Nr. 24
J UGEND
1904
schlichter, aber geschmackvoller Toilette im Stile der
siebziger Jahre, beim Aussteigen behilflich. Kaum
standen Beide sicher und wohlbehalten auf dem
Perron, als ein Diener in schöner, tadellos neuer
Livree von elegantem Schnitt vor sie hintrat, den
Hut bis auf die Erde lüftete und bescheiden fragte:
„Habe ich die Ehre mit Herrn und Frau Senator
Stolterfoth?"
Das grobkaufmännische Ehepaar stand wie an-
gewurzelt vor diesem herrschaftlichen Diener und
musterte ihn sprachlos.
„Darf ich die gnädigen Herrschaften ergebenst an
den Wagen geleiten, der die gnädigen Herrschaften
sofort ins Hotel bringen wird. Ich komme im Auf-
träge des Herrn Tycho Brahe."
Nie hat ein Lohndiener derartig die Worte gesetzt;
aber Axel Hartwig, der aus bescheidenen Verhält-
nissen stanunte und als Knnstakademiker oft tagelang
hungerte, war der Ansicht, je devoter er spräche, um-
so glaubwürdiger wirke er.
Der Wagen rollte vor den „Vier Jahreszeiten"
vor; der Dienersprang vom Bock, öffnete den Schlag,
und Herr und Frau Senator Stolterfoth schritten
eine Front von sich tief verbeugenden Kellnern, Ober-
kellnern, Hausmeistern, von Schlüsselwärtern und
Beiboten ab; so gelangten sie in den ersten Stock,
wo Tycho Brahe für seine Pflegeeltern vier Zimmer
gemiethet hatte. Tycko Brahe stand im Frack mit
graubrauner Sammtweste im ersten Zimmer und
begrüßte freundlich und liebenswürdig seine An-
verwandten.
„Ihr müßt entschuldigen, daß ich euch nicht selbst
von der Bahn abgeholt habe," sagte Tycho Brahe,
„aber ich war heute vom Prinzregenten zur Tafel
befohlen. Ich wäre viel lieber nicht hingegangen,
aber so eine Einladung kann man schwer absagen,
wie Ihr Euch denken könnt. Das würde der alte
Herr furchtbar krumm nehmen."
Das alles sprach Tycho Brahe ganz natürlich und
frisch, als handelte es sich um die gleichgiltigste, all-
täglichste und selbstverständlichste Sache von der Welt.
Diese Mittheilung, vor allem der Ton, in dem
Tycho sie machte, schüchterte den Senator sowohl
wie seine Gattin ein; sie hielten ihr Erstaunen ein
wenig zurück, erkundigten sich wohlwollend und
reserviert nach Tycho Brahes Befinden und gratu-
lierten ihm in demselben Ton zu seinen Erfolgen.
Tycho sagte ihnen, er hätte heute Abend einige seiner-
näheren Freunde, eine Anzahl Kollegen zu sich ge-
beten in der Annahme, daß seine Pflegeeltern gern
einmal einen Abend unter Künstlern verbringen
würden; für ein ganz einfaches Abendessen hätte er
gesorgt.
Kurz nach halb acht Uhr fuhr die Equipage vor
den „Vierjahreszeiten" vor und brachte Herrn und
Frau Senator Stolterfoth in die Kaulbachstraße,
wo in einem alten, idyllischen Hause, das inmitten
eines verwilderten Gartens lag, Tycho Brahe wohnte.
Der Lohndiener sprang vom Bock, öffnete den Schlag
und geleitete die Herrschaften bis zur Hausthür, von
wo ein zweiter Lohndiener sie bis zur Treppe führte;
ein dritter Lohndiener geleitete die Herrschaften die
Treppe hinan, ein vierter in die Garderobe und
endlich ein fünfter in den Empfangssalon, an dessen
Hauptwand der „Mommsen von Franz v. Lenbach"
hing. Die Widmung war so groß mit rother Farbe
auf den saucigen Hintergrund aufgetragen, daß Herr-
Senator Stolterfoth sie sehr bald bemerkte und
seine Frau darauf aufmerksam machte. Sie waren
beide sehr erstaunt und wollten es anfangs garnicht
recht glauben. Da trat Tycho Brahe ins Zimmer.
„Sag mal, mein lieber Tycho, dieses Bild hat
Lenbach Dir geschenkt?" sagte Frau Senator in
einem Ton, gemischt aus Ehrfurcht und Aengstlichkeit.
„Ja, ja," sagte Tycho Brahe, „das ist in Mün-
chen so üblich, wir Künstler tauschen hin und wieder
mal Studien aus; ich Hab' Lenbach mal einen großen
Akt geschenkt und da hat er mir. .."
„Akte malst Du?" fragte nachdrücklich und vor-
wurfsvoll die Senatorin.
„Ja gewiß," warf Tycho Brahe so ganz leicht hin.
„Kennst Du denn den Professor von Lenbach?"
fragte der Senator ein wenig mißtrauisch.
„Aber natürlich; siehst Du, da kommt er gerade!"
Die Thür war aufgegangen; und herein trat ein
Mann, der Lenbach thatsächlich entfernt ähnlich sah.
Tycho Brahe ging ihm entgegen:
„Guten Abend, lieber Herr Professor. Darf ich
Sie mit meinen Pflegeeltern bekannt machen; Herr
und Frau Senator Stolterfoth aus Bremen — Pro-
fessor Franz von Lenbach."
„So, so, Sie sind also aus Bremen," sagte Herr-
Professor von Lenbach, der nur mit Mühe seinen
Berliner Dialekt unterdrückte; dann fuhr er nach
einer Pause fort:
„Ja, ja, ich habe auch mehrere Senatoren ge-
malt."
Tycho Brahe drehte sich um und ging ans Fenster,
denn er mußte lachen. Der Mensch war zu unge-
schickt. Nie würde Lenbach so etwas sagen.
Wieder ging die Thür ans. Es kamen nachein-
ander die Professoren Defregger, Grützner, Kaulbach
und Uhde. Zuletzt erschien der Anarchist Professor
Franz Stuck, der furchterregend aussah.
Aber Tycho Brahe kannte seine theuren Pflege-
eltern.
Frau Senator Stolterfoth fragte den Anarchisten,
der mit Franz Stuck nicht die geringste Aehnlichkeit
hatte:
„Sie gehören wohl der modernen Richtung an,
Herr Professor?"
„Aber nadierlich," sächselte Stuck.
Man begab sich zu Tisch. Frau Senator Stolter-
foth fühlte sich als einzige Dame sehr unglücklich;
im Flüsterton bat sie ihren Mann, gleich nach Tisch
aufzubrechen.
Bor jedem Gedeck standen sechs verschiedene Wein-
gläser und ein Maßkrug. Neben vier übereinander
aufgebauten Tellern lagen sechs bis sieben Gabeln
und Messer; aber es dauerte lange, bis der Diener
den ersten Gang servierte. Auf einer großen, blecher-
nen Schüssel wurde ein ungeheurer Eisklumpen her-
umgetragen, der in einer Höhlung in der Mitte eine
mittelgroße Portion Caviar enthielt. Frau Senator
Stolterfoth nahm sich eine Messerspitze voll. Der
Herr Senator desgleichen, den Rest nahm sich Pro-
fessor von Lenbach; dann wurde der Eisklumpen
alleine heruingereicht.
Da aber fuhr Tycho Brahe in gerechter Ent-
rüstung den Diener an: „Was fällt Dir Sauluder
ein! Wirscht neuen Caviar holen!"
„Aber Tycho, hast Du denn gar kein Benehmen,"
seufzte die Frau Senatorin, „bedenke doch die Gäste!"
„Ja," sagte Professor von Lenbach, „eine sonder-
bare Wirtschaft" Dann fuhr er fort, um seine
bayrische Abstammung erkennen zu lassen: „Das ist
halt a Kreiz."
Nach dreiviertel Stunden brachte der Diener den
zweiten Gang: Rehbraten mit Preißelbeeren. Dazu
trank man Moselwein.
Es folgte der vierte Gang: Weißwürste mit Kar-
toffelpüree. Dazu trank man das Bier, das schon
vorher eingeschenkt war. Der Nachtisch bestand in
Rahmstrudel; dazu trank man wieder Moselwein.
Als darauf Professor von Lenbach seine Pfeife aus
der Rocktasche holte und Professor Stuck sich eine
Virginia anzündete, erhob sich Frau. Senator Stolter-
foth; sie hatte genug; sie wollte gehen. Die un-
feinen Manieren dieser Menschen irritierten sie. Tycho
versuchte sie zum Bleiben zu überreden.
Nein, sie wollten durchaus fort.
„Ich fühle mich nicht wohl in diesem Kreise; ich
bin bessere Gesellschaft gewöhnt," sagte die Senatorin
streng und steif, „diese Herren haben keine Lebensart."
Tycho erschrak. Sollten sie merken, oder wenig-
stens ahnen, daß er sie zum Besten halte? Es war
alles so schön gelungen; und er hatte bestimmt da-
rauf gerechnet, daß er seinen Pflegeeltern so impo-
niert hatte, daß sie ihm ein Bild abkauften vor lauter
Respekt vor seinen Erfolgen, denn knickerig war
Senator Stolterfoth nicht. Tycho nahm sich zu-
sammen; er wurde liebenswürdig, teilnahmsvoll
und fragte leise und bescheiden:
„Darf ich Euch nicht in mein Atelier führen und
Euch meine neuesten Arbeiten zeigen?"
„Wir danken. Heute nicht. Vielleicht morgen,"
erwiderte die Senatorin kalt und entschieden.
„O Gott, o Gott," seufzte Tycho Brahe vor sich
hin: ihm ahnte Schlimmes.
Draußen auf dem Vorplatz erhob sich ein Lärm:
lachend, schreiend und singend bewegte sich etwas
die Treppe hinauf. Die Thür sprang auf. Ein
junger Mensch von angenehmem Aeußeren, ein
lustiger Springinsfeld tänzelte ins Zimmer, an jedem
Arme eine junge Dame von unzweideutigem Aus-
sehen, von unzweideutigen Geberden und Gesten.
Es war der Bildhauer Karl Weisman mit seinem
Geschpusi, der „Baronesse" Hallenloh, und ihrer
Freundin, die sich aus seinem Arm befreite und aus
Tycho losstürzte, ihn umhalste und Buss'l auf
Busj'l auf die genialen Lippen des Meisters drückte.
„Mei Herzerl, ja da bist ja, mei Herzerl," schrie sie
einmal über das Andere, ohne sich um die andere
Gesellschaft im Mindesten zu kümmern.
Die Senatorin war erbleicht und einer Ohnmacht
nahe; sie konnte ihre Lorgnette nicht einmal mehr
gebrauchen. Senator Stolterfoth trat schutzbereit vor
sie hin; seine Augen rollten vor Zorn und mit
Stentorstimme herrschte er seinen Pflegesohn an:
„Was soll das bedeuten, Tycho? — Was sind
das für Damen? Verkehrst Du in solcher Gesell-
schaft?" und er zitterte am ganzen Körper.
„Ja, das ist in München so üblich," erwiderte
Tycho Brahe kleinlaut.
„Goswida, wir verlassen sofort diese Spelunke,"
schrie der Senator und zerrte seine Gattin zur Thür
hinaus.
„Jessas, Jessas," seufzte Tycho Brahe, als die
Thür knallend hinter ihnen ins Schloß gefallen war,
„die kaufen mir kein Bild mehr ab." Aber erfaßte
sich bald wieder. „Na Kinder, immerhin können
wir ja jetzt zum Sekt übergehen; das erste Glas
wollen wir auf das Wohl meiner theuren Pflegeeltern
leeren."
Die ganze Gesellschaft, die über den improvisirten
Ulk der drei neuen Gäste anfangs selbst verdutzt ge- _
wesen war und über den unerwarteten Ausgang des
Festes betrübt schien, freute sich, daß Tycho Brahe
selbst die ganze Sache so leicht nahm; und die gute
Laune brach überall schnell wieder durch. Jetzt nahm
erst das eigentliche Fest seinen Anfang, das die Ge-
sellschaft bis zum frühen Morgen beisammen hielt.
Senator Marcellus Stolterfoth aber reiste am
nächsten Morgen, nachdem er sich von seiner ersten
Empörung erholt hatte, mit seiner Gemahlin Gos-
wida unverzüglich nach Bremen zurück. Jetzt war
er überzeugt, daß sein Pflegesohn, Tycho Brahe ein
schlechter Mensch sei; und er enterbte ihn gleich nach
seiner Rückkehr. Tycho Brahe aber ist heute einer der
bedeutendsten und gesuchtesten Künstler in München.
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schlichter, aber geschmackvoller Toilette im Stile der
siebziger Jahre, beim Aussteigen behilflich. Kaum
standen Beide sicher und wohlbehalten auf dem
Perron, als ein Diener in schöner, tadellos neuer
Livree von elegantem Schnitt vor sie hintrat, den
Hut bis auf die Erde lüftete und bescheiden fragte:
„Habe ich die Ehre mit Herrn und Frau Senator
Stolterfoth?"
Das grobkaufmännische Ehepaar stand wie an-
gewurzelt vor diesem herrschaftlichen Diener und
musterte ihn sprachlos.
„Darf ich die gnädigen Herrschaften ergebenst an
den Wagen geleiten, der die gnädigen Herrschaften
sofort ins Hotel bringen wird. Ich komme im Auf-
träge des Herrn Tycho Brahe."
Nie hat ein Lohndiener derartig die Worte gesetzt;
aber Axel Hartwig, der aus bescheidenen Verhält-
nissen stanunte und als Knnstakademiker oft tagelang
hungerte, war der Ansicht, je devoter er spräche, um-
so glaubwürdiger wirke er.
Der Wagen rollte vor den „Vier Jahreszeiten"
vor; der Dienersprang vom Bock, öffnete den Schlag,
und Herr und Frau Senator Stolterfoth schritten
eine Front von sich tief verbeugenden Kellnern, Ober-
kellnern, Hausmeistern, von Schlüsselwärtern und
Beiboten ab; so gelangten sie in den ersten Stock,
wo Tycho Brahe für seine Pflegeeltern vier Zimmer
gemiethet hatte. Tycko Brahe stand im Frack mit
graubrauner Sammtweste im ersten Zimmer und
begrüßte freundlich und liebenswürdig seine An-
verwandten.
„Ihr müßt entschuldigen, daß ich euch nicht selbst
von der Bahn abgeholt habe," sagte Tycho Brahe,
„aber ich war heute vom Prinzregenten zur Tafel
befohlen. Ich wäre viel lieber nicht hingegangen,
aber so eine Einladung kann man schwer absagen,
wie Ihr Euch denken könnt. Das würde der alte
Herr furchtbar krumm nehmen."
Das alles sprach Tycho Brahe ganz natürlich und
frisch, als handelte es sich um die gleichgiltigste, all-
täglichste und selbstverständlichste Sache von der Welt.
Diese Mittheilung, vor allem der Ton, in dem
Tycho sie machte, schüchterte den Senator sowohl
wie seine Gattin ein; sie hielten ihr Erstaunen ein
wenig zurück, erkundigten sich wohlwollend und
reserviert nach Tycho Brahes Befinden und gratu-
lierten ihm in demselben Ton zu seinen Erfolgen.
Tycho sagte ihnen, er hätte heute Abend einige seiner-
näheren Freunde, eine Anzahl Kollegen zu sich ge-
beten in der Annahme, daß seine Pflegeeltern gern
einmal einen Abend unter Künstlern verbringen
würden; für ein ganz einfaches Abendessen hätte er
gesorgt.
Kurz nach halb acht Uhr fuhr die Equipage vor
den „Vierjahreszeiten" vor und brachte Herrn und
Frau Senator Stolterfoth in die Kaulbachstraße,
wo in einem alten, idyllischen Hause, das inmitten
eines verwilderten Gartens lag, Tycho Brahe wohnte.
Der Lohndiener sprang vom Bock, öffnete den Schlag
und geleitete die Herrschaften bis zur Hausthür, von
wo ein zweiter Lohndiener sie bis zur Treppe führte;
ein dritter Lohndiener geleitete die Herrschaften die
Treppe hinan, ein vierter in die Garderobe und
endlich ein fünfter in den Empfangssalon, an dessen
Hauptwand der „Mommsen von Franz v. Lenbach"
hing. Die Widmung war so groß mit rother Farbe
auf den saucigen Hintergrund aufgetragen, daß Herr-
Senator Stolterfoth sie sehr bald bemerkte und
seine Frau darauf aufmerksam machte. Sie waren
beide sehr erstaunt und wollten es anfangs garnicht
recht glauben. Da trat Tycho Brahe ins Zimmer.
„Sag mal, mein lieber Tycho, dieses Bild hat
Lenbach Dir geschenkt?" sagte Frau Senator in
einem Ton, gemischt aus Ehrfurcht und Aengstlichkeit.
„Ja, ja," sagte Tycho Brahe, „das ist in Mün-
chen so üblich, wir Künstler tauschen hin und wieder
mal Studien aus; ich Hab' Lenbach mal einen großen
Akt geschenkt und da hat er mir. .."
„Akte malst Du?" fragte nachdrücklich und vor-
wurfsvoll die Senatorin.
„Ja gewiß," warf Tycho Brahe so ganz leicht hin.
„Kennst Du denn den Professor von Lenbach?"
fragte der Senator ein wenig mißtrauisch.
„Aber natürlich; siehst Du, da kommt er gerade!"
Die Thür war aufgegangen; und herein trat ein
Mann, der Lenbach thatsächlich entfernt ähnlich sah.
Tycho Brahe ging ihm entgegen:
„Guten Abend, lieber Herr Professor. Darf ich
Sie mit meinen Pflegeeltern bekannt machen; Herr
und Frau Senator Stolterfoth aus Bremen — Pro-
fessor Franz von Lenbach."
„So, so, Sie sind also aus Bremen," sagte Herr-
Professor von Lenbach, der nur mit Mühe seinen
Berliner Dialekt unterdrückte; dann fuhr er nach
einer Pause fort:
„Ja, ja, ich habe auch mehrere Senatoren ge-
malt."
Tycho Brahe drehte sich um und ging ans Fenster,
denn er mußte lachen. Der Mensch war zu unge-
schickt. Nie würde Lenbach so etwas sagen.
Wieder ging die Thür ans. Es kamen nachein-
ander die Professoren Defregger, Grützner, Kaulbach
und Uhde. Zuletzt erschien der Anarchist Professor
Franz Stuck, der furchterregend aussah.
Aber Tycho Brahe kannte seine theuren Pflege-
eltern.
Frau Senator Stolterfoth fragte den Anarchisten,
der mit Franz Stuck nicht die geringste Aehnlichkeit
hatte:
„Sie gehören wohl der modernen Richtung an,
Herr Professor?"
„Aber nadierlich," sächselte Stuck.
Man begab sich zu Tisch. Frau Senator Stolter-
foth fühlte sich als einzige Dame sehr unglücklich;
im Flüsterton bat sie ihren Mann, gleich nach Tisch
aufzubrechen.
Bor jedem Gedeck standen sechs verschiedene Wein-
gläser und ein Maßkrug. Neben vier übereinander
aufgebauten Tellern lagen sechs bis sieben Gabeln
und Messer; aber es dauerte lange, bis der Diener
den ersten Gang servierte. Auf einer großen, blecher-
nen Schüssel wurde ein ungeheurer Eisklumpen her-
umgetragen, der in einer Höhlung in der Mitte eine
mittelgroße Portion Caviar enthielt. Frau Senator
Stolterfoth nahm sich eine Messerspitze voll. Der
Herr Senator desgleichen, den Rest nahm sich Pro-
fessor von Lenbach; dann wurde der Eisklumpen
alleine heruingereicht.
Da aber fuhr Tycho Brahe in gerechter Ent-
rüstung den Diener an: „Was fällt Dir Sauluder
ein! Wirscht neuen Caviar holen!"
„Aber Tycho, hast Du denn gar kein Benehmen,"
seufzte die Frau Senatorin, „bedenke doch die Gäste!"
„Ja," sagte Professor von Lenbach, „eine sonder-
bare Wirtschaft" Dann fuhr er fort, um seine
bayrische Abstammung erkennen zu lassen: „Das ist
halt a Kreiz."
Nach dreiviertel Stunden brachte der Diener den
zweiten Gang: Rehbraten mit Preißelbeeren. Dazu
trank man Moselwein.
Es folgte der vierte Gang: Weißwürste mit Kar-
toffelpüree. Dazu trank man das Bier, das schon
vorher eingeschenkt war. Der Nachtisch bestand in
Rahmstrudel; dazu trank man wieder Moselwein.
Als darauf Professor von Lenbach seine Pfeife aus
der Rocktasche holte und Professor Stuck sich eine
Virginia anzündete, erhob sich Frau. Senator Stolter-
foth; sie hatte genug; sie wollte gehen. Die un-
feinen Manieren dieser Menschen irritierten sie. Tycho
versuchte sie zum Bleiben zu überreden.
Nein, sie wollten durchaus fort.
„Ich fühle mich nicht wohl in diesem Kreise; ich
bin bessere Gesellschaft gewöhnt," sagte die Senatorin
streng und steif, „diese Herren haben keine Lebensart."
Tycho erschrak. Sollten sie merken, oder wenig-
stens ahnen, daß er sie zum Besten halte? Es war
alles so schön gelungen; und er hatte bestimmt da-
rauf gerechnet, daß er seinen Pflegeeltern so impo-
niert hatte, daß sie ihm ein Bild abkauften vor lauter
Respekt vor seinen Erfolgen, denn knickerig war
Senator Stolterfoth nicht. Tycho nahm sich zu-
sammen; er wurde liebenswürdig, teilnahmsvoll
und fragte leise und bescheiden:
„Darf ich Euch nicht in mein Atelier führen und
Euch meine neuesten Arbeiten zeigen?"
„Wir danken. Heute nicht. Vielleicht morgen,"
erwiderte die Senatorin kalt und entschieden.
„O Gott, o Gott," seufzte Tycho Brahe vor sich
hin: ihm ahnte Schlimmes.
Draußen auf dem Vorplatz erhob sich ein Lärm:
lachend, schreiend und singend bewegte sich etwas
die Treppe hinauf. Die Thür sprang auf. Ein
junger Mensch von angenehmem Aeußeren, ein
lustiger Springinsfeld tänzelte ins Zimmer, an jedem
Arme eine junge Dame von unzweideutigem Aus-
sehen, von unzweideutigen Geberden und Gesten.
Es war der Bildhauer Karl Weisman mit seinem
Geschpusi, der „Baronesse" Hallenloh, und ihrer
Freundin, die sich aus seinem Arm befreite und aus
Tycho losstürzte, ihn umhalste und Buss'l auf
Busj'l auf die genialen Lippen des Meisters drückte.
„Mei Herzerl, ja da bist ja, mei Herzerl," schrie sie
einmal über das Andere, ohne sich um die andere
Gesellschaft im Mindesten zu kümmern.
Die Senatorin war erbleicht und einer Ohnmacht
nahe; sie konnte ihre Lorgnette nicht einmal mehr
gebrauchen. Senator Stolterfoth trat schutzbereit vor
sie hin; seine Augen rollten vor Zorn und mit
Stentorstimme herrschte er seinen Pflegesohn an:
„Was soll das bedeuten, Tycho? — Was sind
das für Damen? Verkehrst Du in solcher Gesell-
schaft?" und er zitterte am ganzen Körper.
„Ja, das ist in München so üblich," erwiderte
Tycho Brahe kleinlaut.
„Goswida, wir verlassen sofort diese Spelunke,"
schrie der Senator und zerrte seine Gattin zur Thür
hinaus.
„Jessas, Jessas," seufzte Tycho Brahe, als die
Thür knallend hinter ihnen ins Schloß gefallen war,
„die kaufen mir kein Bild mehr ab." Aber erfaßte
sich bald wieder. „Na Kinder, immerhin können
wir ja jetzt zum Sekt übergehen; das erste Glas
wollen wir auf das Wohl meiner theuren Pflegeeltern
leeren."
Die ganze Gesellschaft, die über den improvisirten
Ulk der drei neuen Gäste anfangs selbst verdutzt ge- _
wesen war und über den unerwarteten Ausgang des
Festes betrübt schien, freute sich, daß Tycho Brahe
selbst die ganze Sache so leicht nahm; und die gute
Laune brach überall schnell wieder durch. Jetzt nahm
erst das eigentliche Fest seinen Anfang, das die Ge-
sellschaft bis zum frühen Morgen beisammen hielt.
Senator Marcellus Stolterfoth aber reiste am
nächsten Morgen, nachdem er sich von seiner ersten
Empörung erholt hatte, mit seiner Gemahlin Gos-
wida unverzüglich nach Bremen zurück. Jetzt war
er überzeugt, daß sein Pflegesohn, Tycho Brahe ein
schlechter Mensch sei; und er enterbte ihn gleich nach
seiner Rückkehr. Tycho Brahe aber ist heute einer der
bedeutendsten und gesuchtesten Künstler in München.
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