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Nr. 20

1904

Zenzkied

Eich Hat die braune Erde
Lu ihrem Kind gewollt,

Ihr Blut, ihr schweres, Heikes
Mir im Geäder rollt.

Als sögen tausend Wurdet
Sich satt am süßen Saft,

So wuchs und schwoll im Marke
Mir wonnesame Kraft.

Du meine Mutter Erde,

Dun steh ich wie ein Nauru,

And breite weit die Arme
Dach meinem Wküthentraum!

Lmanuela Mattlcköwenkreur

Fanatismus.

Skizze aus dem russischen Leben
von 9. Jlßoiko

JJJBgarunt habe ich dem Arzt gesagt,
ich sei nicht wahnsinnig? Ist
denn das nicht die Rettung, die einzig
mögliche Erlösung? Er sah mich so
eigenthümlich an, als wolle er sagen:

Das behaupten sie doch alle, diese
Kranken — während sein Mund beruhigend sprach:
Aber selbstverständlich, gnädige Frau, daran denkt
ja überhaupt Niemand. Etwas nervös, ausgeregt,
voilä tont! Nein, nein, wahnsinnig will, muß ich
sein. Ich habe oft von Leuten gehört, die gesund
in eine Irrenanstalt gekommen, dort wirklich wahn-
sinnig geworden sind. Nun, so soll von heute an
mein Morgen- und Abendgebet lauten: Man hält
mick für wahnsinnig, sei einmal barmherzig, laß
mich es wirtlich werden, allmächtige Vorsehung!

Also ich bleibe in der Anstalt, — vorläufig, wie
man mir zum Tröste sagt. O nein, für immer muß
ich hier bleiben, wo num mir verbietet, meine An-
gehörigen zu sehen — wo man vor allen Dingen
mein Kind von mir fernhält. Hier will ich bleiben;
wenn es sein muß, werde ich meine Umgebung über
meinen wahren Zustand zu täuschen wissen, damit
man mich fort und fort für wahnsinnig hält.

Wenn ich versuchte, es zusammen zu bringen,
alles der Reihe nach, was mich dazu gebracht hat,
wahnsinnig zu sein, oder vielmehr, es so gerne
scheinen zu wollen! Ich muß aber vorsichtig sein,
denn wenn man dahinter käme, daß ich logisch zu
denken im Stande bin, vielleicht empfände man
Zweifel an meinem Wahnsinn, brächte mich zurück
zu meinem Manne, zu meinem Kinde, das könnte
ich nicht ertragen!

Ich muß mit meiner Jugend beginnen. Ich bin
die Tochter eines gutsituirten Beamten; meine Eltern
stammen aus den Ostseeprovinzen, in Folge dessen
sind wir, obgleich russische Unterthanen, Lutheraner;
Deutsch-Russen nennt man das. Eine merkwürdige
Sorte Menschen — für die Deutschen — Russen,
für die Russen — Deutsche, von keinem wirklich an-
erkannt, ohne wahres Vaterland!

Ich verlebte eine glückliche Kindheit und Jugend.
In meiner Familie lebte man gut, amüsirte sich nach
Kräften und verfolgte das in Rußland beliebte
Prinzip, genau das auszugeben, was man ein-
nimmt; an die Zukunft denkt niemand. Mein Bruder
wurde Kaufmann und würde später mit Leichtigkeit
für sich sorgen können, wir Schwestern würden hei-
rathen. Und nach diesem Programm verlief auch
Alles.

Meine Schwestern heiratheten jung, nur bei mir
schien es hapern zu wollen. Ich war von jeher eine
Träumerin gewesen und verstand es nicht, Männer
zu fesseln. Am liebsten saß ich am Kamin oder ging
allein spazieren. Dann konnte ich mich in meine


G. Vogt

Träume einspinnen, in meiner Idealwelt leben, dann
war ich glücklich und wunschlos. Als ich im 23. Jahre
stand, hielt ein junger Kaufmann um meine Hand
an. Er war aus angesehener Familie, gut situirt,
alle Welt fand die Partie vorzüglich, und da er mir
sympathisch war und ich wußte, daß ich, wie eben
jedes Mädchen aus unseren Kreisen, heirathen mußte,
so wurde ich seine Frau. Wir wurden, da mein
Mann rechtgläubig war, in der russischen Kirche
getraut, unsere Kinder mußten, nach dem Landes-
gesetz, ebenfalls rechtgläubig werden. Meine ältere
Schwester, mehrere meiner Freundinnen hatten unter
denselben Verhältnissen geheirathet, das war etwas
ganz Alltägliches und ich beachtete diesen Umstand
kaum.

Ich war ohne besondere Begeisterung in die Ehe
getreten und empfand auch weder Enttäuschung, noch
Entzücken — ich war eine brave, liebenswürdige
Frau — im klebrigen träumte ich einfach weiter.
Zwei Jahre war ich verheirathet, da durchrüttelte
mich zum ersten Mal eine mächtige Empfindung.
Ich fühlte mich Mutter. Jetzt erwachte ich, mein
Leben war kein Traum mehr, sondern Wahrheit.
Jetzt fühlte ich mich voller Macht, jetzt erst empfand
ich, welch leidenschaftlichen Empfindens ich fähig
war — der Liebe zu meinem Kinde! Ich fing gleich-
sam jetzt erst an, zu leben. Was waren mir alle
Leiden, die zur Erfüllung meiner Sehnsucht führten,
ich fühlte sie kaum. Meine Mutter, mein Mann
überboten sich in zärtlichster Pflege, denn blutarm
und schwächlich, wie ich immer gewesen, bedurfte ich
der größten Schonung. Mir aber waren selbst
meine Leiden Seligkeit. Ich entsinne mich noch
deutlich eines Tages, als mein Mann mir beim
Frühstück sagte: Möchte es doch ein Knabe sein! Als
mein Mann wieder in sein Geschäft gegangen war,
mußte ich lachen. Wie gleichgiltig war es nur doch,
ob Knabe oder Mädchen, mein Kind würde es sein!
Mein Kind, das Wort sagte eben Alles. Und end-
lich kam die Stunde, die ich nicht gefürchtet, nein,
ersehnt hatte mit all der Sehnsucht, die im Herzen
einer jeden Frau ruht und die bei mir bis dahin
geschlummert hatte. Da kam aber auch die erste
Enttäuschung — man nahm eine Amme — umsonst
meine Bitten, — ich sei zu schwach, es würde mir
schaden, auch dem Kinde nicht bekommen — ich mußte
mich fügen, aber mit schwerem Herzen. Ich würde
also nicht die erste sein, nach der mein Kind die
Aermchen ausstrecken würde, nicht mir würde sein
erstes Lächeln gellen!

Aber ich versuchte mich zu trösten; ein Jahr nur,
dann mußte mein Mädchen mir gehören, mir allein.

Sehnsüchtig erwartete ich den Augen-
blick, wo ich die Amme entlassen
könnte. Und der kam auch endlich
Das Kind war zwar schwach und
zart, aber es gedieh doch. Ich war
glücklich. Als es das dritte Jahr
erreichte, fing ich an, meine Träume
aufzuschreiben, bunte, zarte Märchen
Das war mir früher nie eingefallen
jetzt aber würde mein Mädchen bald
Geschichten verlangen, sollte ich ihm
dann die alten erzählen? Aschen-
brödel, Schneewittchen — -die Ver-
herrlichung der körperlichen Schön-
heit, der Kampf aller niedrigen, ge-
meinen Instinkte, Eifersucht, Miß-
gunst. Oder Dornröschen? Die Er-
lösung des Weibes durch den Kuß des
Mannes. Nein, das alles war un-
schön, ungesund. Ich wollte meinem
Kinde Märchen schreiben, durch welche
es die Natur kennen, lieben und be-
wundern lernen sollte, durch welche
es vor allen Dingen Menschlichkeit,
Mitleid kennen lernen sollte — so
. saß ich, so oft ich nur konnte, an der
Wiege meines Kindes und schrieb —
das war die glücklichste Zeit meines
Lebens — traumhaft glücklich. Ich
sollte sie schwer büßen.

Der Arzt erkundigte sich, ob ich mich wohler,
ruhiger fühle. Seine Augen scheinen mein Inneres
zu erforschen. Ob er mich durchschaut? Ich fürchte
mich vor ihm.

Als das Kind im vierten Jahr war, fing es an
zu kränkeln. Nichts, etwas Blutarmuth, meinte der
Arzt. Aber ich sah tiefer. Ich pflegte es, wie eben
eine Mutter pflegt, umsonst, es wurde schwächerund
jetzt erkannten auch die Aerzte ein Gehirnleiden. Ich
pflegte es verzweiflungsvoll, — es wurde schwächer
und schwächer. Eines Tages kam eine alte Ver-
wandte zu mir. Ich solle doch den Priester Johann
von Kronstadt kommen lassen, er bewirke Wunder.
Und sie erzählte — wunderbare Heilungen, unglaub-
liche Kuren. Ich wußte das alles längst. Kannte
den Glorienschein, den das Volk um den Namen —
„Johann von Kronstadt" wob. Die Weiber wurden
toll, wenn sie seinen Namen hörten, Tag und Nacht
lagen sie vor seiner Thüre, um sich von ihm segnen
zu lassen: ein Gebet von ihm wog alle Wissenschaft
der Aerzte, ein von ihm geweihtes Kreuz erkaufte
die Seligkeit im Himmel — ich hatte das schon oft
gehört, oft seinen Triumphzug durch Petersburg ge-
sehen. Bis zu den Stufen des Thrones war sein
Wundernamen gedrungen, der sterbende Kaiser hatte
ihn nach Jalta berufen, die Kaiserin ihm die Hand
geküßt — wie war es nur denkbar, in unserem Jahr-
hundert ein solcher Fanatismus!

„Laß ihn doch kommen," wiederholte die Alte.
Müde wollte ich Zustimmung nicken, da sah ich
ans das Kind. Theilnahmslos lag es mit weit-
offenen Augen im Bettchen — mein gesunder Men-
schenverstand empörte sich.

„Unsinn!" sagte ich barsch.

Tiefgekränkt wandte sich die Alte ab, verachtungs-
voll murmelnd: „Natürlich, die Deutsche!"

Ich aber sank am Bette meines Kindes nieder:
„Herrgott, wenn ein Gebet Dich rühren kann, so ist
es nicht das eines fremden Priesters, sondern das
einer verzweiflungsvollen Mutter — erbarme Dich
meiner, laß mir mein Kind."

Acht Tage später wurde meine Tochter begraben.
Von der folgenden Zeit weiß ich wenig. Apathisch,
theilnahmlos ließ ich alles über mich ergehen, nahm
nach und nach auch alle meine Pflichten wieder aus,
lebte genau so wie früher, aber in mir war etwas
erstorben. Ich konnte nicht mehr träumen. Dm
Zauberwelt, in die ich mich immer geflüchtet, hatte
mich verlassen. Alles war mir gleichgültig. L>o
vergingen über zwei Jahre. Niemand sprach von
meinem todten kleinen Mädchen, ich erst recht nM.
Register
S. Moiko: Fanatismus
Georg Vogt: Rabe
Emanuela v. Mattl-Löwenkreuz: Lenzlied
 
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