CIRCUS
Luden Simon (Paris)
Offener Brief an den Vagabunden
Peter Serdinandfen
Lersöen (Dänemark)
Mein lieber Jugendfreund und Spielkamerad!
Du hast sicher schon in den Zeitungen gelesen,
daß Du jetzt Prügel bekommen sollst?) Aber Du
kannst nicht wissen, wie starken Eindruck das auf
mich gemacht hat. Vielleicht hast Du mich auch ganz
vergessen. Aber ich erinnere mich deutlich an Dich
von damals her, da wir zusammen als Kinder
spielten, denn Du warst in jeder Hinsicht ein besserer
Junge als ich, und ich beneidete Dich unaufhörlich.
Ich wohnte im Vorderhause, Du unter dem Dache
im Hinterhause. Ich hatte meine Eltern und Ge-
schwister, meine guten Kleider, meine gute Schule
und mein gutes Essen. Deine Mutter hatte keinen
Vater sür Dich und mitunter auch kein Essen. Sie
sah so schlimm aus. Ich glaube, sie trank. Es war
ja auch nicht amüsant, immer dazusitzen und zu
nähen und zu hungern.
Weißt Du noch damals, als der Cirkus in der
Stadt war und wir verabredeten, daß jeder seine
Krone stehlen sollte, um hineinzukommen.
Ich bestahl meinen Vater und Du den Krämer,
bei dem Du Laufjunge warst. Mein Verbrechen war
das schlimmere, denn mein Vater war gut zu mir,
und ich hatte viele Vergnügungen und hätte die
Krone wohl bekommen, wenn ich darum gebeten
hätte. Während der Krämer Dich prügelte und Du
nie im Cirkus oder bei sonst einem Vergnügen ge-
wesen warst.
D In Dänemark ist bekanntlich vor Kurzem die Prügel-
strafe wieder eingeführt worden.
Man entdeckte uns. Ich bekam Schelte und liebe-
volle Ermahnungen und Taschengeld, damit ich nicht
ein andermal wieder in Versuchung kommen sollte.
Du wurdest vom Krämer halb zu Schanden ge-
schlagen und aus dem Dienst gejagt; dann schlug
Deine Mutter Dich, bis sie nicht mehr konnte, und
drohte Dir mit der Polizei. Und mein Vater ver-
bot mir, mit Dir zu verkehren.
Wir sahen uns natürlich trotzdem, denn ich liebte
Dich. Du warst so klug und so flink. Du warst
solch ein guter Kamerad und hattest eine so leichte
Hand. Du schlugst nie die, die kleiner waren als
Du, und wenn ich Dir einen Apfel gab, theiltest
Du immer mit Deiner kleinen Schwester, die einen
anderen Vater als Du hatte und doch keinen Vater.
Dann passierte etwas mit Dir in der Schule,
und Du wurdest streng bestraft und von dem Tage
an von allen Lehrern für unverbesserlich gehalten.
Es passierte auch etwas mit mir in meiner Schule,
das war so schlimm, daß ich es nicht gerne erzählen
mag; aber Vater brachte es in Ordnung, und die
Lehrer halfen mir darüber weg, sodaß mir nichts
Böses zusließ. Da, weiß ich noch, dachte ich daran,
warum Du keinen Vater hättest, der Dir helfen konnte.
So verging die Zeit, und wir sahen uns nicht
so ost. Aber hin und wieder hörte ich etwas Neues
über Dich, und dann trafen wir uns als Soldaten.
Damals warst Du schon ein wenig versumpft.
Du wußtest auch keinen Menschen, zu dem Du gehen
konntest, während ich im Theater oder in Gesellschaft
war, jedes Mal, wenn ich Urlaub bekommen konnte.
Na — ich machte meine Examina und holte mir
auch eine Braut und ein Amt und verheiratete mich.
Du hattest vor mir eine Braut; aber konntest nicht
heirathen. Dann bekamt Ihr zwei Kinder, und in
dem Jahr, als der strenge Winter war, stahlst Du
und kamst ins Gefängniß. Als Du wieder freikamst,
heirathetet ihr; aber dann kam der große Streik, lvo
Du's mit den Kameraden halten mußtest. Die Fm
verließ Dich, die Kinder kamen ins Armenhaus, und
eines Abends, als Du betrunken warst, schlugst Du
einen Schutzmann zu Schanden und muhtest die
Reise nach Horsens *) antreten.
Seitdem habe ich nichts mehr von Dir gehört,
bis jetzt kürzlich, als ich in den Blättern las, daß
Du einen unbescholtenen Mann, den Du nicht kann-
test, überfallen und ihm den Schädel zertrümmert
hättest. Bei mir ist es indessen immer bergan ge-
gangen; ich habe ein schönes Heim und liebe Kinder
und Gesundheit und mein Auskommen.
Und jetzt sollst Du also Prügel haben.
Der Gedanke ist wahrhaftig wunderlich, alter
Freund, denn Du warst so ein flinker Kerl. JÄ di'i
überzeugt, wärst Du im Vorderhause geboren, H’
wärest Du Bischof von Seeland oder JustizminM
geworden, bei Deinem Kopf. Und ich bin meiner
Sache nicht so ganz sicher, wie's mir gegangen wäre,
wenn ich an Deiner Stelle gewesen wäre...
Aber das ist natürlich nichts anders als ideal-
istisches Gewäsch, was mir heut einfällt, weil ich B
zu Mittag gegessen habe und hier mit meiner Ha-
vannazigarre sitze. Und dann, weil ich bei Deine»
ersten Verbrechen Theilnehmer war-, — wen>
ich ordentlich nachdenke, glaube ich wirklich W'
daß ich es war, der auf den Gedanken kam, 1
Krone zu mausen.
Aber da ist nun nichts zu machen. -
Unsere Lehrer haben genug damit zu thun, u
die höchsten Punkte in den Alpen und das Too
jahr Christians IV. zu lehren — die können »e
Zeit auf einen Spitzbuben von einem Jungen
*) Jütländische Stadt mit großem Zuchthaus.
"Junge,
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Luden Simon (Paris)
Offener Brief an den Vagabunden
Peter Serdinandfen
Lersöen (Dänemark)
Mein lieber Jugendfreund und Spielkamerad!
Du hast sicher schon in den Zeitungen gelesen,
daß Du jetzt Prügel bekommen sollst?) Aber Du
kannst nicht wissen, wie starken Eindruck das auf
mich gemacht hat. Vielleicht hast Du mich auch ganz
vergessen. Aber ich erinnere mich deutlich an Dich
von damals her, da wir zusammen als Kinder
spielten, denn Du warst in jeder Hinsicht ein besserer
Junge als ich, und ich beneidete Dich unaufhörlich.
Ich wohnte im Vorderhause, Du unter dem Dache
im Hinterhause. Ich hatte meine Eltern und Ge-
schwister, meine guten Kleider, meine gute Schule
und mein gutes Essen. Deine Mutter hatte keinen
Vater sür Dich und mitunter auch kein Essen. Sie
sah so schlimm aus. Ich glaube, sie trank. Es war
ja auch nicht amüsant, immer dazusitzen und zu
nähen und zu hungern.
Weißt Du noch damals, als der Cirkus in der
Stadt war und wir verabredeten, daß jeder seine
Krone stehlen sollte, um hineinzukommen.
Ich bestahl meinen Vater und Du den Krämer,
bei dem Du Laufjunge warst. Mein Verbrechen war
das schlimmere, denn mein Vater war gut zu mir,
und ich hatte viele Vergnügungen und hätte die
Krone wohl bekommen, wenn ich darum gebeten
hätte. Während der Krämer Dich prügelte und Du
nie im Cirkus oder bei sonst einem Vergnügen ge-
wesen warst.
D In Dänemark ist bekanntlich vor Kurzem die Prügel-
strafe wieder eingeführt worden.
Man entdeckte uns. Ich bekam Schelte und liebe-
volle Ermahnungen und Taschengeld, damit ich nicht
ein andermal wieder in Versuchung kommen sollte.
Du wurdest vom Krämer halb zu Schanden ge-
schlagen und aus dem Dienst gejagt; dann schlug
Deine Mutter Dich, bis sie nicht mehr konnte, und
drohte Dir mit der Polizei. Und mein Vater ver-
bot mir, mit Dir zu verkehren.
Wir sahen uns natürlich trotzdem, denn ich liebte
Dich. Du warst so klug und so flink. Du warst
solch ein guter Kamerad und hattest eine so leichte
Hand. Du schlugst nie die, die kleiner waren als
Du, und wenn ich Dir einen Apfel gab, theiltest
Du immer mit Deiner kleinen Schwester, die einen
anderen Vater als Du hatte und doch keinen Vater.
Dann passierte etwas mit Dir in der Schule,
und Du wurdest streng bestraft und von dem Tage
an von allen Lehrern für unverbesserlich gehalten.
Es passierte auch etwas mit mir in meiner Schule,
das war so schlimm, daß ich es nicht gerne erzählen
mag; aber Vater brachte es in Ordnung, und die
Lehrer halfen mir darüber weg, sodaß mir nichts
Böses zusließ. Da, weiß ich noch, dachte ich daran,
warum Du keinen Vater hättest, der Dir helfen konnte.
So verging die Zeit, und wir sahen uns nicht
so ost. Aber hin und wieder hörte ich etwas Neues
über Dich, und dann trafen wir uns als Soldaten.
Damals warst Du schon ein wenig versumpft.
Du wußtest auch keinen Menschen, zu dem Du gehen
konntest, während ich im Theater oder in Gesellschaft
war, jedes Mal, wenn ich Urlaub bekommen konnte.
Na — ich machte meine Examina und holte mir
auch eine Braut und ein Amt und verheiratete mich.
Du hattest vor mir eine Braut; aber konntest nicht
heirathen. Dann bekamt Ihr zwei Kinder, und in
dem Jahr, als der strenge Winter war, stahlst Du
und kamst ins Gefängniß. Als Du wieder freikamst,
heirathetet ihr; aber dann kam der große Streik, lvo
Du's mit den Kameraden halten mußtest. Die Fm
verließ Dich, die Kinder kamen ins Armenhaus, und
eines Abends, als Du betrunken warst, schlugst Du
einen Schutzmann zu Schanden und muhtest die
Reise nach Horsens *) antreten.
Seitdem habe ich nichts mehr von Dir gehört,
bis jetzt kürzlich, als ich in den Blättern las, daß
Du einen unbescholtenen Mann, den Du nicht kann-
test, überfallen und ihm den Schädel zertrümmert
hättest. Bei mir ist es indessen immer bergan ge-
gangen; ich habe ein schönes Heim und liebe Kinder
und Gesundheit und mein Auskommen.
Und jetzt sollst Du also Prügel haben.
Der Gedanke ist wahrhaftig wunderlich, alter
Freund, denn Du warst so ein flinker Kerl. JÄ di'i
überzeugt, wärst Du im Vorderhause geboren, H’
wärest Du Bischof von Seeland oder JustizminM
geworden, bei Deinem Kopf. Und ich bin meiner
Sache nicht so ganz sicher, wie's mir gegangen wäre,
wenn ich an Deiner Stelle gewesen wäre...
Aber das ist natürlich nichts anders als ideal-
istisches Gewäsch, was mir heut einfällt, weil ich B
zu Mittag gegessen habe und hier mit meiner Ha-
vannazigarre sitze. Und dann, weil ich bei Deine»
ersten Verbrechen Theilnehmer war-, — wen>
ich ordentlich nachdenke, glaube ich wirklich W'
daß ich es war, der auf den Gedanken kam, 1
Krone zu mausen.
Aber da ist nun nichts zu machen. -
Unsere Lehrer haben genug damit zu thun, u
die höchsten Punkte in den Alpen und das Too
jahr Christians IV. zu lehren — die können »e
Zeit auf einen Spitzbuben von einem Jungen
*) Jütländische Stadt mit großem Zuchthaus.
"Junge,
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