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Nr. 52

1903

Das Wunderbaby

Unter den Wunderkindern Europas ist ein
wehklagen ausgebrochen, als stände ein zweiter
Betlehemer Rindermord bevor. Und warum? —
Das Wunderkind ist abgethan durch das neueste
Produkt raffinirtester Zuchtwahl, durch das
Wunderbaby. Rasimir wdschlbrzcoff ist
sechs Monate alt, der Sohn eines Violinvirtuosen,
zweier Musikprofessoren, eines symphonischen Dich-
ters, zweier Rlaviervirtuosen und dreier Konser-
vatoristen. Die Mutter, eine berühmte Lieder-
sängerin, wünscht ungenannt zu bleiben.

Kasimir's Geburt war eine Merkwürdigkeit
ersten Ranges. Als ihn die Hebamme ins warme
Wasser steckte, sang er das Lied des Meermädchens
aus dem „Oberon." Rahm ihn die Mutter
an die Brust, so stimmte er „wohlauf noch
getrunken!" an. Als jene während des Wochen-
bettes einmal Schuberts „Du bist die Ruh" vor
sich hingeträllert hatte, war plötzlich Kastmir's
Stimme hell und klar zu vernehmen gewesen:
„Cis! Cis! Cis!“ Die Mutter hatte nämlich C
gesungen. Professor Drillenberg gab ihm vom
zweiten Tage ab Unterricht im Rlavierspiel und
der. Harmonielehre und erzielte, die verblüffenden
Resultate, die jetzt die ganze Welt bejauchzt.

Rasimir erscheint stets in Begleitung seiner
Amine auf dem Podium. Der Klavierstuhl besitzt
gewisse Einrichtungen, die eine eventuell-noth-
wendige Unterbrechung der Vorträge überflüssig
machen.

* JUGEND-

Rach einer kurzen Ansprache, in der Rasimir
dem Publikum seine künstlerischen Anschauungen
klar macht, beginnt das Konzert. Der erste Theil
besteht aus Beethoven's Klaviersonaten, der zweite
aus eigenen Kompositionen. Lamond stellte dem
Wunderbaby das Attest aus, er habe mit sechs
Monatei: noch nicht mit solcher Vollendung Beet-
hoven spielen können. Zwischen dem ersten und
zweiten Theil nimmt Kasimir einen Schluck Milch
zu sich.

Dann folgen die eigenen Kompositionen. Bis
jetzt schrieb Kasimir zehn Symphonien, 35 Rondo's,
74 Sonaten, und Variationen über ein eigenes
Thema. Zur Zeit arbeitet er an einer symphon-
ischen Dichtung, die „Geschlecht und Cha-
rakter" genannt ist und das Liebesleben der
Menschen veranschaulichen soll. Eine tragische
Oper „Das Weib" ist bereits von fünf hof-
theatern zur Aufführung angenommen. Auch als
Musik-Schriftsteller hat Kasimir bereits hervor-
ragendes geleistet. Ich erinnere nur an seine
Essays: „Das Germanische in Wagners
Musik", „Mozart, der Stümper", „Ich und
Richard Strauß, eine Abrechnung", welch
letztere in vierzigster Auflage vorliegt. Kasimir
hatte zuerst den Schwur gethan, Deutschland nicht
vor der Rückgabe Elsaß-Lothringens zu betreten.
Als Russe glaubte er Frankreich diese Rücksicht

zu schulden. Herrn Konunerzienrath Leichner ist
es jedoch gelungen, den jungen Künstler umzu-
stimmen, so daß ihn bald jeder selbst wird be-
wundern und sich von der Wahrheit meiner An-
gaben überzeugen können. Helios

(Zeichnungen von A. Schmidhammer)

keclakleurs-Ulage

Line Strafverhandlung vor dem Landgerichte München
ergab: In einem Dorfe bei Holzkirchen wurden am
Kopfe eines Burschen neun steinerne Maßkrüge und
mehrere Biergläser zerschlagen, wahrend er feftgehalten
wurde. Vierzehn Tage später konnte der Mann als
geheilt aus dem Krankenhause entlassen werden.

In einem kühlen Grunde
Da geht es klapp klapp klapp;

Sie schlagen neun steinerne Maßkrüg'

An einem Schädel ab.

Doch ein solider Rnochen
wird nicht so schnell zu Brei;

Die Maßkrüg' sind zerbrochen,

Der Schädel ging nicht entzwei.

-Ich möchte zuweilen springen

Vor Ropfweh bis ans Dach;

Die Trambahnglocken klingen
Mir noch im Traume nach!

Ich möchte zuweilen reißen
Mir sammtliche Haare aus,
wenn singen ihre weisen
Die Orgeln vor meinem Haus.

Doch feit ich das gelesen,

Ich weiß jetzt, was ich will:

Ich möcht' so einen Schadell
— Dann war's auf einmal still. ..

A. De Mora
Register
Helios: Das Wunderbaby
A. De Nora: Redakteurs-Klage
Arpad Schmidhammer: Illustrationen zum Text "Das Wunderbaby"
 
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