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Nr. 2

JUGEND

1904

kam, eilt großes Glas Wein austrinken, und fuhr
dann fort:

„Es hat augenblicklich keine Gefahr. .. . Offen
gesagt, weiß ich nicht recht, webhalb ich Ihretwegen
ein solches Waguiß unternommen habe. Ich kenne
Sie nicht, und Sie haben sicherlich Ansichten, die
von den meinen sehr verschieden sind. Aber lieber
Gott! Ich habe allmählich genug von att? dem Blut-
vergießen, und da es nun einmal möglich war, Sie
zu befreien."

Der Chevalier sah Pcrrier mit weit ausgerissenen
Augen an.

„Dann," sagte er nach einigen Minuten, — denn
er brauchte wirklich Zeit, um all' das Sonderbare
und Unvermuthete, das ihm widerfuhr, zu begreifen,
„— dann heißt es also weiterleben?"

„Natürlich. Sie brauchen nur Mittel und Wege
zu finden, um zu fliehen."

„Weiterleben?" wiederholte der Chevalier. „Nun
gut, mein Freund, ich danke dafür!"

„Was?" fragte Perrier, heftig zusammenfahrend.

„Nein, ich habe genug vom Leben, wie es nun
einmal ist. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre freund-
liche Absicht. Aber ich ziehe es vor, mich guilloti-
niren zu lassen."

Der Chevalier erzählte mit kurzen Worten seine
Lebensgeschichte. Man hatte ihn am Tage der An-
kunft Fouches und Collot d'Herbois in Lyon ver-
haftet — ihn, der sich niemals mit Politik befaßt
hatte, — nur, weil er ganz milde seine Verwunder-
ung darüber ausgesprochen hatte, daß man Gebäude
zerstörte, die sich nichts hatten zu Schulden kommen
lassen, und gegen Steine wüthete, die doch nicht
Partei ergreifen konnten. Er hatte mit zu der
Horde von Opfern gehört, die man am Tage der
»Fete expiatoire« zu Chaliers. G.dächtniß nach
den Brotteaux geschleppt hatte und auf die mau,
da die Guillotine nicht rasch genug arbeitete, mit
Kanonen schoß. Er war wie durch ein Wunder dem
Blutbad entkommen und hatte nur eine leichte
Schulterwunde davongetragen. Man hatte ihn aber-
mals verhaftet, und im Gefängniß »des Recluses«
eingesperrt, einem garstigen Kerker, in dem er fast
Hungers gestorben wäre. Darauf war abermalige
Gefangenschaft im Keller des Stadthauses mit be-
ständiger Todesangst gefolgt; und als der Wärter
ihn endlich ausgerufen hatte, den letzten Gang an-
zutreteu, hatte er ein Gefühl der Erlösung empfunden.

Und was man ihm jetzt bot, war nichts weiter,
als sich wieder verfolgen zu lassen, wieder verhaftet
zu werden (denn wohin sollte er sich wenden, ohne
einen sicheren Zufluchtsort und ohne Geld?-, und
wieder alle Todesangst, alles Elend des Kerkers
über sich ergehen zu lassen, dieser Hölle, deren Thüren
zur Guillotine führten! .... Nein, er hatte genug
von diesen Qualen!

„Und deßhalb," sagte er, indem er sich erhob (er
hatte seine alten, leichtlebigen Manieren wiederge-
wonnen), — „deshalb nochmals besten Dank, mein
Freund, und nun laß mich dorthin zurückkehren, wo
ich herkomme."

„Na, na, nur keine Dummheiten!" sagte Perrier
vorwurfsvoll, denn er war einerseits entrüstet, daß
seine Mühe zu nichts führen sollte, und fühlte an-
dererseits ein sehr menschliches Interesse für dieses
seltsame Individuum, das ihm seine vorläufige Rett-
ung verdankte.

„Wohin sollte ich wohl gehen, um nicht sofort
wieder verhaftet zu werden?"

Perrier sah verlegen aus und kratzte sich hinterm
Ohr. ^

„Nun gut," sagte er, ein wenig eingeschüchtert
durch die Entschlossenheit und Impertinenz des Che-
valiers, „auf ein oder zwei Tage kann ich Ihnen
Obdach geben. . . ., lange genug, um Ihnen Zeit
zu geben, sich umzusehen und an Ihre Freunde zu
wenden

„Es ist eine ernste Sache! Du wirst nur Unge-
legenheiten davon haben, das sage ich Dir."

„Um so schlimmer! Mag kommen, was da will!
Ich kann Sie doch nicht auf der Straße lassen ....
Ich hatte daran gar nicht gedacht. . .

Perrier bestellte ein gutes Frühstück, um seinen
der Guillotine entflohenen Schützling aufzumuntern.

Ueberdies galt es, die Zeit hinzubringen, denn sie
mußten den Eiubrmch der Nacht abwarten, um un-
bemerkt von den Nachbarn seine Wohnung zu er-
reichen.

Ter Chevalier that der Mahlzeit alle Ehre an.
Er hatte so lange gefastet! Er war liebenswürdig,
geistreich, amüsant; der Wein löste ihm die Zunge,
und der brave Perrier, der ganz stolz auf seine gute

That war, bewunderte ihn ein wenig.

*

tH

Gegen fünf Uhr schlichen die beiden sich behutsam
nach der Straße hin, in der Perrier wohnte. Der
Hutmacher hielt vorsichtig Umschau und benutzte
einen Moment, in dem Niemand im Treppenhaus
war, um seinen Gast in seine Bodenkammer hinauf-
zubringen. Er war eitel Großmuth: er bot ihm
sein eigenes Bett an und begnügte sich mit einer
elenden, alten Bettstelle. Aber der Chevalier be-
trachtete den Raum mit mißmuthiger Miene.

„Es ist doch immerhin besser, als das Gefäng-
niß," sagte Perrier.

„Ja, aber lange nicht so gut, wie das Schloß von
Versailles," erwiderte der Chevalier.

Am nächsten Tage mußte Perrier zur Arbeit.
Als er heimkehrte, fand er bei sich das unterste zu
oberst gekehrt. Ter Chevalier war in seiner Quasi-
Freiheit sofort wieder zum Sonderling geworden.
Er hatte alle Möbel umgestellt und die revolutio-
nären Bilder, die seine Entrüstung erregten, von
den Wänden entfernt; er richtete sich so gemüthlich
wie möglich ein. Und Perrier empfand eine leichte
Bestürzung....

Aber das war nicht seine einzige Sorge; der Zu-
fall hatte ihm übel mitgespielt. Im Lauf des Tages
war im ersten Stock jemand eiugezogen, und der
neue Hausgenosse war kein anderer, als Dorfeuille
selbst. Dorfeuille, der Präsident des Revolutions-
tribunals! Es war vorauszusehen, daß es von jetzt
ab von aus- und eingehenden Patrioten im Hause
winuneln würde. Was sollte daraus werden, wenn
es herauskam, daß man nicht nur einen Konskri-
birten, sondern einen der Guillotine Entflohenen im
Hause hatte!

„Das ist allerdings eine verwünschte Nachbar-
schaft," sagte der Chevalier. „Ich fing gerade an,
mich hier einzuleben. Aber sie werden mich ja doch
nicht in Ruhe lassen, — da ist es schon besser, ich
gehe gleich hin und liefere mich aus."

„Ich danke schön!" sagte Perrier. „Was würde
dann wohl aus mir? Es würde sich ganz gefälligst
um meinen Kopf handeln, denn ich habe Sie ge-
rettet und beherbergt. Sie können jetzt nicht mehr
hinaus, ohne daß man erfährt, wo Sie Herkommen,
und dann . . . ."

„Teufel noch 'mal!"

„Halten Sie sich wenigstens versteckt, zeigen Sie
sich nicht! Da niemand gesehen hat, daß Sie herein-
gekommen sind . .. ."

„Wiein guter Junge," sagte der Chevalier, „ich
sagte es Dir gleich: Du hast Dir da eine unange-
nehme Sache eingebrockt."

Eine Woche verging. Unten im Hause war wirk-
lich eine Art revolutionären Hauptquartiers ent-
standen. Grimmige Gesichter tauchten auf, der re-
prüsentirende Abgesandte Collot d'Herbois kam und
ging, die öffentlichen Ankläger stellten unten ihre
Listen auf und versorgten Guillotine und Gefängnisse.

„Mein Freund," sagte der Chevalier eines Tages
zu Perrier, „ich langweile mich und fange an mich
zu fragen, ob ein solches Leben sich der Mühe ver-

lohnt .... Ich würde jetzt sehr viel ruhiger sein,
wenn Du mich meinem Schicksal überlassen hättest'.
Ich möchte wenigstens eine Flöte haben, und dann
und wann eine Partie Tricktrack spielen."

„Eine Flöte? .... Um Aufmerksamkeit zu er-
regen!

„Der Konvent hat dieses Instrument noch nicht
als des Aristokratismus verdächtig verboten. Was
das Tricktrack betrifft, so werde ich es Dich lehren;
es ist ein außerordentlich philosophisches Spiel."

Man mußte sich allen Launen des Chevaliers
fügen, denn er hielt Perrier mit einem unwiderleg-
lichen Argument im Bann.

„Vergiß, bitte, nicht, daß ich Dich um nichts ge-
beten habe; Du hast mich aus eigenem Antriebe ge-
rettet, als ich schon mit dem Leben abgeschlossen hatte.
Unter diesen Umständen bist Du es mir schuldig, für
meine Sicherheit und eine nicht nur mögliche, son-
dern angenehme Existenz für mich zu sorgen. Wenn
nicht, so ziehe ich vor, lieber gleich ein Ende zu
machen . . . ."

Diese Worte versetzten den armen Perrier in die
größte Angst; er sah sich in Gedanken schon, wie
viele andere, die weniger unvorsichtig gewesen waren,
als er, mit abgeschnittenem Kopf. Er befand sich in
einem fürchterlichen Dilemma: entweder er musste
ben wachsenden Ansprüchen des Chevalier wider-
standslos genügen, oder sich resignireu, selbst zum
Opfer zu werden, wenn er in den Zeitläusen, die
man gerade jetzt durchlebte, seinen Gast entwischen
ließ, — diesen Gast, der in seiner völligen Gleich-
gültigkeit gegen den Tod furchtbar war. So ge-
horchte er ihm blindlings, erfüllte zitternd jeden
seiner grillenhaften Wünsche und lebte in beständiger
Furcht vor einem Augenblick der Ungeduld dieses
sonderbaren Männchens, der die Lage so sehr zu
seinem Vortheil auszunützen verstand. Sein Leben
war mit dem seinen unlösbar verknüpft, und jedes-
mal, wenn dieser erstaunliche alte Herr ihm drohte,
sich auszuliefern, lief es ihm eiskalt über den Rücken.

„Ich sagte es Dir ja gleich," wiederholte der Che-
valier mit ironischer Sanftmuth.

Perrier war auch mit seinen Mitteln am Ende.
Sein Pensionär hatte seinen alten, prächtigen Appe-
tit wiedergewonnen und hatte allerlei gastronomische
Gelüste; er war keineswegs mit den ersten besten
Gerichten zufrieden. Er verstand sich selbst ein wenig
auf die Kochkunst, die ihm die Zeit vertrieb, und
verlangte nach allerlei raren Dingen. Dann for-
derte er Bücher, eine wattirte Morgenjacke, eine be-
sondere Sorte Schnupstaback, die schwer zu haben
war. Ein andermal fiel es ihm ein, daß die Ta-
pete ihm mißfalle und durch eine neue ersetzt werden
müsse. Und wo sollte Perrier den Muth hernehmen,
sich nicht allen seinen Launen geduldig zu fügen,
wenn er sich beim geringsten Widerspruch bereit er-
klärte, sofort hinzugehen und sich den Kopf abschnei-
den zu lassen und so seinen unglücklichen Gefährten,
der sich ihm nicht zu entziehen vermochte, mit sich

iu's Verderben zu reißen!- Eines Tages flüsterte

der Chevalier Perrier ein Wort in's Ohr, worüber
dieser die Hände überm Kopf zusammenschlug. Die
Einsamkeit wurde ihm lästig und er war der Ent-
haltsamkeit müde: eine hübsche kleine Schelmin würde
ein wenig Sonnenschein in die Dachkammer bringen.
Monsieur de Mouzun that sich keinerlei Zwang mehr
an und herrschte als Tyrann; war er doch sicher,
durch die Furcht eine unbedingte Herrschaft über
seinen unglücklichen Kameraden auszuüben, der an
ihn gefesselt und schwach genug war, sich an seinen
Hals zu klammern.

Der Chevalier ließ ihn royalistische Lieder her-
sagen, zwang ihn, seine Ueberzeugungen abzuleug-.
nen, fand ein perverses Vergnügen daran, ihn außer
sich zu bringen und übte beständige Erpressungen
auf ihn aus durch die Überlegenheit, die es ihm
verlieh, daß eine furchtbare Lehrzeit ihn gegen den
Tod unempfindlich und sogar fähig gemacht hatte,
seiner zu spotten.

Perrier war in Verzweiflung. Wochen und Mo-
nate vergingen. Er hatte all' seine Mittel erschöpft,
um die Launen des Chevalier zu befriedigen, er war
sein Sklave, war wie vernichtet durch die Furch.
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Adolf Wagner: Vignette
 
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