leicht
auf die eine Seite geneigt, wie sie es immer zu
thun pflegte, wenn sie etwas bedrückte. In der
einen Hand hielt sie den Brief ihres einzigen Sohnes,
den sie zu wiederholten Malen wieder aus dem
Umschläge zog und wieder las, bis sie ihn fast
auswendig wußte. Darin theilte ihr Heinz, der
als Assistent an einer Klinik in München lebte, in
kurzen einfachen Worten mit, daß er sich mit einer
jungen Französin aus Genf verlobt habe. Er wisse,
schrieb er, daß seine Eltern von jeher keine Freude
an dieser Bekanntschaft gehabt hätten, die er an-
läßlich eines Studiensemesters in Genf gemacht.
Trotzdem ersuche er seine Eltern und Schwestern
vielmals, seine Braut gut aufzunehmen und ihm
zu verzeihen, wenn er nicht anders gekonnt, da
er das Mädchen zu lieb habe. Und nun bitte er
zum Schluffe, daß er seine Braut zum Sylvester-
abend in das Elternhaus bringen dürfe, damit
Mutter, Vater und Schwestern seine Erwählte

kennen lernten. Er habe sich eigens dazu von der
Klinik Urlaub genommen und sei am selben Tage
seiner Braut nach Zürich entgegen gereist. —

was Frau Anna schon seit langem im Stillen
gefürchtet, war nun eingetreten. Schon damals,
als ihr Sohn aus Genf zurückgekehrt war und
von jenem Mädchen.erzählt hatte, hatte sie eine un-
bestimmte Furcht empfunden, daß er dort „hängen"
könnte. Selten hatte er seitdem von ihr gesprochen,
aber häufig lagen dicke Briefe mit fremden Marken
auf seinem Schreibtische oder Karten mit einer
fremden Schrift und französischen Zeilen, die die
heimliche Sorge der Mutter immer von Neuem
genährt. Jetzt war das Wirklichkeit geworden,
was sie bisher nur gefürchtet hatte. Ihr einziger
Sohn nimmt eine Französin zur Frau, die Tochter
eines fremden Landes, von deren Familie man
nichts weiß, die niemand kennt von allen Be-
kannten, die vielleicht unsolid ist, jedenfalls aber
leichtfertig und genußsüchtig wie alle diese Fran-
zösinnen. weiß Gott, ob sie nicht ihren Heinz
einfach in ihre Netze gezogen hat und ihm später
dann untreu wird? Hat man nicht unzähligemale
von solchen Beispielen gehört? ,Und das häusliche?
was wird so eine Fremde von dem verstehen, noch
dazu eine Französin, die auf Wirtschaft nichts
halten, leichtsinnig in den Tag hineinleben und
das Geld auf Putz und Schmuck ausgeben! Geld?
Ja, wenn das wenigstens stimmte. Aber hatte
nicht Heinz früher schon erzählt, daß Mathilde ein
armes Mädchen sei, die nichts bringe als eine be-
scheidene Aussteuer?

„Das hat noch gefehlt," seufzte Frau Anna
auf. Ihr Heinz, der ganz andere Partien hätte
machen können, heirathet ein armes Mädchen,
warum hat er nicht die Helene Wiedmann nehmen
können, die Tochter des reichen Advokaten von
Innsbruck? hübsch wäre sie auch gewesen, viel-
leicht hübscher als jene Französin, und Geld wäre
dagewesen und vor allem, was der Frau Ober-
revisor das wichtigste schien, wäre Helene aus

einer soliden Familie, wo man Vater und Mutter
kennt und ein bischen Einblick hat in die Ver-
hältnisse. Aber mein Gott. So oft sie ihm davon
angefangen, hatte er überlegen die Nase gerümpft
und sich abfällig über das Mädchen geäußert. Eine
Philistertochter sei sie, hatte er gemeint. Philister-
tochter. Aber doch hundertmal lieber wäre sie ihr
gewesen, als diese hergelaufene Französin, die nichts
mitbrachte als ihre Aussteuer. Das wird eine
Wäsche sein! Unsolides, schlechtes Zeug, wohlfeiler
Baumwollstoff aus einem billigen Bazar. Frau
Anna fuhr mit ihrer Hand liebkosend über das
alte schöne Hausleinen, das im Schranke am Gange
aufgestapelt lag, schloß unter Seufzen den Kasten
und ging wieder ins Zimmer.

Es traf alle schwer, diese ungeschickte Wahl.
Sie sowohl, als ihren Mann, der als deutscher
Patriot eine directe Abneigung gegen diese Romanen
hatte, dieses verweichlichte Gesindel, wie er sich
ausdrückte.

„Mir ist die Sache schon von Anfang an zu-
wider," hatte er gesagt, „aber nun kann man
nichts mehr machen, wenn er schon einmal ver-
lobt ist, kann man keinen Skandal machen. Das
geht nicht. Aber ärgern thuts mich."

Plötzlich war er im Zimmer stehn geblieben
und hatte mit Strenge erklärt: „Daß du ihr aber
ja das Brillantkreuz nicht gibst. Die Mama thät'
sich im Grabe grämen, wenn's auf.eine Französin
käme. Das ist nur was für ein Mädel aus solider
Familie. Das französische Gesindel," fügte er voll
Groll nach.

Nein, da hatte ihr Mann Recht, das Kreuz
wollte sie dieser Schwiegertochter nicht geben.
Es war dies ein großes werthvolles Kreuz aus
Brillanten, in altem Silber gefaßt, ein Familien-
erbstück, das stets von der Frau auf die Braut des
ältesten Sohnes überging. Manchmal hatte sie
früher ihrem Sohn davon erzählt und immer
beigefügt: „Siehst du, Heinz, das bekommt ein-
mal deine Braut, aber nur wenn sie mir gefällt."
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Hans v. Hoffensthal: Bei den Eltern
 
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