Nr. 2
J UGfcND
o
1904
allein Dogmenmensch, der
Jurist nicht allein Para-
graphenmensch, der Kauf
mann nicht allein Geld-
mensch ist, — wir ahnen,
was der Eine vollbringen
wird. Denn so außeror-
dentliches scheint, daß ein
Geist, eine Seele sei, wo-
von alles erhellt, belebt
werde, daß Gott nicht
e i n m a l gewesen und nun
ein petrefakt geworden,
sondern daß er heute
und jetzt lebendig sei,
spreche, handle: — um
so außerordentlicher wird
es scheinen, das solche Gedanken und Empfind-
ungen reale Macht haben sollen, daß sie unser
Leben umformen sollen, daß sie Zukunft haben
sollen. Gerade das wird ihn — nennen wirs:
populär machen, daß er auch dem kleinen
und einfachen Manne, dem bescheidenen und
niederen Leben eine Erklärung gibt, daß er als
Weltarbeiter den erachtet, welcher mit pilfe
Gottes in Regen und Sonne und beim Rau-
schen wogender Felder sich sein tägliches Brod
erarbeitet. Ihn: wird der Mensch gelten, wel-
cher der Natur nicht entfremdet ist; weil die
Natur ein Symbol des Göttlichen ist. Und ein
Späterer, der die Umrisse seiner Bilder fest-
halten möchte, wird die Worte wiederholen
dürfen, welche Maeterlinck über Emerson sagt:
„Vier ist Johann, der seine Bäume beschneidet,
Peter, der sein pems baut, Du, der mir von
der Ernte erzählt, ich, der Dir die pand gibt;
aber wir stehen im Begriff, an das Göttliche
zu rühren, und wir erstaunen über das, was
wir thun . . . Emerson hat einen Lichtstrahl
auf den weg des pandwerkers gesandt, der aus
seiner Werkstatt tritt. Er hat uns gezeigt,
wie alle Kräfte des pimmels und der Erde
daran betheiligt sind, die Schwelle zu halten,
auf der zwei Nachbarn vom fallenden Regen
oder dem sich aufthuenden winde sprechen;
und über zwei Wanderern, die sich anreden,
zeigt er uns das Antlitz eines Gottes, das
dein Antlitz eines Gottes zulächelt."
Aber diese Umrisse werden sehr ungenau
sein, wer dürfte vergessen, daß dieser Denker,
Dichter und Prophet — um in diesen Worten
seine Eigenschaften, so gut es geht, zu bergen
— kein Gleichmacher sein wird; daß er das
große Leben vom kleinen Leben gerade durch
die Wahrheit, durch die Deutlichkeit unter-
scheiden wird, mit welcher es ein Bild der
„Idee", des Geistes der Natur gibt. Nor der
Schwäche wird er warnen, die dem Starken den
Sieg läßt, und der Masse wird er zurufen:
nicht Freiheit, sondern strenge Schulung.
Und zuletzt: man wird ihn verkennen, wir
dürfen das nicht übersehen. Man wird ihn
einen Idealisten, einen Mptimisten, einen Pro-
pheten nennen, dem es leicht wurde, Einfluß
zu gewinnen und welcher bald die kleine Insel
geistesverwandter Verehrer verließ. Denn man
wird den werthvollsten Theil seiner Arbeit,
jenes Beste vergessen, welches nicht so sehr für
die Vielen, als für einen engeren Kreis geistiger
Nachbarn gesprochen ward. Wohl wird er ein
Prophet sein, wohl wird er die Stimme eines
Patriarchen haben. Aber mehr: ihm gebührt,
wie ich sagte, der Ruhm des Dichters. Ihm
werden in der That sich alle Tage heiligen
und sein Bestes wird der Brunnen sein, aus
dein alle seine Gedanken quillen. Die Wärme,
der zuckende puls seiner Sätze: das wird das
Außerordentlichste an ihm bleiben. Im Tief-
sten wird er — wie könnte es anders kommen!
— nicht recht an die Besserung der Menschen
glauben; über Reformen und Vereine wird er
lächeln. Sein Denken und wollen wird aus
der Sehnsucht seines perzens fließen, Geister
zu finden, die gleich ihm der Natur nachspüren;
Otto Eckmann ch
aus der Sehnsucht seines perzens, solche Geister aus
der Masse herauszuheben und ihre Fleischwerdung zu
ermöglichen. Und so wird sein Letztes auch nur den
wenigen offenbar werden, die ihn ganz verstehen, weil
sie die Welt ganz verstehen. Das Leben lieben, weil es
liebenswerth ist? . . . Aber vielleicht: trotzdem.
Er wird einem Menschen gleichen, der, nachdem er
in ein eisiges Bad untertauchte, nun wieder an die warme
Luft emporkommt, an das Licht, an die Sonne.
fllfes Gebetbuch
In meiner Mutter vergilbtem Gebetbuch fand
Ich heut in einem schluchzenden Gebete
Dies zärtliche Blatt von fremder Männerhand:
„Geliebtes Mädchen! Sei mir Rausch und Lethe."
Auf leisen Flügeln schwebt, verträumt und lind,
Der Mutter Antlitz her aus fernen Tagen:
Am Sonntag nahm sie das heilige Buch vom Spind
Und thät es still zu St. Magdalena tragen.
Doch ach! der Liebe glutumhauchtes Blatt
Verbrannte fast die kleinen, rosigen Hände.
Und wenn der greise Pater gepredigt hat
Und gefleht, daß Jesns Schuld und Sünde wende,
Da hat sie zitternd ihr Büchlein aufgethan,
Just an der heimlichen, an der verwegenen Stelle.
Wie sieht die Muttergottes sie gütig an,
Wie schweben die Engel selig in Duft und Helle!
„Geliebtes Mädchen, sei mir Rausch und Lethe. ."
Wenns nur der Vater nicht durch die Brille sieht!
In die dunkle Kirche schwebt, eine windverwehte,
Weiße Blüthe, das lächelnde Liebeslied.
Hans Müller-
Oer Ghevciher 6s Illouzun
Von Paul Girnsly
'm 19. Frimaire des Jahres II kam ein Trupp Ver-
urtheilter aus dem „Tartarus" des Stadthauses von
Lyon heraus. Den Tartarus nannte man den Theil des
Kellers, in dem die vom Revolutionstribunal zur Guillo-
tine verurtheilten Gefangenen untergebracht waren, im
Gegensatz zu den anderen Kellerräumen des Stadthauses,
die unter dem Namen „Elysium" bekannt waren, weil die
Gefangenen, die dorthin gebracht wurden, noch hoffen durf-
ten, wieder in Freiheit gesetzt zu werden. Man hatte da-
mals eine solche Vorliebe für mythologische Namen, daß
man sie auf die furchtbarsten Situationen anwendete.
Der Chevalier de Mouzun gehörte zu den dem Tode
Geweihten. Er war ein kleiner, schmächtiger Fünfziger
und war seiner Zeit über seine Verhaftung außerordentlich
verwundert gewesen, denn er hatte sich für vollkommen
harmlos gehalten, da er sich sein Leben lang einzig und
allein mit seinen zwei Leidenschaften: seiner Flöte und dem
Tricktrack-Spiel abgegeben
hatte. Aber man lebte ~~
und starb ganz besonders
— in einer wunderlichen
Zeit.
DieverhängnißvolleMa-
schine stand aus dem Belle-
tour-Platz, der nur noch
einem Trümmerhaufen
glich, da man seinen Haupt-
schmuck, die große Reiter-
statue, in Stücke geschlagen,
die Brunneneinfassungen
zerstört und die Fassaden
der stolzen Gebäude, die
ihn umgaben, niederge-
rissen halle. Ter Bürger
Jordrix, »direetenr general des demolitions,«
gab sich mit schönem Eifer der Aufgabe hin,
Lyon zu demolieren.
Es war zwölfeinhalb Uhr Mittags. Man
halte die Verurtheilten unter der Guillotine
ausgestellt, auf den Rath des Präsidenten Tor-
fen ille, dessen Einfälle der Empfindsamkeit, deren
er sich rühmte, oft bedenklich widersprachen. So
waren sie schon über und über mit Blut befleckt,
eh' sie sich dem „heilsamen Fensterchen" näherten.
Elf Genossen des Chevalier de Mouzun waren
vor ihnr in den Tod gegangen, und wäre er in
den: Zustand völliger Vernichtung, in dem er
sich befand, überhaupt noch im Stande gewesen,
sich zu wundern, so hätte er bemerken müssen,
daß man ihn vergessen hatte und daß die Henker
anfingen, die Masckiine auseinander zu nehmen.
Die Augen der Menge waren auf die Plattform
gerichtet; um ihn kümmerte sich kein Mensch.
Er hatte alle Arten von Erregungen und Be-
fürchtungen erschöpft und wünschte lediglich das
Ende herbei. Deshalb war er im Begriff, zu
rufen: „Und was wird aus mir?" als er fühlte,
daß man ihm eine wollene Mütze über den
Kopf stülpte und mit raschen Mesierschnitten die
Strick' zertheilte, die seine Hände fesselten. Zu-
gleich murmelte eine Stimme dicht an seinem Ohr:
„Folgen Sie mir ohne Zaudern."
Der Chevalier, der in diesem Augenblick
höchster Todesgefahr keiner Ueberleguug fähig
war, ließ sich widerstandslos fortziehen, ein
Mann hatte ihn am Arm gefaßt und ging lang-
sam mit ihm davon. Der Chevalier war sich seiner
kaum mehr bewußt und ließ alles mit sich
machen.
„Lassen Sie uns jetzt rascher gehen," sagte
die Stimme.
Sie lenkten in ein Gewirr kleiner Gassen
ein; es war ein langer Weg, bis sie schließlich
in eine Schenke eintraten, die augenblicklich völlig
leer war.
„So," sagte der Mann, gutmüthig lachend,
„nun ruhen Sie sich ein bischen aus. Sie kom-
men von weit her."
Der Retter des Chevalier war ein Hnt-
machergeselle, Namens Perrier. Er hatte mit er-
staunlicher Entschlossenheit und bewunderungs-
würdiger Kühnheit gehandelt. Er war ein guter
Kerl, ein „Patriot," der wie alle Anderen über
die Aristokraten gezetert hatte. Aber heute hatte
er plötzlich Mitleid empfunden mit diesem Todes-
kandidaten, dem eine Unachtsamkeit des Schars-
richters unvermuthete Gelegenheit gab, sich dem
über ihn verhängten Todesurtheil zu entziehen.
Wenn er auch im Allgemeinen ganz damit ein-
verstanden war, daß die „Rebellen gegen den
Willen der Nation" den Kopf in die Falle stecken
mußten, so hatte er sich diesem Einen gegenüber
dock) von einem großmüthigen Impuls fort-
reißen lassen. Und dann hatte der Chevalier
mit seiner Magerkeit und seiner jämmerlichen
Erscheinung etwas Komisches an sich, das sich
selbst in der Todesstunde nicht verlor. Das
hatte Perrier veranlaßt, ihn zu retten.
Er ließ den Chevalier, der allmählich, wie
aus einem Traum erwachend, wieder zu sich
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allein Dogmenmensch, der
Jurist nicht allein Para-
graphenmensch, der Kauf
mann nicht allein Geld-
mensch ist, — wir ahnen,
was der Eine vollbringen
wird. Denn so außeror-
dentliches scheint, daß ein
Geist, eine Seele sei, wo-
von alles erhellt, belebt
werde, daß Gott nicht
e i n m a l gewesen und nun
ein petrefakt geworden,
sondern daß er heute
und jetzt lebendig sei,
spreche, handle: — um
so außerordentlicher wird
es scheinen, das solche Gedanken und Empfind-
ungen reale Macht haben sollen, daß sie unser
Leben umformen sollen, daß sie Zukunft haben
sollen. Gerade das wird ihn — nennen wirs:
populär machen, daß er auch dem kleinen
und einfachen Manne, dem bescheidenen und
niederen Leben eine Erklärung gibt, daß er als
Weltarbeiter den erachtet, welcher mit pilfe
Gottes in Regen und Sonne und beim Rau-
schen wogender Felder sich sein tägliches Brod
erarbeitet. Ihn: wird der Mensch gelten, wel-
cher der Natur nicht entfremdet ist; weil die
Natur ein Symbol des Göttlichen ist. Und ein
Späterer, der die Umrisse seiner Bilder fest-
halten möchte, wird die Worte wiederholen
dürfen, welche Maeterlinck über Emerson sagt:
„Vier ist Johann, der seine Bäume beschneidet,
Peter, der sein pems baut, Du, der mir von
der Ernte erzählt, ich, der Dir die pand gibt;
aber wir stehen im Begriff, an das Göttliche
zu rühren, und wir erstaunen über das, was
wir thun . . . Emerson hat einen Lichtstrahl
auf den weg des pandwerkers gesandt, der aus
seiner Werkstatt tritt. Er hat uns gezeigt,
wie alle Kräfte des pimmels und der Erde
daran betheiligt sind, die Schwelle zu halten,
auf der zwei Nachbarn vom fallenden Regen
oder dem sich aufthuenden winde sprechen;
und über zwei Wanderern, die sich anreden,
zeigt er uns das Antlitz eines Gottes, das
dein Antlitz eines Gottes zulächelt."
Aber diese Umrisse werden sehr ungenau
sein, wer dürfte vergessen, daß dieser Denker,
Dichter und Prophet — um in diesen Worten
seine Eigenschaften, so gut es geht, zu bergen
— kein Gleichmacher sein wird; daß er das
große Leben vom kleinen Leben gerade durch
die Wahrheit, durch die Deutlichkeit unter-
scheiden wird, mit welcher es ein Bild der
„Idee", des Geistes der Natur gibt. Nor der
Schwäche wird er warnen, die dem Starken den
Sieg läßt, und der Masse wird er zurufen:
nicht Freiheit, sondern strenge Schulung.
Und zuletzt: man wird ihn verkennen, wir
dürfen das nicht übersehen. Man wird ihn
einen Idealisten, einen Mptimisten, einen Pro-
pheten nennen, dem es leicht wurde, Einfluß
zu gewinnen und welcher bald die kleine Insel
geistesverwandter Verehrer verließ. Denn man
wird den werthvollsten Theil seiner Arbeit,
jenes Beste vergessen, welches nicht so sehr für
die Vielen, als für einen engeren Kreis geistiger
Nachbarn gesprochen ward. Wohl wird er ein
Prophet sein, wohl wird er die Stimme eines
Patriarchen haben. Aber mehr: ihm gebührt,
wie ich sagte, der Ruhm des Dichters. Ihm
werden in der That sich alle Tage heiligen
und sein Bestes wird der Brunnen sein, aus
dein alle seine Gedanken quillen. Die Wärme,
der zuckende puls seiner Sätze: das wird das
Außerordentlichste an ihm bleiben. Im Tief-
sten wird er — wie könnte es anders kommen!
— nicht recht an die Besserung der Menschen
glauben; über Reformen und Vereine wird er
lächeln. Sein Denken und wollen wird aus
der Sehnsucht seines perzens fließen, Geister
zu finden, die gleich ihm der Natur nachspüren;
Otto Eckmann ch
aus der Sehnsucht seines perzens, solche Geister aus
der Masse herauszuheben und ihre Fleischwerdung zu
ermöglichen. Und so wird sein Letztes auch nur den
wenigen offenbar werden, die ihn ganz verstehen, weil
sie die Welt ganz verstehen. Das Leben lieben, weil es
liebenswerth ist? . . . Aber vielleicht: trotzdem.
Er wird einem Menschen gleichen, der, nachdem er
in ein eisiges Bad untertauchte, nun wieder an die warme
Luft emporkommt, an das Licht, an die Sonne.
fllfes Gebetbuch
In meiner Mutter vergilbtem Gebetbuch fand
Ich heut in einem schluchzenden Gebete
Dies zärtliche Blatt von fremder Männerhand:
„Geliebtes Mädchen! Sei mir Rausch und Lethe."
Auf leisen Flügeln schwebt, verträumt und lind,
Der Mutter Antlitz her aus fernen Tagen:
Am Sonntag nahm sie das heilige Buch vom Spind
Und thät es still zu St. Magdalena tragen.
Doch ach! der Liebe glutumhauchtes Blatt
Verbrannte fast die kleinen, rosigen Hände.
Und wenn der greise Pater gepredigt hat
Und gefleht, daß Jesns Schuld und Sünde wende,
Da hat sie zitternd ihr Büchlein aufgethan,
Just an der heimlichen, an der verwegenen Stelle.
Wie sieht die Muttergottes sie gütig an,
Wie schweben die Engel selig in Duft und Helle!
„Geliebtes Mädchen, sei mir Rausch und Lethe. ."
Wenns nur der Vater nicht durch die Brille sieht!
In die dunkle Kirche schwebt, eine windverwehte,
Weiße Blüthe, das lächelnde Liebeslied.
Hans Müller-
Oer Ghevciher 6s Illouzun
Von Paul Girnsly
'm 19. Frimaire des Jahres II kam ein Trupp Ver-
urtheilter aus dem „Tartarus" des Stadthauses von
Lyon heraus. Den Tartarus nannte man den Theil des
Kellers, in dem die vom Revolutionstribunal zur Guillo-
tine verurtheilten Gefangenen untergebracht waren, im
Gegensatz zu den anderen Kellerräumen des Stadthauses,
die unter dem Namen „Elysium" bekannt waren, weil die
Gefangenen, die dorthin gebracht wurden, noch hoffen durf-
ten, wieder in Freiheit gesetzt zu werden. Man hatte da-
mals eine solche Vorliebe für mythologische Namen, daß
man sie auf die furchtbarsten Situationen anwendete.
Der Chevalier de Mouzun gehörte zu den dem Tode
Geweihten. Er war ein kleiner, schmächtiger Fünfziger
und war seiner Zeit über seine Verhaftung außerordentlich
verwundert gewesen, denn er hatte sich für vollkommen
harmlos gehalten, da er sich sein Leben lang einzig und
allein mit seinen zwei Leidenschaften: seiner Flöte und dem
Tricktrack-Spiel abgegeben
hatte. Aber man lebte ~~
und starb ganz besonders
— in einer wunderlichen
Zeit.
DieverhängnißvolleMa-
schine stand aus dem Belle-
tour-Platz, der nur noch
einem Trümmerhaufen
glich, da man seinen Haupt-
schmuck, die große Reiter-
statue, in Stücke geschlagen,
die Brunneneinfassungen
zerstört und die Fassaden
der stolzen Gebäude, die
ihn umgaben, niederge-
rissen halle. Ter Bürger
Jordrix, »direetenr general des demolitions,«
gab sich mit schönem Eifer der Aufgabe hin,
Lyon zu demolieren.
Es war zwölfeinhalb Uhr Mittags. Man
halte die Verurtheilten unter der Guillotine
ausgestellt, auf den Rath des Präsidenten Tor-
fen ille, dessen Einfälle der Empfindsamkeit, deren
er sich rühmte, oft bedenklich widersprachen. So
waren sie schon über und über mit Blut befleckt,
eh' sie sich dem „heilsamen Fensterchen" näherten.
Elf Genossen des Chevalier de Mouzun waren
vor ihnr in den Tod gegangen, und wäre er in
den: Zustand völliger Vernichtung, in dem er
sich befand, überhaupt noch im Stande gewesen,
sich zu wundern, so hätte er bemerken müssen,
daß man ihn vergessen hatte und daß die Henker
anfingen, die Masckiine auseinander zu nehmen.
Die Augen der Menge waren auf die Plattform
gerichtet; um ihn kümmerte sich kein Mensch.
Er hatte alle Arten von Erregungen und Be-
fürchtungen erschöpft und wünschte lediglich das
Ende herbei. Deshalb war er im Begriff, zu
rufen: „Und was wird aus mir?" als er fühlte,
daß man ihm eine wollene Mütze über den
Kopf stülpte und mit raschen Mesierschnitten die
Strick' zertheilte, die seine Hände fesselten. Zu-
gleich murmelte eine Stimme dicht an seinem Ohr:
„Folgen Sie mir ohne Zaudern."
Der Chevalier, der in diesem Augenblick
höchster Todesgefahr keiner Ueberleguug fähig
war, ließ sich widerstandslos fortziehen, ein
Mann hatte ihn am Arm gefaßt und ging lang-
sam mit ihm davon. Der Chevalier war sich seiner
kaum mehr bewußt und ließ alles mit sich
machen.
„Lassen Sie uns jetzt rascher gehen," sagte
die Stimme.
Sie lenkten in ein Gewirr kleiner Gassen
ein; es war ein langer Weg, bis sie schließlich
in eine Schenke eintraten, die augenblicklich völlig
leer war.
„So," sagte der Mann, gutmüthig lachend,
„nun ruhen Sie sich ein bischen aus. Sie kom-
men von weit her."
Der Retter des Chevalier war ein Hnt-
machergeselle, Namens Perrier. Er hatte mit er-
staunlicher Entschlossenheit und bewunderungs-
würdiger Kühnheit gehandelt. Er war ein guter
Kerl, ein „Patriot," der wie alle Anderen über
die Aristokraten gezetert hatte. Aber heute hatte
er plötzlich Mitleid empfunden mit diesem Todes-
kandidaten, dem eine Unachtsamkeit des Schars-
richters unvermuthete Gelegenheit gab, sich dem
über ihn verhängten Todesurtheil zu entziehen.
Wenn er auch im Allgemeinen ganz damit ein-
verstanden war, daß die „Rebellen gegen den
Willen der Nation" den Kopf in die Falle stecken
mußten, so hatte er sich diesem Einen gegenüber
dock) von einem großmüthigen Impuls fort-
reißen lassen. Und dann hatte der Chevalier
mit seiner Magerkeit und seiner jämmerlichen
Erscheinung etwas Komisches an sich, das sich
selbst in der Todesstunde nicht verlor. Das
hatte Perrier veranlaßt, ihn zu retten.
Er ließ den Chevalier, der allmählich, wie
aus einem Traum erwachend, wieder zu sich
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